Erinnerungen an „Gomorrha“: So erlebten Hamburger den "Feuersturm" vor 80 Jahren

Ein kleiner Junge läuft im Jahr 1946 in Hamburg zwischen Trümmern und Hausruinen umher. Foto: dpa
Vor 80 Jahren verwandeln mehr als 700 britische Bomber Hamburg in ein Inferno. Zehntausende Menschen verbrennen, ersticken, werden von Trümmern erschlagen. Waren sie unschuldige Opfer oder für den von Nazi-Deutschland verursachten Krieg mitverantwortlich?
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Von Bernhard Sprengel, dpa
"Im Stadtteil Hammerbrook lag ich im Sommer 1943 im Zentrum des Fegefeuers unter dem Bombenteppich, den die Alliierten mit der 'Operation Gomorrha' über die Hansestadt ausgebreitet hatten." So beginnt der in Hamburg aufgewachsene Liedermacher Wolf Biermann die Schilderung seiner Erlebnisse als Sechsjähriger. Biermann gehört zu den bekanntesten Zeitzeugen des "Feuersturms". Den Morgen des 28. Juli 1943 beschreibt er so: "Übern Südkanal liefen wir auf einer halb weggebrochenen Eisenbahnbrücke. Der Himmel war auch im Morgengrauen noch schwarz. Die Sonne schimmerte fahl im Rauchhimmel. Das Wasser bläkte unter den Schwellen. Die schwarzgekohlten Leichen. Zusammengeschnurrt, so klein. Am Bahndamm der Erstickte. Aufgebläht. Rosa mit Tiefblau sein Gesicht."
Die Autoren des kürzlich erschienenen Buches "Als Hamburg im Feuersturm versank" zitieren den Zeitzeugen Fredy Borck, der damals als Elfjähriger im Stadtteil Rothenburgsort lebte: "Die Leute, die uns rausgeholt hatten, drängten uns. "Nicht stehen bleiben und nicht umdrehen", riefen sie, "Schneller. Schneller. Dass die Schuhe nicht Feuer fangen." Vor mir fiel eine Frau in die Glut. Sie stand in Sekundenbruchteilen in hellen Flammen. Immer noch schreiend, schrumpfte sie lodernd zu etwas Schwarzem, Undefinierbarem zusammen."
Hamburger werden von den Bomben in ihren Häusern überrascht
Bis Juli 1943 hatte Hamburg bereits 137 Luftangriffe erlebt. Die Flucht in den Luftschutzkeller sei für die Hamburger zur Routine geworden, schreibt der Historiker Malte Thießen. Aber Ende Juli 1943 habe sich alles geändert. Die Zerstörungskraft der "Operation Gomorrha" - so der militärische Codename - der sei der absolute Ausnahmezustand gewesen. Wie in der biblischen Schilderung der Zerstörung von Sodom und Gomorrha regnete es Feuer und Schwefel (Phosphor) vom Himmel.
Auch Zeitzeuge Karl-Heinz Pischke erinnert sich an dramatischen Juli-Nächte. In der ersten hatte er mit seiner Mutter - auch aus Neugier - erstmals Zuflucht im riesigen Flakbunker am Heiligengeistfeld gefunden. Die meisten seien zu der Zeit noch in die Luftschutzräume in ihren Häusern gegangen, sagte der 89-Jährige der dpa. "Keiner wusste, dass es mal so einen Angriff geben würde."
Seiner Familie war Raum 27 im zweiten Obergeschoss zugeteilt. 250 bis 300 Leute hätten da seiner Erinnerung nach reingepasst. "Da saßen wir vielleicht zu zehnt drin", so der Maurermeister. Nach kurzer Zeit schon seien Menschen in den Bunker gerannt gekommen. "Verstört, nur mit einem Bademantel bekleidet. Manche sagten nichts. Andere schrien "Es brennt. Es brennt alles!"." Danach seien die Leute nicht mehr bereit gewesen, bei Fliegeralarm in ihren Häusern zu bleiben.
Geballte Angriffe auf die Hansestadt
In den zehn Tagen vom 25. Juli bis zum 3. August 1943 flog die Royal Air Force vier Nachtangriffe mit jeweils mehr als 700 Bombern und die US Air Force zwei Angriffe bei Tage. Die Flugzeuge warfen 8500 Tonnen Spreng- und Brandbomben ab. Das Vorgehen war präzise geplant: Sogenannte Wohnblockknacker zerstören zunächst die Dächer der Häuser, dann regnen mehr als 300 000 Brandbomben auf die von sommerlicher Hitze ausgedörrte Stadt. Es kommt zu einem Flammeninferno.
Gegen 3.30 Uhr am Morgen des 28. Juli stehen nach Angaben des Journalisten Christoph Kucklick rund 16 000 Wohnblocks in Flammen, das Zuhause von mehr als 400 000 Hamburgern. Feuerwirbel rasen mit bis zu 270 Kilometer pro Stunde durch die Stadt. Sie schleudern Dächer durch die Luft, saugen allen Sauerstoff auf und reißen Menschen in die Flammen. Die Feuerwehr ist machtlos. In den Ruinen liegen zudem Sprengbomben mit Zeitzünder, die den Einsatz der Rettungskräfte verhindern sollen.
