Die Flammen haben ihnen alles genommen

Mareike und Michel Junge leben mit ihrem Sohn Levi ein paar Tage im Haus ihrer Eltern in Schwinge. Auf dem Esstisch stapeln sich die Spenden.
Am Morgen des 26. Juni sehen Mareike und Michel Junge mit ihrem Sohn Levi dabei zu, wie ihr Haus in Bützfleth in Flammen aufgeht. Die junge Familie verliert so gut wie alles innerhalb weniger Minuten und erfährt in den Tagen danach beispiellose Hilfe.
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Es ist kurz vor sieben an diesem Sonnabend. Der fast zweijährige Levi liegt im Bett mit seinen Eltern. Michel Junge ist 28 Jahre alt, Mareike Junge 26. Die junge Frau hört ein klackerndes Geräusch. Sie denkt, Shiva will raus, die fünfjährige Bulldoggen-Hündin. Will sie aber nicht. Mareike Junge sieht durch die Plissees im Badezimmer Hitzeschwaden aufsteigen. Sie schiebt im Ankleideraum den Vorhang beiseite, erkennt Flammen und schreit laut „Feuer“. Sie schnappt sich den kleinen Levi. Den Hund. Michel Junge greift noch nach den Autoschlüsseln. Dann laufen sie ins Freie. Eine Nachbarin setzt den Notruf ab.
Die Flammen kriechen an der Hauswand empor. Das Haus ist aus Holz gebaut. Schnell erreicht das Feuer den Dachstuhl. Nach zehn Minuten brennt das halbe Gebäude. In einem Blumenkasten an der Wand steckte eine Solarlampe. Die Ermittlungen der Behörden werden später ergeben, dass der Akku der Lampe geplatzt ist. Enorme Energie wurde freigesetzt, extrem hohe Temperaturen entstanden. Die Feuerwehr ist schnell da. Die Helfer haben das Feuer nach zweieinhalb Stunden gelöscht, erzählen Michel und Mareike Junge. Doch das Haus ist zerstört. Während der Löscharbeiten, pünktlich um 7.30 Uhr, klingelt im Schlafzimmer der offenbar unversehrte Wecker. Die Szenerie wirkt grotesk.
Suche nach Dingen, die das Feuer verschont hat
Feuer und Löschwasser haben in den am meisten betroffenen Zimmern ein Chaos hinterlassen. Der Ruß überzieht die weiß lackierten Möbel großflächig. Mareike und Michel Junge suchen im Inneren nach Dingen, die das Feuer verschont hat. Sie finden Dokumente, Fotos, Laptops, ein bisschen Spielzeug und die Impfpässe. Die beiden Autos hatten sie lange vorher aus der Gefahrenzone gefahren. Sie standen dicht an der Hauswand und waren stark gefährdet.

Das braune Holzhaus in Bützfleth ist nach dem Brand ein Totalschaden und unbewohnbar. Familie Junge mietet bis zum Neubau eine Wohnung in Schwinge. Fotos: Berlin
Am Nachmittag kehrt das Feuer zurück. Zwischen den Rigips-Wänden keimt es neu auf. Diesmal erstickt die Feuerwehr den Brand und die Glutnester mit Schaum.
Als Michel und Mareike Junge ihre Geschichte erzählen, sitzen sie im Wohnzimmer von Mareikes Eltern in Schwinge. Der kleine Levi genießt im Kindergarten wenigstens ein paar Stunden Normalität. Levi habe am Morgen des Brandes nicht geweint, sagen sie. Er habe sich den Tumult angeschaut und fand die Feuerwehr interessant. Ein Brandschützer hatte das rote Bobbycar des Kleinen aus dem Haus geborgen. Damit fuhr Levi durch die Gegend. Erst jetzt merke der fast Zweijährige, dass irgendwas anders ist. Er ist länger bei Oma und Opa als sonst. Er schläft schlechter.
Vergangene Jahre liefen wie ein Film im Kopf ab
Mareike Junge erzählt, dass die Nachbarn Kleidung aus ihren Häusern holten und Getränke. Dass die Familie nach und nach an der Brandstelle eintraf. „Ich musste wegen des Kleinen die Contenance bewahren“, sagt sie. Dabei habe sie ihr Herz pochen gehört. Alles pulsierte bis in den Kopf. „Ich habe versucht zu funktionieren“, sagt Michel Junge. Während die Feuerwehr Schwerstarbeit leistete, liefen die letzten sechs Jahre wie ein Film in seinem Kopf ab. So lange lebten die beiden in dem Holzhaus in Bützfleth. „Ich habe überlegt, dass wir jetzt gar nichts mehr haben, dass all unser Hab und Gut weg ist und was wir jetzt machen“, sagt Michel Junge. Die Junges hatten die 120 Quadratmeter in drei Monaten saniert, sie hatten viel Arbeit reingesteckt. Michels Vater hatte den beiden geholfen. Jung, modern und zeitlos hatten sie das Haus eingerichtet, mit vielen Fotos an den Wänden. Bis in Bützfleth ein neues Haus gebaut ist, werden die Junges in einer Wohnung in Schwinge zur Miete leben.
