Das Unglück des jungen Aman Alizada

Rahmat Alizada am Grab seines erschossenen Bruders in Hamburg- Öjendorf. Am 30. August beerdigte er dort seinen Bruder. Getötet von mindestens drei Kugeln aus einer Polizeiwaffe. Notwehr oder Totschlag? Foto: Peter Burghardt
1.10.1999 – 17.8.2019 – das sind die Zahlen auf einer Holzplatte auf Friedhof Öjendorf. Es sind die wichtigsten Daten im Leben des Aman Alizada. Ein afghanischer Flüchtling, der vor dem Krieg nach Deutschland geflohen war. In ein sicheres Land. Doch am 17. August wurde er erschossen.
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Von einem Polizisten. Das steht fest. Über alles andere gibt es viele Mutmaßungen und Legenden. Der Fall Aman Alizada ist schon jetzt auf dem Weg zum Politikum. Weil der getötete Flüchtling nach TAGEBLATT-Informationen mindestens drei Kugeln aus einer Polizeiwaffe im Körper hatte. Alle drei Schüsse sind offenbar tödlich gewesen.
Rahmat Alizada ist der Bruder von Aman Alizada, er lebt in Australien. Nach einer abenteuerlichen Flucht aus der von den Taliban terrorisierten Provinz Ghazni war er über Pakistan und Asien in Australien gelandet. Sein kleiner Bruder Aman machte sich nach mehreren traumatischen Erlebnissen durch explodierende Bomben als 15-Jähriger alleine auf den Weg über den Iran nach Griechenland und kam als sogenannter „unbegleiteter Flüchtling“ 2015 in die Sporthalle der BBS an der Glückstädter Straße in Stade. Sein Bruder Rahmat sagte in der Süddeutschen Zeitung: „Germany. Als er hier war, dachte ich: „Gott sei Dank, er ist sicher.“ Noch einige Stunden vor der Tragik in Bützfleth hatte er mit Aman telefoniert. „Bruder, ich brauche Hilfe“, hatte der gesagt. Er wisse nicht, wie es weitergehe. Wenige Stunden später war Aman Alizada tot.
Was tatsächlich an diesem 17. August in einer Flüchtlingsunterkunft in Bützfleth geschah, ist immer noch nicht klar. „Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, eine Bewertung der bisher vorliegenden Erkenntnisse obliegt im anhängigen Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Stade“, sagt das Innenministerium in Hannover auf TAGEBLATT-Nachfrage. „Derzeit stehen noch die Vernehmung weiterer Zeugen sowie weitere rechtsmedizinische Untersuchungen aus, überdies wurden Akteneinsichtsgesuche gestellt, welchen noch nachzukommen ist“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade, Kai Thomas Breas, der auch keine zeitliche Prognose zum Ende des Ermittlungsverfahrens abgeben will. Breas hält sich mit jedweder Einschätzung zurück. Auch weil die Staatsanwälte wissen, dass ihre Entscheidung – so oder so – politisch hohe Wellen schlagen wird.
Der einzige neue Fakt in diesem Fall: Nach TAGEBLATT-Informationen steckten im Körper des toten Aman Alizada drei Kugeln aus einer Polizeiwaffe.
