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Interview

Gerd Spiekermann: „Ich finde die Mystifizierung von Sprachen ganz furchtbar“

NDR-Legende Gerd Spiekermann hat sich im Laufe der Zeit um 76 Pflegekinder gekümmert.

NDR-Legende Gerd Spiekermann hat sich im Laufe der Zeit um 76 Pflegekinder gekümmert.

Gerd Spiekermann plaudert entspannt und detailverliebt über sein Leben – aus Rücksicht auf TAGEBLATT-Mitarbeiter Julian Willuhn, der am Rhein und nicht an der Elbe aufwuchs, auch gern auf Hochdeutsch. Die Hamburger Radiolegende spricht über plattdeutsche Sprache und 76 Pflegekinder.

Samstag, 09.04.2022, 16:00 Uhr

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TAGEBLATT: Wurde bei Ihnen zu Hause Platt gesprochen?

Gerd Spiekermann: Ja. Zu 95 Prozent. Meine Eltern sprachen untereinander Platt, genau wie das ganze Umfeld. Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Wesermarsch. Meine Eltern hatten dort eine Kneipe mit einer Viehwaage. Die Tiere wurden dort gewogen, bevor die Händler sie den Bauern abkauften. Und diese Leute sprachen natürlich alle Platt. Es ist allerdings meine Vatersprache. Meine Mutter redete mit uns in den ersten Jahren konsequent Hochdeutsch.

War es in der Schule ein Problem, wenn Sie oder andere Kinder Platt sprachen?

Den Eltern wurde schon eingetrichtert, dass sie Hochdeutsch mit ihren Kindern sprechen sollen. Die 1950er waren überhaupt eine ziemlich plattfeindliche Zeit. Es war noch nicht angesagt, Zweisprachigkeit als Gewinn zu betrachten. Mein Vater sah das damals schon anders. Er dachte, dass ich vielleicht Tierarzt werden würde – dann würde ich Platt brauchen, um mit den Bauern zu reden.

Sprechen Sie mit Ihren Kindern heute Platt?

Meine Frau kommt aus einem sehr hochdeutschen Haushalt, deshalb sprechen wir zu Hause Hochdeutsch. Ich hatte ein bisschen darauf gesetzt, dass meine Kinder mit ihren Großeltern Platt reden können. Leider ist meine Mutter sehr früh gestorben. Ich habe meine Kinder aber natürlich ins Ohnsorg-Theater mitgenommen und auch meine Enkel. Die finden das schon spannend.

Hat Platt denn überhaupt eine Zukunft als lebendige Sprache?

Das müssen am Ende die Menschen entscheiden. Der Rückgang der Platt-Sprecher ist natürlich dramatisch. In den vergangenen 25 bis 30 Jahren hat sich die Zahl der Sprecher etwa halbiert. Ich bin aber weit davon entfernt, das zu ideologisieren. Es gibt wahrscheinlich Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht aufhalten lassen.

Sie sind also nicht missionarisch?

Überhaupt nicht. Wenn ich bei Heimatvereinen auftrete, dann höre ich oft, wie schlimm die Lage ist und jetzt zum Glück Herr Spiekermann hier ist, um Platt zu reden. Ich widerspreche da nicht. Aber meine Auftritte werden an der Entwicklung nichts ändern.

Finden Sie Platt denn schöner als Hochdeutsch?

Ich finde die Mystifizierung von Sprachen ganz furchtbar. Es gibt immer wieder Leute, die sagen: Im Plattdeutschen klingen die Dinge heimeliger. Das ist die Sicht der Menschen, die diese Sprache nicht wirklich sprechen. Wenn der Nachrichtensprecher berichtet, dass Hunderttausende Menschen aus Kiew fliehen müssen, klingt das auf Platt genauso schlimm wie auf Hochdeutsch.

Sie haben unter anderem Romanistik auf Lehramt studiert. Liegen Ihnen die romanischen Regionalsprachen wie Katalanisch oder Asturisch auch besonders am Herzen?

Tatsächlich hat mir ein Studienaufenthalt in Rennes in der Bretagne den Kick gegeben, mich selbst wieder mehr mit Plattdeutsch zu beschäftigen. Ich hatte dort Kurse in Bretonisch belegt, eine sehr spannende Geschichte. Die Leute dort haben mich dann gefragt, ob es so was auch in Deutschland gibt. Ich habe vom Weihnachtsurlaub dann plattdeutsche Materialien wie Kalender mitgebracht und bin später dann in plattdeutsche Vereine eingetreten.

Wie wurden Sie Plattdeutsch-Redakteur beim NDR?

