Giovanni di Lorenzo: „Als Zeitungsredakteure sind wir keine Aktionisten“

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur Die Zeit. Foto: Georg Wendt/dpa
Charmant, zugewandt, aber auch sehr nachdenklich blickt Giovanni di Lorenzo auf seine Zeit an der Spitze eines der wichtigsten politischen Leitmedien hierzulande – aber auch auf die dramatischen Geschehnisse dieser Tage.
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Herr di Lorenzo, auf dem Verlagshaus der „Zeit“ weht die Ukraine-Flagge. Wie wichtig ist Haltung im Journalismus für Sie?
Mit dem Begriff Haltungsjournalismus habe ich große Schwierigkeiten.
Warum?
Viele wollen uns Medien am Zeug flicken. Solchen Anfeindungen können wir vor allem ein Markenzeichen entgegenhalten: unsere Unabhängigkeit! Wir versuchen deshalb, Distanz zu halten, auch jenen gegenüber, mit denen wir sympathisieren. Ich kann die Aktion mit der Flagge emotional total verstehen. Sie ging jedoch nicht von der Redaktion aus, sondern vom Verlag.
Sie hätten es nicht gemacht?
Eher nicht, obwohl ich als Privatmensch bei den Demos für die Ukraine mit Sicherheit mitlaufen würde, wenn es sich ergibt. Aber als Zeitungsredakteure sind wir keine Aktionisten, auch wenn wir in diesem Fall sehr genau wissen, wer Täter und wer Opfer ist.
Wie schlägt sich das Bemühen um Glaubwürdigkeit in der „Zeit“ nieder?
Das kommt auf die journalistische Gattung an: Im Kommentar kann man die eigene Haltung vollends zum Ausdruck bringen. In anderen Gattungen geht es ums Recherchieren und darum, Tatsachen wiederzugeben. Manchmal liegt in der nüchternen Beschreibung dessen, was ist, mehr Sprengkraft als in einem Leitartikel.
Sie haben Wladimir Putin im vergangenen Jahr einen Gastbeitrag in der „Zeit“ schreiben lassen, in dem er seine krude Sichtweise auf die Ukraine und auf sein Verhältnis zu Europa beschrieben hat. Ein Fehler?
Ich glaube nicht. Die Entscheidung, einen Text von ihm zu drucken – der übrigens einiges über seine Denkweise, Sprache und Ansprüche verraten hat – war jedoch eine schwierige und knappe Entscheidung. Es gab auch gute Gründe, es sein zu lassen. Heute würden wir selbstverständlich keinen Gastbeitrag von Putin veröffentlichen. Ich bemühe mich übrigens seit langem um ein Interview mit ihm, das ich im Moment aber auch nicht führen würde…
… warum nicht?
Weil ich nicht wüsste, was ich ihn fragen sollte. Es gibt nichts zu besprechen, außer: Geh’ da raus und hör mit diesem Krieg auf!
Ihre Magisterarbeit haben Sie über Silvio Berlusconi geschrieben. Was zeichnet Populisten wie ihn aus?
Ich grenze Populismus von populär ab. Es ist eine wichtige Qualität von Politikern, wenn sie gut bei Leuten ankommen. Ich wünschte mir in Deutschland mehr Politiker, die den Menschen aufs Maul schauen können und eine verständliche Sprache nutzen. Das war eine einzigartige Gabe von Helmut Schmidt: Er konnte direkt zu den Leuten reden. Populismus ist dagegen die Verdrehung von Wahrheit und Tatsachen für einen politischen Zweck. Und das Schüren von Emotionen dort, wo Probleme komplex sind.
Wie sehr vermissen Sie Ihren alten Interviewpartner Helmut Schmidt?
Sehr, gerade in einer so schweren Lage wie jetzt. Es ist die erste politische Krise, an die ich mich erinnern kann, bei der ich es nicht schaffe, eine klinische Distanz zum Gegenstand meiner Berichterstattung aufzubauen – die natürlich auch Journalisten brauchen, sonst könnten sie ihren Beruf gar nicht ausüben. Dieser Angriffskrieg wühlt mich so auf, dass ich selbst Grenzen der Aufnahmefähigkeit spüre. Irgendwann spät am Abend mache auch ich den Fernseher aus, sonst nehme ich das mit in die Nacht.
Was hätte Helmut Schmidt jetzt gedacht und gesagt?
Ich weiß es nicht. Ich würde ihn gern fragen: „Wie weit geht Putin noch?“ Er hat sich immer um das Verständnis für Länder bemüht, die Deutschland überfallen hat. Aber ich glaube, er wäre über Russland genauso erschrocken, wie wir alle.
War Schmidt Vorbild oder Freund?
Ich würde sagen, wir hatten ein ordentliches Verhältnis, das aber nicht immer konfliktfrei war. Wenn er einen derbe ansprechen konnte, war es eher ein Freundschaftsbeweis. Einmal rief er über den Gang: „Giovanni, machen Sie mal Urlaub, Sie sehen scheiße aus.“ Das war seine Form von Empathie.
Sie stehen für Weltoffenheit, waren 1992 Mitinitiator der ersten Lichterketten gegen Fremdenfeindlichkeit. Trifft es Sie, dass jetzt Nationalismus, Ressentiments und Verschwörungsideologien Konjunktur haben?
Vor allem besorgt es mich. Allerdings haben auch die, die auf der richtigen Seite stehen, in den letzten 30 Jahren Fehler gemacht. Politische Entscheidungen wurden nicht immer so kommuniziert, dass wir hätten verhindern können, dass sich ein Teil der Bevölkerung abwendet. Das sehe ich mit großer Besorgnis.
