Ladekoper Schütze will zu den Paralympics nach Paris

Der Para-Sportschütze Tjark Liestmann (21) vom SV Ladekop offenbarte sein Talent einst beim Schützenfest. Heute ist der Rollstuhlfahrer Deutscher Vizemeister und Kandidat für die Paralympics 2024 in Paris. Sein Sport kämpft jedoch mit schweren Vorwürfen.
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Das menschliche Auge hätte keinen Unterschied feststellen können. Aber im Leistungssport gibt es ja elektronische Messsysteme, die errechnen, dass zwischen Platz eins und zwei nur 0,3 Ringe liegen. „Es war so eng“, sagt Tjark Liestmann. 60 Mal schossen er und seine Konkurrenten bei der Deutschen Meisterschaft in München mit dem Luftgewehr auf die zehn Meter entfernte Scheibe. Am Ende hat Liestmann 627,9 Ringe gesammelt, nur 0,3 weniger als der Erste.
Keine Enttäuschung. Im Gegenteil: Liestmann freut sich über seinen bisher größten Erfolg: Deutscher Vizemeister in der Disziplin „Luftgewehr liegend“ in einer Klasse für Menschen mit Behinderung, die die Waffe im Anschlag frei halten können.
Wenige Tage nach dem Erfolg stemmt Liestmann sich auf dem Schießstand des SV Ladekop, zwischen Apfelbäumen und dem Gerätehaus der Ortsfeuerwehr gelegen, aus seinem Rollstuhl in ein Konstrukt, das sein Vater, ein Industriemechaniker, angefertigt hat: Es besteht aus einer Sitzfläche und einer daran angeschlossenen Tischplatte. Liestmann liegt also nicht beim Schießen, er sitzt auf seinem wettkampfkonformen Schießstuhl und stützt sich mit beiden Ellenbogen auf die Tischplatte. Direkt aus seinem Rollstuhl schießen darf er laut Regelwerk er nicht.
Beweglicher durch jahrelange Therapie
Tjark Liestmann wurde aus ungeklärter Ursache mit einer Verengung des Rückenmarks geboren, wodurch er ab der Schulter abwärts eingeschränkt ist. Zuerst konnte Liestmann nur den Kopf bewegen, durch jahrelange Therapien und Reha ist er beweglicher geworden. Den Zeigefinger zum Beispiel kann er relativ gut „ansteuern“, andere Finger nur paarweise, die Füße gar nicht. Mit Hilfe von Unterarmstützen und Orthesen kann er gehen. „Tjark hat sich das hart erarbeitet“, sagt Mutter Imke Liestmann. Er fährt selber mit einem umgebauten Auto, wohnt in einer Studentenwohnung in Bremen, benötigt nur Hilfe bei „Kleinigkeiten“, sagt sie.
Der Weg in den Schützensport war vorgezeichnet, denn Tjark Liestmann kommt aus einer Schützen-Familie. Vor mehr als zehn Jahren fing er selber an. Liestmann schoss beim Schützenfest in Ahlerstedt mit dem Luftgewehr auf Pappscheiben, wurde auf Anhieb Kinderkönig. Der Verein war bemüht, aber die Bedingungen waren nicht die besten für einen Menschen im Rollstuhl: Wollte Liestmann zum Schießstand, mussten er und sein Rollstuhl ins erste Obergeschoss getragen werden. 2012 schloss er sich dem SV Ladekop an und qualifizierte sich gleich für die Deutsche Meisterschaft.
Für Nachwuchsarbeit bekannt
Der SV Ladekop ist überregional für seine Nachwuchsarbeit bekannt, schickte in den letzten Jahren teilweise bis zu 30 Schützen zu Deutschen Meisterschaften und kann, so banal es klingt, einem Sportler im Rollstuhl eine ebenerdige Schießanlage bieten. „Das war Neuland für uns“, sagt Trainer Peter Palm. Die Altländer setzten sich mit dem Regelwerk für Sportschützen mit Behinderung auseinander, holten sich Rat bei den Bundesstützpunkten. Und boten Liestmann ein leistungsorientiertes Umfeld. „Wir haben diesen rohen Diamanten geschliffen“, sagt Palm. „Und heute glänzt dieser Diamant.“