Der Paragraf 32 des Strafgesetzbuches besagt:
Die Tatumstände an diesem 17. August sind bisher nur durch die Pressemeldung der Staatsanwaltschaft Stade bekannt. Darin stand: „Am gestrigen Samstagabend wurde gegen kurz vor 19.45 Uhr über Notruf eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen in einem Mehrparteienhaus in Stade-Bützfleth gemeldet. Da es sich bei dem Verursacher um einen, der Polizei bereits aus anderen Vorfällen bekannten, Anfang 19-jährigen jungen Asylbewerber aus Afghanistan handelte, wurden vorsorglich zwei Streifenwagen zum Tatort entsandt. Beim Eintreffen der ersten Polizisten an der Erdgeschosswohnung des Mannes, reagierte dieser zunächst nicht auf deren Ansprache von außen durch ein offenstehendes Fenster. Als kurze Zeit später die zweite Streifenwagenbesatzung die Wohnung betrat, ergriff der Mann eine Hantelstange aus Eisen und ging damit auf die Beamten los. Der Einsatz von Pfefferspray durch mehrere Polizisten zeigte keine Wirkung, sodass einer der Beamten seine Dienstwaffe einsetzte und zur Unterbindung des Angriffs auf den Angreifer schoss. Dieser wurde dabei getroffen und lebensgefährlich verletzt. Die sofort eingesetzte Notärztin und die Rettungswagenbesatzung konnten ihm nicht mehr helfen, er erlag kurze Zeit später den Verletzungen.“
Eine Anwohnerin berichtete dem TAGEBLATT, dass sie vier Schüsse gehört habe. Die Staatsanwaltschaft gab später zu Protokoll: „Besonderes Augenmerk wird auf die Frage gerichtet, ob der Polizist in Notwehr gehandelt hat“. Genau darum wird es bei der Bewertung des Tathergangs gehen: Notwehr oder Totschlag?
Das Problem in diesem Fall: Es gibt nur die Polizisten als Zeugen. Warum der Polizeieinsatz eskalierte, ob die Notwehr angebracht war oder der Polizist überreagierte, ist die entscheidende Frage.
Der 19-jährige Afghane galt als traumatisiert. Wegen seiner psychischen Probleme hatte er eine Ausbildung zum Tischler abgebrochen. Freunde berichten, dass er bei einem Bestelldienst eine Anstellung in Aussicht hatte. Mit einer Hantel habe er ganz oft trainiert. Am Abend seines Todes soll er einen akuten psychotischen Schub gehabt haben. Aber auch das ist bisher nicht bestätigt.
Der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, zeigt sich in der Süddeutschen Zeitung irritiert über den Polizeieinsatz. So würde Pfeiffer gerne wissen, aus welcher Entfernung die tödlichen Schüsse fielen. Wie viele Schüsse waren es? Wie soll jemand mit einer Hantel in der Hand dem Pfefferspray mehrerer Beamter widerstehen und dann noch angreifen? Gewöhnlich macht Pfefferspray vorübergehend nahezu blind. Außerdem sind Polizisten angehalten, wenn schon, dann auf die Beine zu zielen, um einen Angreifer zu stoppen, sofern sie nicht mit einem Messer oder einer Schusswaffe attackiert werden, so Pfeiffer.
Auch die Initiative Menschenwürde im Landkreis Stade stellt unter anderem die Frage, weshalb es bei mindestens vier Polizisten in einem kleinen Raum nicht möglich war, ihn physisch zu überwältigen. Außerdem wird gefragt, weshalb aus unmittelbarer Nähe nicht in Körperteile geschossen wurde, deren Verletzung nicht lebensbedrohlich ist.
Antworten gibt es bisher nicht. Auch die Annahme, dass tatsächlich vier Polizisten im Raum waren, ist nicht gesichert.
Zu den wenigen bekannten Fakten in diesem Fall gehört diese Bestätigung aus dem Innenministerium: „Darüber hinaus ist es korrekt, dass sich der beschuldigte Polizeibeamte wieder im Dienst befindet.“
„Es gilt die Unschuldsvermutung“, sagt Jörg Wesemann, Leiter der Polizeiinspektion Stade. Deshalb gebe es für ihn keinen Grund, den Polizeibeamten gegen seinen eigenen Willen aus dem Dienst zu nehmen. Der betroffene Polizist gilt als erfahren und ist kein Berufsanfänger, wie das als Gerücht zu hören war. Er ist wieder im Streifendienst tätig.
Bei allem Vertrauen in den Rechtsstaat ist – auch im Sinne des Polizisten – zu hoffen, dass ein Gericht in öffentlicher Verhandlung die Antwort geben wird. Notwehr oder Totschlag?
Der Fall Aman Alizada taugt nicht zum Politikum. Es ist ein Unglück – so oder so.