Warum sind Sie Journalist geworden?
Weil ich diese wunderbare Erfahrung gemacht habe, dass Journalismus etwas bewirkt. Ich mache diesen Beruf schon lange, sehe aber immer noch Sinn darin. Sonst wäre meine Kraft längst erschöpft.
Sie sind auch TV-Moderator. Worin unterscheiden sich Fernsehen und Zeitung?
Die Zeitung schildert, was ist und was ein Mensch sagt. Die Talkshow „3nach9“, die ich moderieren darf, gibt Aufschluss darüber, wie ein Mensch ist. Jeder Zuschauer kann sich selbst ein Bild machen. Ich bin dankbar, beides machen zu können.
Ihr persönliches Highlight in fast 33 Jahren „3nach9“?
Es gab viele Highlights: In jungen Jahren war das Interview mit dem Manager Eberhard von Brauchitsch etwas Besonderes. Er war tief in die Flick-Affäre verwickelt. In den letzten Jahren war es das Gespräch mit dem ehemaligen Bertelsmann-Chef und Arcandor-Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff. Er saß damals noch im Gefängnis und ist während eines Freigangs zu uns gekommen. Beide haben etwas von sich preisgegeben, in diesem Sinne waren beide Gespräche aufklärerisch.
Wo ist mal was schiefgelaufen?
Viele Interviews sind komplett in die Hose gegangen. Ganz oft liegt der Fehler dann schon in der ersten Frage: Wenn man jemanden zumacht, statt ihn zu öffnen. Das hatte ich mal mit der Sängerin Michelle, was mir heute noch leidtut.
Verraten Sie uns Ihre Tricks für ein gutes Interview?
Es gibt nur einen Trick: die richtige Tonlage zu finden, um jemanden zum Reden zu bringen. Das gilt zumindest für ein nicht strikt politisches Format wie „3nach9“. Wir fragen Armin Laschet zum Beispiel nicht nach dem richtigen Parteiprogramm, sondern wollen einen Eindruck davon vermitteln, was für ein Typ das ist, der Kanzler werden möchte. Oder: Was beschäftigt Annalena Baerbock, bevor sie dieses schwierige Amt als Außenministerin übernimmt? Und beim Arbeitsminister Hubertus Heil geht es nicht um das nächste Gesetzesvorhaben, sondern wie er derjenige geworden ist, der er ist. Die politischen Fragen kann ich alle bei der „Zeit“ stellen.
Wie finden Sie es, dass Ihre TV-Partnerin Judith Rakers ihren Hahn „Giovanni“ genannt hat?
(lacht) Erst mal habe ich hier selbst einen Hahn (zeigt auf eine goldfarbene Hahn-Skulptur im Regal), die ich von Medienfrauen bekommen habe, die Pro Quote gegründet haben. Die Geschichte mit dem Hahn von Judith verfolge ich gerade in diesen Tagen mit einer gewissen Anteilnahme, weil der Habicht ihn geholt hat. Sie ist untröstlich.
Bitte ergänzen Sie...
Deutsch ist an mir vor allem… vielleicht ein Übermaß an Disziplin, was von meiner preußischen Mutter kommt.
Italienisch ist an mir vor allem… die katholische Prägung.
Von diesem Journalisten habe ich mir am meisten abgeguckt… als ich ganz jung war, habe ich die begnadete italienische Kriegsreporterin Oriana Fallaci bewundert, die sich später leider radikalisiert hat.
Journalismus ist der schönste Beruf, weil… er einem erlaubt, immer wieder in neue Welten einzutauchen, zu denen man sonst nie Zugang gehabt hätte.
An Hamburg nervt mich manchmal…, dass es so schwer ist, Großstädte außerhalb Deutschlands zu erreichen, man muss immer umsteigen – und dass Hamburg manchmal nicht besonders neugierig ist auf Menschen, die neu dazukommen.
Auf Fragen zu meinem Privatleben äußere ich mich… grundsätzlich nie, denn wenn man einmal damit anfängt, hat man keinen Schutz mehr.
Dass die „Zeit“ aus Hamburg im Titel das Stadtwappen von Bremen trägt, ist… die Schuld der Hamburger Behörden, weil sie bei Gründung der „Zeit“ die Rechte am Wappen nicht rausrücken wollten.
Zur Person
Giovanni di Lorenzo ist 1959 als Sohn eines Italieners und einer Deutschen in Stockholm geboren. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Schweden und in Deutschland, bevor die Familie nach Italien zog. Ab dem elften Lebensjahr lebte er mit seiner Mutter in Hannover, wo er das Abitur machte und erste Schritte als Journalist ging. Es folgte ein Studium der Kommunikationswissenschaften, Politologie und Geschichte in München.
Bei der „Süddeutschen Zeitung“ leitete di Lorenzo das Reportage-Ressort „Die Seite Drei“, wechselte 1999 als Chefredakteur zum Berliner „Tagesspiegel“ und 2004 in derselben Funktion nach Hamburg zur Wochenzeitung „Die Zeit“. In seiner erfolgreichen Interviewserie „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ ließ er den „Zeit“-Herausgeber und Altkanzler den Deutschen das Weltgeschehen erklären.
Seit 1989 moderiert di Lorenzo die TV-Talksendung „3nach9“, seit 2010 gemeinsam mit Judith Rakers.
Fußballfan di Lorenzo (Juventus Turin, Inter Mailand, FC St. Pauli) lebt in Hamburg.