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Literatur

Auf der Spur der RAF-Terroristen

Der Gerichtsreporter und Buchautor Benjamin Reimers hat zu Überfällen auf Supermärkte und Geldtransporter recherchiert – auch bei Marktkauf in Stade. Fotos: Beneke

Der Gerichtsreporter und Buchautor Benjamin Reimers hat zu Überfällen auf Supermärkte und Geldtransporter recherchiert – auch bei Marktkauf in Stade. Fotos: Beneke

Der Journalist Benjamin Reimers recherchiert über das RAF-Terroristen-Trio. In Stade hat er einen Überfall auf Marktkauf an Weihnachten 2012 rekonstruiert. Seine Erkenntnisse hat der 37-Jährige zu einem Buch verarbeitet, das ab Februar erhältlich ist.

Von Daniel Beneke Samstag, 05.01.2019, 20:30 Uhr

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Dass sich Benjamin Reimers an die Fersen der RAF-Terroristen heftete, ist einem Zufall geschuldet. Während einer Zugfahrt von Kiel nach Hamburg fiel ihm ein Zeitungsartikel über eine Serie von Überfällen auf Geldtransporter in die Hände. Das Interesse des Reporters war geweckt. Verbrechen beschäftigen den Winsener seit der Kindheit. Damals zählte die ZDF-Fahndungssendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ zu seinen Lieblingsformaten. Später hat er eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsgehilfen absolviert und in einer Kanzlei gearbeitet.

Inzwischen arbeitet Benjamin Reimers als Gerichtsberichterstatter für mehrere Tageszeitungen im nordöstlichen Niedersachsen. Vor allem die Arbeit des Landgerichts Lüneburg begleitet er. Einige spektakuläre Verfahren zeichnete er in einem Buch nach. Für seine Recherchen über das RAF-Trio hat er Zeitungsberichte ausgewertet, behördliche Mitteilungen erfasst, Tatorte und Fluchtrouten aufgesucht, Zeugen und Ermittler befragt. „Das braucht einen langen Atem“, sagt der 37-Jährige. Seit 2012 widmet er sich dem Thema. Es lässt ihn nicht mehr los.

Es geht um Raubdelikte, hinter denen die ehemaligen Terroristen Burkhard Garweg, Ernst-Volker Wilhelm Staub und Daniela Klette stecken sollen: Seit den 1990er Jahren leben sie im Untergrund. Eher zufällig kamen die Ermittler ihnen im Frühjahr 2016 auf die Schliche. Nach einem Angriff auf einen Geldtransporter im Bremer Umland fanden sie am Tatort DNA-Spuren. Die Waffen sollen aus einem alten Depot stammen.

Seit 2011 werden ihnen mindestens neun Überfälle auf Geschäfte und Geldboten zur Last gelegt. Inzwischen führt die Staatsanwaltschaft Verden die Ermittlungen. Benjamin Reimers sieht Parallelen zwischen Dutzenden Taten der vergangenen Jahrzehnte. Mit dem Geld aus den Überfällen, das vermuten die Ermittler, finanziert das Trio das Leben im Untergrund. Die drei Ex-Terroristen werden in Norddeutschland oder den Niederlanden vermutet.

In Stade sollen die ehemaligen RAF-Mitglieder 2012 aktiv gewesen sein: Zwei Männer waren an Heiligabend in das Kassenbüro des Kaufhauses Marktkauf eingedrungen, hatten drei Angestellte überwältigt und mit dem erbeuteten Geld in einem silberfarbenen VW-Golf 3 die Flucht ergriffen. Am Steuer, das berichteten Zeugen der Polizei, soll eine Frau gesessen haben. Auf der Bundesstraße 73 verlor sich ihre Fährte zunächst, dabei hatten die Beamten längst eine Großfahndung mit Hubschrauber in die Wege geleitet. Mit einem Blaulicht sollen die Täter sich den Weg durch den Stau gebahnt haben. Durch die Ortschaft Wiepenkathen sowie über landwirtschaftliche Straßen und Wanderwege in den Schwingewiesen ging es nach Groß Thun. Schließlich brannte das Fahrzeug in einem Wald am Fredenbecker Weg vollständig aus.

Die Ermittler vermuteten damals, dass die Täter dort in ein zweites Auto umgestiegen sind. Ein Zeuge, der sich bei dem Autor gemeldet hat, berichtet, dass er zur fraglichen Zeit einen VW-Passat gesehen habe. Trotz zahlreicher Hinweise blieb ein Ermittlungserfolg aus. Der Fall kam zu den Akten, bis sich im Mai 2012 der Verdacht gegen die untergetauchten RAF-Mitglieder richtete. Verwertbares DNA-Material hinterließen sie in Stade nicht, aber die Personenbeschreibungen und die Vorgehensweisen passen ins Raster. Immer kommen schwere Waffen zum Einsatz. Die Kriminellen flüchten mit günstig erworbenen Fluchtfahrzeugen, die sie meist anzünden, um Spuren zu verwischen.