Der Brandingenieur und spätere Chef der Hamburger Feuerwehr, Hans Brunswig, gibt in seinem Standardwerk "Feuersturm über Hamburg" (1978) die Zahl der Todesopfer mit 41 800 an. Die Historikerin Ursula Büttner spricht von mindestens 34 000 Opfern, der britische Historiker Keith Lowe von 45 000. Auf dem Friedhof Ohlsdorf liegen in Massengräbern 36 918 Tote, wie es auf einer zerkratzten Tafel heißt. Nur etwa die Hälfte der Toten habe identifiziert werden können. 125 000 Menschen wurden nach Angaben von Brunswig verletzt.
Die Dimensionen des Hamburger Feuersturms unterschieden sich deutlich vom deutschen Luftangriff auf die englische Stadt Coventry im November 1940, schreibt Lowe in seinem Buch "Inferno" (2007). Die Angriffe auf Hamburg hätten ein ganz anderes Niveau erreicht. "Was dort geschah, ist genauer betrachtet mit Hiroshima oder Nagasaki zu vergleichen." Die beiden japanischen Städte waren im August 1945 durch Atombomben zerstört worden.
Hamburger Feuersturm jährt sich zum 80. Mal
Zum 80. Jahrestag des Hamburger Feuersturms gibt es eine Reihe von Veranstaltungen. Der Historiker Helmut Stubbe da Luz hat eine Ausstellung unter dem Titel "Ausgebombt! Hamburgs Gomorrha und die Folgen" erarbeitet. Sie stellt die Katastrophe im historischen Kontext dar. Der Luftkrieg sei von Strategen im und nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden, sagt Stubbe da Luz. Nach den deutschen Angriffen auf England hätten die Briten "die Samthandschuhe ausgezogen".
Der Psychotherapeut Ulrich Lamparter hat bereits vor zehn Jahren eine Studie zu Zeitzeugen des Feuersturms vorgelegt. Dabei haben er und sein Team festgestellt, dass die Erinnerungen an die massiven Kriegserfahrungen genau und detailliert sind. Vor kurzem ist eine weitere Studie erschienen, bei der es um die Frage geht, wie die Erinnerungen an Kinder und Enkel weitergegeben werden. Er wisse von Zeitzeugen, die nie über ihre Erfahrungen reden wollten, aber vor ihrem Tod alles aufgeschrieben und in verschlossenen Briefen hinterlassen hätten, berichtet Lamparter. "Ich wollte, dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist" - diese Aussage habe unter den befragten Zeitzeugen die meiste Zustimmung gefunden.
Das Gedenken ist für viele Hamburger bis heute nicht einfach. Auf den persönlichen Tafeln am Massengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof, die meist noch während des Krieges aufgestellt wurden, steht selbst bei Kindern vor dem Todesdatum 27.-28.7.1943 häufig "gef.", also gefallen, wie Soldaten. Auch vom "Terrorangriff" ist die Rede. Der Bombentod sollte im Stadtgedächtnis nicht als persönliches Leid, sondern als Vermächtnis der Volksgemeinschaft aufgehen, schreibt Thießen.
Ein Ehrenmal erinnert an den Angriff
Bürgermeister Max Brauer (1887-1973) mahnte 1952 bei der Eröffnung des neugestalteten Ehrenmals, dass Hamburgs Untergang nur im Kontext der deutschen Luftangriffe auf die spanische Stadt Guernica, auf Rotterdam und Coventry zu verstehen sei. "Nur weil man sich den Gewalttätern überantwortete, kam die Gewalt über unsere Familien und über unsere friedlichen Städte", redete der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Sozialdemokrat den Hamburgern ins Gewissen. Diese Mahnung ist seitdem oft wiederholt worden.
80 Jahre nach Gomorrha komme es zu einer Verdünnung der sinnlichen Kriegserfahrung, stellt Lamparter fest. "Es wird harmloser gedacht als es ist." Am vergangenen 8. Mai hat Hamburg erstmals offiziell des Kriegsendes gedacht. "Wir erinnern an die Opfer des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus", sagte Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) bei der Veranstaltung im Mahnmal St. Nikolai.
Zum Jahrestag der Luftangriffe wird der Senat keine Gedenkveranstaltung durchführen. Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) hat in diesem Jahr bereits der Bombenopfer gedacht, am 31. März beim Besuch des britischen Königs Charles III. und dessen Frau Camilla. Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier legten Tschentscher und Charles im Mahnmal St. Nikolai Kränze nieder. "In everlasting remembrance - in ewigem Gedenken - Charles", stand handgeschrieben auf dem künstlichen Mohnblumen geschmückten Kranz des Monarchen. Es ist eine Ehrung, wie sie das Vereinigte Königreich auch seinen eigenen Kriegsopfern zukommen lässt.