Michel Junge betreibt eine Vertriebs- und Marketing-Agentur. Für die Telekom betreut er in der Region den Glasfaserausbau. Er kann sich ein paar Tage freinehmen. „Zum Glück habe ich eine starke Mannschaft“, sagt er. Auch der Sport lenkt ihn ab. Michel Junge spielt für die vierte Mannschaft der SV Drochtersen/Assel Fußball. Mareike Junge arbeitet als Kauffrau für Logistik und Spedition bei der AOS in Stade. Ihr Chef gebe ihr Zeit, sagt sie. Die beiden haben gerade viele Termine bei der Bank, der Polizei und der Versicherung, demnächst treffen sie sich mit den Baufirmen wegen des Wiederaufbaus. Das Haus sei ein wirtschaftlicher Totalschaden. Michel und Mareike Junge führen gerade eine Hausratsliste. Sie erinnern sich, unternehmen vor dem geistigen Auge einen Rundgang durch das Haus und schreiben alles auf, was von Wert war. „Allein in den Kleiderschränken hingen 11 000 Euro. Man unterschätzt den Wert von Kleidung“, sagt Mareike Junge.
Die ersten Tage nach dem Brand
Mareike und Michel Junge erzählen von den ersten Tagen nach dem Brand. Am Montag haben sie sich Kleider gekauft. Ein paar Hosen, Hemden, T-Shirts, Blusen, Wäsche. Deo, einen Rasierer, eine elektrische Zahnbürste. „Dabei fällt dir erst auf, dass du gar nichts mehr hast“, sagt Mareike Junge. Der Postbote brachte am Anfang der Woche die ersten Pakete vorbei. Es wurden im Laufe der Tage immer mehr. Auf dem Esstisch in ihrem provisorischen Wohnzimmer in Schwinge stapeln sich die Kleider für Levi. Kinderbücher sind auch dabei. Auf einer Kommode liegen Sachen für die Eltern. In einem Päckchen war ein Babyfon, in einem anderen Trinkbecher. Ein Anrufer fragte Levis Großvater, ob sie noch ein Kinderbett brauchen. Die Spenden kommen sogar aus München. Sie kommen aus der Familie, von Freunden und Bekannten und von völlig fremden Menschen. „Wir merken die Wertschätzung. Es ist krass, wie sich die Leute kümmern“, sagt Michel Junge.
Sein Bruder Maximilian startete online einen Spendenaufruf auf dem weltweit agierenden Spendenportal „GoFundMe“. In wenigen Tagen kamen dabei bereits 2000 Euro zusammen, sogar von anonymen Spendern. „Helfen war ein Muss. Das gehört sich so“, sagt der Bruder. Der Trainer seiner Fußballmannschaft, Gunnar Ziche, agierte als Vermittler für die Spenden, die von den Drochterser Kickern kamen. Auch diese Summe ist längst vierstellig. Ziche besorgte eine neue Kluft für Training und Spiele. Michel Junge ist dankbar.
Wiederaufbau wird Monate dauern
Die junge Familie will unbedingt wieder in Bützfleth wohnen. Ein paar Monate wird der Wiederaufbau dauern. „Die Nachbarschaft ist so herzlich“, sagen die beiden. Sie fühlten sich dort wohl. Noch am gleichen Abend des schicksalhaften Tages hat ein Nachbar den Schein einer Taschenlampe in der Brandruine entdeckt. Vor der Tür des mit Flatterband abgesperrten Hauses stand Augenzeugen zufolge ein weißer Transporter. Diebe haben aus dem Wohnzimmer einen Benzinrasenmäher gestohlen. Michel und Mareike Junge schütteln den Kopf ob dieser Dreistigkeit.
Michel und Mareike Junge werden diesen 26. Juni 2021 so schnell nicht los. Selbst nach der ersten Dusche rochen die Haare noch nach Qualm. In der folgenden Nacht machte das Kopfteil des Bettes in ihrem Elternhaus in Schwinge ein klackerndes Geräusch. Mareike Junge stand senkrecht im Bett. Auf dem Pferdemarkt in Stade knallte die Klappe eines Lkw mit Getöse auf das Pflaster. Sie erschrak beim Frühstück in einer angrenzenden Bäckerei. Wenn Mareike Junge nur den Geruch eines abgebrannten Streichholzes wahrnimmt, schrillen die Alarmglocken.
Der Tag hat sich eingebrannt.