Ich war der Erste in meiner Familie, der Abitur gemacht hat. Kurz davor kam ein Berufsberater vom Arbeitsamt und erzählte mir, ich solle unbedingt Lehrer werden. Die würden dringend gebraucht werden, es gebe eine Schülerschwemme. Ich hatte den Wehrdienst 1972 verweigert, wurde aber nicht zum Ersatzdienst eingezogen. Erst als ich schon mitten in der Lehrerausbildung war, meldete sich das Bundesamt für den Zivildienst. Die hatten auf EDV umgestellt und so kamen die ganzen Karteileichen nach oben. Also musste ich direkt nach meinem Examen ran und machte 18 Monate Zivildienst in einer Werkstatt für psychisch kranke Menschen in Hamburg, wo meine heutige Frau auch schon studierte. Und als ich fertig war, da waren Lehrer auf einmal nicht mehr gefragt. Sparmaßnahmen, Einstellungsstopp. So blieb ich erst mal in der Werkstatt. Der Chef hatte mir in Aussicht gestellt, später die Leitung zu übernehmen. Ich lernte in der Zeit auch Leute vom Rundfunk kennen und die luden mich in die NDR-Sendung „Niederdeutsche Chronik“ ein, um über die Bevensen-Tagung für die niederdeutsche Sprache und Literatur zu reden. Da gab ich natürlich auch eine Kostprobe meiner Plattdeutsch-Kenntnisse. Ein paar Tage später meldete sich dann der Redakteur und fragte mich, ob ich nicht zum NDR kommen wolle. Ich war drei Jahre freier Mitarbeiter und 1985 wurde ich fest angestellt. Ein Traumjob. Das Radio war immer mein Metier – Leute kennenlernen und Geschichten zu erzählen.

Warum haben Sie angefangen, diese Geschichten auch auf Bühnen zu erzählen?

Ich habe in den 1970ern Geschichten aufgeschrieben und ein Buch veröffentlicht. Der Durchbruch war der Kappelner Literaturpreis 1991. Ich war der erste Preisträger. Die Nachricht ging durch alle Zeitungen in Schleswig-Holstein. Von da an meldete sich fast jeden Tag jemand, etwa der ADAC aus Kiel oder die VR-Bank aus Itzehoe. Ich solle auf ihren Weihnachtsfeiern oder anderen Veranstaltungen auftreten. Mit der Zeit begann ich, die Geschichten frei vorzutragen. Bei „Hör mal’n beten to“ im NDR habe ich später jede Woche eine Geschichte veröffentlicht – das ist eine Werbung, die man nicht bezahlen kann.

Wie groß ist das Einzugsgebiet für Ihre Auftritte? Wo verstehen die Leute Ihr Platt noch?

Durch meine Auftritte im Radio habe ich mich sprachlich ja etwas angepasst, auch wenn man immer noch hört, dass ich aus der Wesermarsch komme. Ich bespiele ganz Schleswig-Holstein. Da sind die meisten aktiven Vereine und Bühnen. Hamburg natürlich auch. In Niedersachsen wird es interessanterweise schon weniger, obwohl da die meisten aktiven Sprecher leben. Bis Ostfriesland schaffe ich es. Hannover ist dann allmählich die Grenze. In den neuen Bundesländern habe ich so gut wie nichts zu tun. Ich kann die Auftritte seit der Wende an einer Hand abzählen.

Hat sich das Publikum im Lauf der Jahre verändert? Vor wem treten Sie auf?

Das hängt davon ab, wo ich auftrete. Wenn ich in Oldesloe oder Geesthacht bin, dann sitzen da auch junge Leute im Publikum. Meine Auftritte sind ja eher comedy-ähnlich, das spricht auch junge Menschen an. In einer traditionellen Kneipe auf dem Dorf ist das Publikum eher Ü 60.

Hat die Metropole Hamburg denn eigentlich noch eine eigene Platt-Kultur?

Auf jeden Fall. Dafür muss man aber in die Vier- und Marschlande oder nach Finkenwerder. Früher hatte ganz Hamburg eine feste Dialektstruktur. Man konnte die Barmbeker und die Eimsbüttler an ihrem Platt unterscheiden. Durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs wurden diese Strukturen zerstört. Die Menschen haben ihre Wohnungen verloren und mussten aus ihren alten Quartieren raus. Dort, wo die Stadt nicht so schlimm von den Bomben betroffen war, haben sich die lokalen Dialekte eher gehalten.

Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Geschichten?

Aus meinen Erinnerungen und aus Alltagsbeobachtungen. Ich kann mich gut an Details erinnern. Meine Schwester Anne ist dabei sehr wichtig für mich. Als ich noch beim NDR war, habe ich sie immer angerufen, wenn eine Geschichte fertig war und sie ihr vorgelesen. Und wenn mir mal gar nichts einfiel, dann habe ich mich auch bei ihr gemeldet. Und sie sagte dann zum Beispiel: Hast du schon mal was über Omas Schötteldook geschrieben? Das ist heute eine meiner Paradegeschichten.

Das Schötteldook?

