Flüchtlingsserie: Neue Familienmitglieder aus Afghanistan

Ralf und Claudia Engels (links) und Richard und Lina Peters (rechts) sind Pflegeeltern von zwei Jungen aus Afghanistan: Mustafa und und Mohammed, die wir auf Wunsch des amtlichen Vormunds nicht im Bild zeigen. Foto Richter
Mohammed und Mustafa sind erst 14 und 15 Jahre alt. Aber sie haben schon etwas hinter sich, das niemand erleben will: Sie haben ihre Familien zurückgelassen und die gefährliche Flucht nach Deutschland gewagt. Heute wohnen die beiden Jungs aus Afghanistan in Stader Pflegefamilien.
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Auf dem gedeckten Tisch stehen Tee, Kaffee und Birnenkuchen bereit. Familie Engels hat zum Gespräch zu sich nach Hause eingeladen. Es ist jetzt auch das Zuhause von Mustafa, einem schlaksigen, hochgeschossenen Jungen von 15 Jahren mit hellen Augen und einem schüchternen Lächeln.
Neben ihm steht Mohammed, 14 Jahre alt. Er ist etwa einen Kopf kleiner, hat blitzende dunkle Augen und schüttelt dem Besuch strahlend die Hand. Mohammed ist mit seinen Pflegeeltern Lina und Richard Peters gekommen. Vor gut einem Jahr lebte er noch im Iran und arbeitete als Hilfskraft auf einer Hühnerfarm. Heute besucht er die Integrierte Gesamtschule (IGS) in Stade, sein Lieblingsfach ist Mathe.
Auch der 15-jährige Mustafa besucht die Stader IGS. Er stammt aus Afghanistan und lebt seit Februar 2016 bei Familie Engels. Unabhängig voneinander kamen beide Familien im Herbst 2015 auf den Gedanken, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufzunehmen. „Damals hatten wir viele solcher Anfragen“, erinnert sich Verena Wahren vom Pflegekinderdienst des Kreisjugendamts. Das Jugendamt lud alle, die sich vorstellen konnten, ein Flüchtlingskind zur Pflege aufzunehmen, zu einem Informationsabend ein. Zu dieser Zeit kamen immer neue Busse mit Flüchtlingen in Stade an, darunter auch unbegleitete Minderjährige, der jüngste war erst zehn.
Von den Familien, die ernsthaftes Interesse zeigten und überprüft wurden, kamen 18 in die engere Auswahl. Pflegeeltern dürfen keine Vorstrafen haben, müssen gesund sein und die notwendigen räumlichen Voraussetzungen bieten können. Gerade bei jungen Flüchtlingen, die einen ganz anderen kulturellen Hintergrund mitbringen, gibt es noch andere wichtige Kriterien, erklärt Holger Ahrens vom Jugendamt. Eines davon: „Offenheit und ein gewisser Weltblick.“ Die jungen Flüchtlinge sind nach der Fluchterfahrung zudem meist sehr selbstständig und unabhängig für ihr Alter.
Mit potenziellen Pflegeeltern gibt es intensive Vorgespräche und Hausbesuche. Vier Jugendliche wollten nach einem Versuch bei einer Pflegefamilie übrigens wieder zurück: „Unter anderem spielte dabei eine Rolle, dass das Leben in einer Familie auch weniger Freiheiten bietet.“
Zurzeit leben ungefähr 100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Kreis Stade, 55 davon sind noch in der umgebauten Sporthalle der Fröbelschule untergebracht. Nur sieben leben in Pflegefamilien. „Wir haben dafür vor allem Jugendliche angesprochen, die vom Leben in der Halle überfordert wirkten und den Wunsch zeigten, besser Deutsch zu lernen und besser gefördert zu werden“, sagt Ahrens.
Bei Familie Peters lief es etwas anders: Obwohl sie den Jugendamt-Check bereits hinter sich hatten, kam Mohammed vor einem Jahr nicht durch Vermittlung zu ihnen. „Wir unterstützten zwei junge Leute beim Deutschlernen, einer brachte eines Tages Mohammed mit“, berichtet Richard Peters. Seine Frau Lina erinnert sich: „Mohammed war krank, er hatte Fieber und sah elend aus.“ In diesem Zustand wollte sie den Jungen nicht in die Unterkunft zurücklassen. Sie rief beim Jugendamt an und fragte, ob sie sich ein paar Tage um ihn kümmern dürfe. Das Jugendamt verständigte die für die Betreuung zuständige Sozialdienstleistungsfirma. Als Mohammed wieder gesund war, lieferten sie ihn schweren Herzens wieder im Camp ab, baten aber, ihn offiziell als Pflegekind aufnehmen zu dürfen.