Trainer Peter Palm.
Liestmann verdient kein Geld mit dem Schießen, er studiert Physik, wohnt derzeit bei seinen Eltern in Ahrensmoor in der Gemeinde Ahlerstedt. Vor allem aber hat er Spaß an diesem Sport. Am Schießstand erreiche er einen Geisteszustand, der mit Meditieren vergleichbar sei, sagt Liestmann: „Ich habe keine Gedanken im Kopf.“ Liestmann blendet alles um sich herum aus. Beim Sportschießen geht es weniger um körperliche Anstrengung, sondern vielmehr um mentale Stärke, Ruhe, Konzentration, Körperbeherrschung, Präzision. Für einen Menschen im Rollstuhl sei das die perfekte Sportart. Und überhaupt: „Welche anderen Sportangebote in der näheren Umgebung kommen für mich sonst infrage?“
Gemeinde der Para-Sportschützen überschaubar
Doch auch die Gemeinde der Para-Sportschützen ist überschaubar. Medienberichten zufolge gibt es Behindertensportler, die sich nicht in die Vereine trauen, und Vereine, die nicht wissen, wie sie mit Menschen im Rollstuhl umgehen sollen. Dazu passt Liestmanns Aussage, dass – wenn er bei Meisterschaften antritt – jeden Schützen persönlich kenne.
Aber der Zulauf wird offenbar größer. So starten beispielsweise bei der Deutschen Meisterschaft immer mehr Parasportler. „Das ist für uns wie eine Sichtung“, sagt Bundestrainer Rudolf Krenn. Das Para-Sportschießen nimmt in seinen Augen eine gute Entwicklung. Deutschland gehört zur Weltspitze, holte in Tokio nach Jahren des Wartens wieder eine Goldmedaille. Der Bundestrainer wird hauptamtlich beschäftigt, die Zahl der Lehrgänge hat sich in den letzten Jahren fast verdreifacht und mit wissenschaftlicher Unterstützung wird versucht, die Leistungsreserven der Sportler zu verbessern.
Schwere Vorwürfe gegen Bundestrainer
Aber das Image des Para-Sportschießens hat Risse bekommen. Zahlreiche Schützinnen erhoben kürzlich im „Spiegel“ schwere Vorwürfe gegen den Bundestrainer. Es geht um Demütigung, Machtmissbrauch, ein Klima der Angst. Die Verbandsspitze reagierte nicht auf die Hilferufe und stellte sich hinter Krenn. Liestmann durfte bereits bei der Nationalmannschaft mittrainieren. Er sagt dazu: „Mich hat das selber nicht betroffen“, durch Erzählungen aber kenne er die Geschichten und versuche sie auszublenden. „Im Bundeskader geht es sehr leistungsorientiert zu.“

Tjark Liestmann mit Luftgewehr und Silbermedaille : Bei der Deutschen Meisterschaft verpasste er Platz eins nur knapp.. Fotos: Scholz
Und auch mit der Inklusion tut sich der Verband offenbar schwer. Vorstöße, Rollstuhlfahrer und Menschen ohne Behinderung in derselben Klasse antreten zu lassen, seien nach Beschwerden seitens der Fußgänger zurückgenommen worden, sagt Liestmann: „Vom Inklusionsgrad ist das äußerst schade.“
Liestmann behauptet sich inzwischen in Wettkämpfen mit anderen Paralympics-Teilnehmerinnen und steht im Blickfeld der Nationalmannschaft. Mehr sogar: Aufgrund starker Leistungen lud ihn der Bundestrainer zur Paralympics-Ausscheidung nach Suhl ein, Liestmann verpasste die Qualifikation für Tokio jedoch. Die Paralympischen Spiele 2024 in Paris sind nun sein Ziel. Der Bundestrainer hält das für realistisch: „Wir haben Tjark auf dem Schirm. