Die Geschichte einer Straße

Die Straße in den Zeiten der Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren.
Wie soll sich der Straßenzug „Am Fleet“ in Jork nach der Freigabe der Ortsumgehung (K 26neu) im Juli 2015 weiter entwickeln?
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Auf diese Frage gibt es noch keine Antwort. Klar ist lediglich, dass die Gemeinde Jork laut Bürgermeister Gerd Hubert (BVJ) „ein Konzept“ auf die Beine stellen will, damit es Einheimische und Touristen in den historischen Ortskern in der Bürgerei und am Fleet zieht. Vielleicht hilft bei der städtebaulichen Entwicklung auch ein Blick zurück – in die Geschichte einer einstmals bedeutenden Straße.
Im Gespräch ist ein Konzept wie in Horneburg oder in Harsefeld. Auch dort wurden und werden die Straßenzüge im alten Ortskern verkehrsberuhigt – mit Raum für Fußgänger und Fahrradfahrer, aber auch weiterhin gut erreichbar für die Kunden, die mit dem Auto ihr Brot oder Fleisch holen wollen.
Die Arbeitsgruppe Gemeindliche Entwicklungsplanung – eingerichtet vor zwei Jahren – will einen städtebaulichen Rahmen schaffen, der dann auch attraktive, kleine Geschäfte und Gastronomie anlockt beziehungsweise hält. Erster Mosaikstein war die Sanierung des Zigarrenmacherhauses aus dem 19. Jahrhundert am Fleet und der Umbau zum Ausstellungspavillon als „Schaufenster“ des Alten Landes 2013.
„Heute tut es mir im Herzen weh, wenn ich durch diese Straße gehe“, sagt Bürgermeister Hubert, der in der Jorker Ortsmitte aufgewachsen ist. Er hofft, dass ein neues Verkehrs- und Nutzungskonzept in den nächsten Jahren allmählich mehr Leben in das historische Zentrum holt – auch, um den örtlichen Einzelhandel im Wettbewerb mit den großen Discountern und Supermärkten und den Städten zu stärken. Auch die Touristen hat Hubert im Blick, denn die Straße liegt im Bereich zwischen Gräfenhof und der St. Matthias-Kirche.
Die Idee: Ein Städteplaner erarbeitet mit den Anliegern (und der Politik) ein Verkehrskonzept für den Bereich am Fleet – unter Einschluss der Nebenstraßen wie Schützenhofstraße, Bürgerei, Umweg und Westerminnerweg. Nach Freigabe der Umgehung (K 26neu) wird die Kreisstraße K 26alt (Jorkerfelde/Am Fleet) zur Gemeindestraße. Danach könnten Mittel aus der Städtebauförderung angezapft werden, so Bürgermeister Gerd Hubert. Angesichts der Finanzlage wird die bauliche Umgestaltung wohl erst ab 2016/2017 in mehreren Schritten erfolgen können.
Altländer Ansichtskarte: Der Straßenzug „Am Fleet“ (Hohe Straße) im Jahr 1908; auf der anderen Seite des Fleets steht die Kirche (nicht sichtbar).
Der Straßenzug „Am Fleet“ war einst, neben der Bürgerei, die Ladenzeile – mit Wirtsleuten, Handwerkern, Tagelöhnern, Bauern und Krämern. Es war laut der Leiterin des Altländer Archivs, Susanne Höft-Schorpp, eine sehr quirlige Straße: „Die Straße hieß vorher ‚Hohe Straße‘ und war ein belebtes Geschäftszentrum.“ Die Straße ist ein Teil der alten Nord-Süd-Hauptverkehrsachse; 1857 bis 1859 war der alte Borsteler Mutweg ausgebaut und weiter bis Neukloster fortgeführt worden. Das Areal an der Kirche war die Keimzelle Jorks, die ersten Handwerker, Händler und Schiffer ließen sich ab dem Mittelalter am Fleet und Kirchhof nieder.
Das Leben war hart. Die Fleet-Anwohner wurden nicht sehr alt, die Kindersterblichkeit war im 17. und 18. Jahrhundert erschreckend hoch, die hygienischen Verhältnisse waren schlecht. Wasser wurde aus dem Fleet geholt. „Die erste Trinkwasserleitung gab es 1932“, sagt die Archivarin Susanne Höft-Schorpp. Die Kirche war ringsherum von einem Graben umgeben, von der Hohen Straße gab es nur die „Leichenbrücke“ als Zuwegung; erst um 1900 wurde eine weitere Brücke über das Fleet – befahrbar auch für Fuhrwerke – am Organistenhaus mit Spendenmitteln gebaut.