Benjamin Reimers hat die Fluchtroute der Kriminellen nach dem Überfall in Stade rekonstruiert. Mehr noch: Der Journalist hat Dutzende Taten zusammengetragen. Seine Liste ist viel länger als die von den Ermittlern veröffentlichte. Auch ein Raubüberfall auf das Lager eines Geldtransportunternehmens bei Salzwedel ist aufgeführt. „Die Überfälle weisen viele Parallelen auf“, sagt Benjamin Reimers. „Die Täter waren stets bestens vorbereitet.“ Viele Fragen, wenige Antworten: Offiziell will sich die Staatsanwaltschaft Verden nicht äußern – „aus ermittlungstaktischen Gründen“.

Die Beamten wollen auch nicht verraten, ob sie eine Tat aus der Adventszeit von 2003 ebenfalls dem RAF-Trio zurechnen. Ein bis heute unbekannter Mann hatte einen Geldboten bei Marktkauf überfallen und war mit der Beute in einem grünen VW-Golf III davongefahren. Den Wagen, den die Täter am Vorabend in Bremen gestohlen hatten, ließen sie in der Nähe der Markuskirche im Stadtteil Hahle zurück. Die Kennzeichen, die das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Überfalls trug, waren ebenfalls geklaut. Die Täter hatten die Nummernschilder Wochen vorher in Hannover entwendet. Die Geldkassette lag später auf einem Feld an der Bundesstraße 73.

Tage zuvor hatten Unbekannte einen dunkelgrünen Mercedes-Kombi in Buxtehude geraubt. Der Täter hatte den Fahrer mit einer Schusswaffe bedroht. Der Wagen stand fünf Stunden später verlassen auf dem Parkplatz des Lidl-Marktes am Haddorfer Grenzweg, wenige Hundert Meter von Marktkauf entfernt. Da trug der Kombi plötzlich ein in Oldenburg gestohlenes Kennzeichen. Die Ermittler gingen früh von einem Zusammenhang aus, konnten jedoch keine Verdächtigen dingfest machen.

Zahlreiche Puzzle-Teile trägt Benjamin Reimers in seinem 130-seitigen Buch „Neue Bekämpfungsstrategien mittelgradig- und schwerkrimineller Zirkel“ zusammen. Er wundert sich über die Zurückhaltung der Ermittlungsbehörden. Einerseits richten sie einen Verdacht gegen ehemalige Terroristen, die über ein beeindruckendes Waffenarsenal und beste Verbindungen in die Unterwelt verfügen müssen. Andererseits bleibt das Verfahren in den Händen einer niedersächsischen Staatsanwaltschaft. Die Generalbundesanwaltschaft mischt sich dem Vernehmen nach nicht ein. Gleichwohl war die Überfallserie im Sommer vergangenen Jahres Gegenstand einer nichtöffentlichen Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages.

Stecken wirklich die ehemaligen Linksextremisten hinter den Überfällen? Zweifel bleiben. Benjamin Reimers geht davon aus, dass die RAF-Veteranen auf ein großes Unterstützernetzwerk zurückgreifen können: „Das müssen Leute sein, die sich bedingungslos vertrauen.“ Auch eine Zusammenarbeit mit anderen kriminellen Gruppierungen hält er für denkbar. Schon frühere RAF-Generationen hätten den Kontakt zu ausländischen Schwerkriminellen nicht gescheut.

Der Autor fordert mehr Engagement gegen die Berufskriminellen: „Ich finde es erschreckend, wie sehr die Organisierte Kriminalität die Zivilgesellschaft aufgefressen hat.“ Ganz gleich, ob RAF-Veteranen oder Migranten-Clans: Sie alle seien „eine Bedrohung der demokratischen Grundordnung – nicht nur in Deutschland und Europa“, sagt Benjamin Reimers. „Denn sie sind mitten unter uns.“ Der Staat müsse seine Gesetze vollends ausschöpfen und sich etwa in der Telekommunikationsüberwachung und der Vermögensabschöpfung stärker engagieren: „Es ist alles vorhanden. Wir müssen den Paragrafen-Klimperkasten bloß zum Laufen bringen.“ Zentrale Immobilien- und Fahrzeugregister könnten den Beamten helfen.

Er will keine Polizisten-Schelte betreiben, sondern für klare Strukturen werben. „Auch wenn es wehtut“, sagt der 37-Jährige, „brauchen wir eine übergeordnete Ermittlungseinheit“. Bisher fehle den Ermittlern bisweilen der Gesamtüberblick. Eitelkeiten und Föderalismus stünden der Aufklärung vieler Taten im Wege. Gelinge es dem Staat nicht, sein Gewaltmonopol durchzusetzen, drohe weiterer Zulauf für rechte Parteien wie die AfD. Der Rechtsstaat müsse zeigen, dass er funktioniert. Die wehrhafte Demokratie müsse zu alter Stärke zurückfinden. „Enough is enough“, zitiert Benjamin Reimers die britische Premierministerin Theresa May. „Genug ist genug.“

Das Buch

Neue Bekämpfungsstrategien mittelgradig- und schwerkrimineller Zirkel, 130 Seiten, ISBN 9783965444140, 28,99 Euro

 

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