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Weltfrauentag 8. März

Als Mutter Flint zur Wahlurne ging

Schwestern im Stader Lazarett. Fotos: Stadtarchive Stade/Buxtehude

Schwestern im Stader Lazarett. Fotos: Stadtarchive Stade/Buxtehude

Wählen und mitbestimmen: Das war für Frauen 1919 eine völlig neue, aufregende Möglichkeit. Vor fast genau 100 Jahren ließ es sich kaum eine nehmen, zur Gemeindewahl ihre Stimme abzugeben. Auch Mutter Flint ging damals zur Wahlurne.

Von Anping Richter Freitag, 08.03.2019, 09:00 Uhr

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Mit der Gemeindewahl in Stade am 23. Februar und in Buxtehude am 2. März schlägt lokalpolitisch die Stunde der Frauen: Sie dürfen wählen – und gewählt werden. Fünf Frauen in Stade und zwei in Buxtehude werden Bürgervorsteherinnen.

Der Weltkrieg und sein revolutionäres Ende haben das Leben vieler Frauen völlig verändert: Während des Kriegs haben sie Arbeit übernommen, die sonst nur Männer taten – in Fabriken, auf dem Feld, in Krankenhäusern. Als mit der Novemberrevolution die Räte das Ruder übernehmen, sind auch Frauen dabei und organisieren vor allem den logistischen Kampf gegen Hunger und Mangel mit.

Der Hunger war für Frauen wie die legendäre Fischverkäuferin „Mutter Flint“ aus Stade nichts Neues. Wählen zu dürfen hingegen schon: Die 1861 in Steinkirchen als Margarethe Pape geborene Tochter eines Fischers kommt 1883 nach Stade, wo sie sich und ihr uneheliches Kind erst als Schneiderin durchbringt. Sie bekommt sechs Kinder, die die meiste Zeit im Armenhaus leben und beginnt 1906 mit ihrem dritten Ehemann, dem Zimmermann Ludwig Flint, das Fischgeschäft. Auf dem Pferdemarkt verkauft sie aus einem Kinderwagen heraus Stinte und Aale. Am 23. Februar 1919, dem Wahlsonntag, war sie eine der vielen Frauen, die zur Wahlurne gingen, wie Dr. Christina Deggim im Stader Stadtarchiv im Wählerverzeichnis im Original belegen kann.

In Stade werden fünf Frauen in die Bürgervertretung gewählt, was einen Anteil von 16 Prozent bedeutet: Es sind Ehrengard Hottendorf (Deutsche Demokratische Partei), Mathilde Pelz und Anna Kreutzberg (beide SPD), Christine Fichtler (Bürgerverein) und Anna Cornelsen (Vereinigte Liste der Deutschen Volkspartei DVP, Deutsch-Hannoverschen Partei DHP, Deutsch-Nationalen Volkspartei DNVP und Christlichen Volkspartei).

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Doch schon im September legt Anna Kreutzberg ihr Amt nieder, im Oktober 1920 dann auch Mathilde Pelz. Sie müssen wegziehen, als ihre Männer in anderen Städten Arbeit bekommen. Die 27-jährige Mathilde Pelz, deren Ehemann Gustav als Journalist beim sozialdemokratischen „Volksblatt für die Unterelbe“ arbeitet, ist bis dahin sehr engagiert: Kurz vor der Wahl ist im Stader Tageblatt zu lesen, dass sie die Schaffung eines städtischen Konsumvereins fordert, um die Überschüsse zur besseren Besoldung von Unterbeamten zu verwenden. Sie ist in der Lebensmittelkommission tätig und leitet am 27. Juni eine große Protestversammlung gegen die unzureichende Versorgung.

Die Stadt Buxtehude mit ihren 4000 Einwohnern wählt am 2. März. Altkloster, das noch nicht zu Buxtehude gehört und 3000 Einwohner hat, stellt nur eine Wahlliste auf, die sich „aus sämtlichen Berufen“ zusammensetzt. Eine „Frau Amtsrichter Seband“ ist dabei, wobei dies wohl nicht ihr Beruf, sondern der ihres Mannes war. In den Buxtehuder Listen finden sich fünf Frauen, deren Daten das Buxtehuder Stadtarchiv in den Personenstandsbüchern gefunden hat: die 43-jährige Helene Maria Eberstein, geborene Möhlmann, die 38-jährige Elise Marie Lindemann und die 30-jährige Margarete Möller, Tochter des Fabrikbesitzers Paulus Möller – alle auf der Bürgerlich-Nationalen „Liste Prigge“. Zwei werden Bürgervorsteherinnen: die 49-jährige „Buchdruckereibesitzerin“ Dolly Vetterli, geborene Bussenius (DHP).