Die Straße in den Zeiten des Wirtschaftswunders der 1950er Jahre.
Dort, wo heute das Wohn- und Geschäftshaus Beck (Am Fleet 1) steht, stand einst der Speicher des Gerichtsvogtes Johann Köpke. Dieser betrieb Mitte des 17. Jahrhunderts neben der Vogtei auch eine Landwirtschaft und ein Handelsgeschäft; für Letzteres benötigte er ein Lager am schiffbaren Fleet. Später brannte es ab. Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm die Familie Beck die Hausstelle, sie verdienten als Eigenwohner, so hießen die Nebenerwerbslandwirte, Schlachter und Gastwirte (siehe Foto) ihr Brot. Im 20. Jahrhundert beherbergte das Haus ein Feinkost- und ein Schuhgeschäft, zurzeit hat es die Familie an einen Anwalt vermietet – ein stellvertretendes Beispiel für eine Straße im Wandel – vom Einzelhandel zum Büro (und Wohnen).
Auch das alte Zigarrenmacherhaus (Am Fleet 7) hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Häuslinge, Handwerker und Branntweinbrenner wohnten hier, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog der Zigarrenmacher Jacob Feindt ein, 1929 baut der Kaufmann das Haus zum Schaufensterpavillon um. Eng mit der Geschichte verbunden ist auch die Fleischerei Röhrs, die auf eine 300-jährige Geschichte zurückblicken kann. Ihre erste Adresse war um 1709 die Hausstelle 118, 1990 wurde an dem heutigen Standort ein Neubau errichtet.
Viele alte Häuser wurden abgerissen, sie wichen Neubauten oder Parkplätzen – wie das Fachwerkhaus des Kaufmannes Feindt (Am Fleet 6) im Jahre 1999.
Im alten Pfarrwitwenhaus (Am Fleet 10) – später Wohnhaus, Poststelle und Café – betrieb Familie Müller bis 2013 ein Elektrogeschäft. Mittlerweile ist eine Versicherung eingezogen.
Der Gasthof von Eduard Beck (Am Fleet 1) um 1900. Fotos Altländer Archiv
Eines der markantesten und der ältesten Gebäude ist das Haus „Am Fleet 7“ – ein Winkelbau aus zwei Fachwerkhäusern (Wohnhaus und Scheune). Der Kern stammt aus dem 17. Jahrhundert. Es war Hofstelle, aber auch Brauerei und Brennerei, heute beherbergt das Haus die Eisdiele Pflug. Gleich nebenan, in Nummer 16, richtete die hannoversche Regierung 1857 eine Postspedition ein – mit Gastwirtschaft. 1939 zog die Mädchenabteilung der Landwirtschaftsschule ein, weshalb das Haus von manchen in Jork noch heute „Puddingschule“ genannt wird. 1964 wurde die Fachschule nach Stade verlegt. Einen Steinwurf weiter steht die Bäckerei Pagel, der Neubau wurde 1978 errichtet; bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gab es hier eine Bäckerei.
Auch das erste Feuerwehrhaus stand am Fleet, 1878 war eine Spritze für den Feuerlöschdistrikt Jork angeschafft worden, in einem Schuppen (Am Fleet 24) am Ausgang des Kaak (bedeutet Pranger, heute Westerminnerweg) wurde es neben der Schlosserei Cordes untergebracht. Zudem stand hier das Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse und Landeskrankenkasse, 1883 war die Versicherungspflicht für Arbeiter eingeführt worden; heute wird die alte Krankenkasse „Am Fleet 24“ als Wohnhaus genutzt, (neben Büros) die Hauptnutzungsart der Immobilien.
Türoberlicht der ehemaligen Brauerei im Haus „Am Fleet 14“ mit Tonne.

Altländer Ansichtskarte: Der Straßenzug „Am Fleet“ (Hohe Straße) im Jahr 1908; auf der anderen Seite des Fleets steht die Kirche (nicht sichtbar).

Gegenwart: Der Straßenzug „Am Fleet“ im Jahr 2015 . Vasel