Es geht um das wichtigste Küchenutensil meiner Oma. Das Tuch lag in der Küche auf dem sogenannten Gossenstein und damit wurde alles in der Küche abgewischt – auch die dreckigen Schnuten der Kinder. Wenn man genau hinschaute, erkannte man auch, um was sich bei dem Tuch eigentlich handelte: die abgelegte Unterbuxe meiner Großmutter. Diese Geschichte war mal nur drei Minuten lang und ist mittlerweile auf eine Viertelstunde Erzählzeit angewachsen. Manchmal lasse ich auch wieder Sachen weg, die Story bereinigt sich gewissermaßen selbst.

Als Jazz-Fan improvisieren Sie also auch gern mal?

Ja, absolut. Keine Geschichte ist auf der Bühne gleich. Etwas erzähle ich immer anders. Auch weil das Publikum an unterschiedlichen Stellen lacht oder reinruft.

Sie sind mittlerweile als Redakteur in Rente gegangen, stehen aber immer noch auf der Bühne. Sie haben aber auch eine weitere wichtige Tätigkeit: Sie und Ihre Frau betreuen Pflegekinder – wie kamen Sie zu dieser Aufgabe?

Wir sind Bereitschaftspflegeeltern, also eine Art Feuerwehr. Wenn in einer Familie eine Notsituation entsteht und Kinder betreut werden müssen, wendet sich das Jugendamt an den Trägerverein Pfiff. Die prüfen dann, in welche Familie die Kinder passen könnten und rufen zum Beispiel bei meiner Frau an. Wir wollten immer viele eigene Kinder. Aus medizinischen Gründen war nach Nummer vier Schluss. Deswegen haben wir uns dann bei Pfiff beworben. Mittlerweile haben wir uns um 76 Pflegekinder gekümmert. Der längste Aufenthalt war zwei Jahre, normal ist etwa ein halbes Jahr.

Die Kinder kommen also zu Ihnen, wenn die Eltern nicht zur Verfügung stehen?

Genau. Manchmal geht das Knall auf Fall. Das sind sogenannte Inobhutnahmen, zum Beispiel bei Gewalt in der Familie. Es gibt aber auch Situationen mit Ankündigung, wenn zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter in Kur muss.

Wie schaffen Sie es, dass diese Kinder, die wahrscheinlich oft viel Schweres erlebt haben, Vertrauen zu Ihnen fassen?

Es dauert, bis sie sich bei uns heimisch fühlen. Ich veranstalte Info-Abende für neue Pflegeeltern und sage denen immer klar: Sie holen sich Probleme ins Haus. Alle diese Kinder haben schon einen richtigen Knick in ihrer Biografie. Sonst wären sie keine Pflegekinder. Sie haben Gewalt erlebt oder Verlust erfahren. Wir sind deswegen am Anfang einfach nur da. Viele Kinder und Jugendliche erleben das erste Mal bei uns ein stabiles Familiensystem. Oder lernen das erste Mal Männer kennen, die nicht nur rumbrüllen oder besoffen sind. Am Anfang wollen wir vieles erst mal gar nicht genau wissen. Wenn uns die Kinder und Jugendlichen später von sich aus etwas erzählen wollen, dann ist das in Ordnung. Unsere Haustiere helfen auch, vor allem unsere zwei Hunde. Da können die Kinder ihr Kuschelbedürfnis ausleben. Wir wollen das jetzt noch machen bis meine Frau 70 wird. Also noch drei Jahre.

Bitte ergänzen Sie...

Beim Derby in Hamburg jubele ich für... eher St. Pauli. Aber Fußball ist mir nicht so wichtig.

Der schönste Ort in Hamburg für Jazz-Konzerte ist... der Cotton Club.

Meine besten Ideen für Auftritte kommen mir... beim Einschlafen. Früher hatte ich deswegen immer ein Notizbuch neben dem Bett, heute mein Handy.

Wenn ich eine neue Sprache einfach so mit einem Fingerschnipsen beherrschen könnte, wäre das... Isländisch.

Zur Person

Gerd Spiekermann kam am 4. April 1952 in Ovelgönne in der Wesermarsch zur Welt. Er studierte Romanistik und Politikwissenschaft in Marburg und im französischen Rennes und war von 1985 bis 2015 Redakteur für Plattdeutsch bei NDR 90.3. Spiekermann produzierte Beiträge für die Reihe „Hör mal’n beten to“ und war 14 Jahre lang Redaktionsleiter der Sendung Hamburger Hafenkonzert. Er veröffentlichte 18 Bücher und 7 CDs mit seinen plattdeutschen Erzählungen, die er seit Jahren auf großen und kleinen Bühnen zum Besten gibt. Spiekermann lebt mit seiner Frau, zwei Hunden, einer Katze und einem Aquarium voller Fische in Hamburg-Wandsbek.

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