{picture2s} Als Witwe von Rudolf Vetterli sitzt sie in einer Schlüsselposition: Sie ist Verlegerin des Buxtehuder Wochenblatts. Nach erneuter Heirat nimmt sie noch 1919 den Ehenamen Schlikker an, ist politisch überaus aktiv und wird sich in ihrer Zeitung, die 1926 zum Buxtehuder TAGEBLATT wurde, später öffentliche Scharmützel mit der NSDAP liefern – bis zur Machtübernahme, nach der sie verstummt. Vetterli arbeitete ab 1919 auch im Verwaltungsausschuss für die Höhere Töchterschule und arbeitete eng mit der anderen Buxtehuder Bürgervorsteherin zusammen: der 40-jährigen „Schulvorsteherin Frl. Franziska von Oldershausen“. Wie Gudrun Fiedler im Stader Jahrbuch 2012 schreibt, entstammte sie einem alten Adelsgeschlecht in Förste im Harz. Oldershausen wird Mitglied der Wohnungskommission, des Ausschusses für Kriegshilfe und der Schuldeputation.

Ausgerechnet auf der Liste der Buxtehuder SPD ist 1919 kein einziger Frauenname zu finden – vielleicht auch, weil Arbeiterfrauen in dieser Zeit andere Sorgen hatten. Enttäuscht zeichnet anonym „Eine für Viele“ einen Beitrag im Buxtehuder Wochenblatt: „Haben wir nicht genug arbeiten müssen im Kriege? Viel mehr oft als die Männer, denn wir haben Männerarbeit geleistet und dabei noch den Hausstand und die Kinder gehabt. Warum können wir nun nicht ebenso in der Gemeindevertretung mitreden, was uns und unsere Kinder angeht. So hat man ja gar keine Lust, seine Parteiliste zu wählen.“ Bis mit Lina Meyer erstmals eine von ihnen in den Buxtehuder Rat einzieht, werden die Sozialdemokratinnen noch 40 Jahre warten müssen.

Frauen in der Politik heute

Ein Blick in die Stadträte in Stade und Buxtehude zeigt: 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind Frauen ganz klar in der Lokalpolitik angekommen. Statistisch sind sie aber noch immer in der Minderheit: Neben Bürgermeisterin Silvia Nieber (SPD) hat der Stader Rat 40 Sitze, davon 29 von Männern besetzt. Das entspricht einem Männeranteil von 70,7 Prozent. Frauen sind Fraktionsvorsitzende bei CDU und Grünen.

In Buxtehude gibt es neben Bürgermeisterin Katja Oldenburg-Schmidt 38 Sitze, 27 sind mit Männern besetzt; das entspricht einem Männeranteil von 70 Prozent. Den Fraktionsvorsitz hat bei SPD, CDU und FDP eine Frau, die Grünen haben eine Doppelspitze .

Im bundesweiten Vergleich stehen Buxtehude und Stade aus frauenpolitischer Sicht  übrigens nicht schlecht da:  Laut „Europäischer Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft“ sind bundesweit nur 9,6 Prozent der Bürgermeisterposten mit Frauen besetzt. In den Stadt- und Gemeinderäten liegt der Männeranteil durchschnittlich bei 75 Prozent und damit höher als in Stade und Buxtehude. Unter den Bundesländern hat Thüringen mit 40,6 Prozent den höchsten Anteil an Frauen in der Politik, den niedrigsten hat Baden-Württemberg mit 24,5 Prozent. Niedersachsen liegt mit durchschnittlich 27,7 Prozent im Mittelfeld. Interessant: Der Frauenanteil ist in fast allen Bundesländern im Vergleich zur vorherigen Legislaturperiode gesunken. Mehr dazu in dieser Grafik:

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