Für Lina und Richard Peters war es „überhaupt kein Problem“, sich darauf einzustellen, dass ihr Pflegesohn Muslim ist. Lina Peters selbst ist Christin, kommt aber aus Indonesien, wo die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind und das Ehepaar Peters jahrelang gelebt hat.
Heute nennt Mohammed Lina und Richard Peters „Mama“ und „Papa“, hält aber auch zu seinen Eltern im Iran Kontakt: „Es geht ihnen ganz gut. Nur Menschenrechte sind im Iran ein Problem.“ Mohammed und seine Familie sind Hazara. Die persischsprachigen Hazara sind, anders als die sunnitische Mehrheit in Afghanistan, überwiegend Schiiten. In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder Massaker an Hazara durch die Taliban gegeben. Mohammeds Familie floh in den Iran, aber auch dort, berichtet er, gibt es für sie keine Ausweise, keine vernünftige Arbeit und keine kostenlose Schulbildung: „Ich habe meinen Vater deshalb immer wieder gebeten, nach Europa zu dürfen.“ Erst habe sein Vater nicht gewollt, ihn aber gehen lassen, als auch Schwester und Schwager aufbrachen. Die Reise führte über Griechenland. „Da mussten wir fast fünf Tage unter freiem Himmel verbringen. Es regnete die ganze Zeit, ich wäre fast verrückt geworden“, berichtet Mohammed. Heute fühlt er sich bei Familie Peters sehr wohl – und an der IGS, wo er die Internationale Klasse besucht. Ihn dort unterzubringen, schien anfangs gar nicht möglich, berichtet Richard Peters. Es sei ihnen aber wichtig gewesen, dass der Junge seinen Fähigkeiten entsprechend beschult wird. Er habe alle Schulen in Stade angesprochen und hartnäckig nachgebohrt. „Ja, Pflegeeltern sollten immer genau wissen, was sie wollen“, bestätigt Claudia Engels. Es sei aber auch große Offenheit gefragt. Den Pflegeeltern obliegt die Alltagssorge, aber es gibt einen Vormund beim Jugendamt, der bei allen Entscheidungen von größerer Tragweite konsultiert werden muss – auch vor einem Gespräch mit dem TAGEBLATT. Auch die ausländerrechtlichen Belange liegen in der Verantwortung des Vormunds.
Auch Claudia Engels Pflegesohn Mustafa und seine Familie in Afghanistan gehören zu den Hazara. Sieben Jahre durfte Mustafa zur Schule gehen, dann wurde sie von den Taliban geschlossen. Er war 14, als er sich auf den Weg nach Europa machte – ohne Angehörige, nur mit gleichaltrigen Freunden: „Ich habe auf mich selbst aufgepasst.“
Claudia und Ralf Engels haben zwei Söhne. Einer ist 17 Jahre alt, der andere hat schon ein Studium begonnen und ist ausgezogen. Die Söhne waren sofort dafür, einen Flüchtling als Pflegekind aufzunehmen. Der eine stellte sein früheres Zimmer zur Verfügung, der andere zu Mohammeds Begrüßung eine Grillparty mit seinen Freunden auf die Beine.
Schweinefleisch gibt es nun bei beiden Familien seltener – und wenn, dann wird in zwei Pfannen gekocht, berichtet Claudia Engels. An ihre Art zu kochen, habe Mustafa sich erst gewöhnen müssen. „Ich tue mir einfach Chili dazu“, wirft er ein. Seine Pflegemutter lächelt und sagt: „Mustafa ist für uns in vieler Hinsicht eine große Bereicherung.“ Wie der Junge berichtet, ist solche Offenheit für seine Mitschüler leider nicht immer selbstverständlich: „Weil wir Flüchtlinge und Moslems sind, gucken uns manche komisch an und wollen uns zum Beispiel in der Pause auch nicht beim Fußballspielen dabei haben.“ In seiner Freizeit boxt Mustafa im Verein und hat Klavierunterricht. Die Engels sind eine musikalische Familie.
Wie alle Familien mit heranwachsenden Kindern denken auch Familie Engels und Familie Peters oft über die Zukunft nach. Sie erhoffen sich, dass ihre Pflegesöhne ihren Bildungsweg so gut wie möglich machen – und, dass sie ihnen möglichst lange erhalten bleiben. Natürlich verfolgen sie die aktuellen Diskussionen um den Status afghanischer Flüchtlinge in Deutschland aufmerksam. „Zum Glück sind die beiden noch so jung, dadurch haben wir einfach noch viel Zeit“, sagt Claudia Engels. Pflegesohn Mustafa sieht seine Zukunft übrigens als Polizist: „Am liebsten beim SEK.“
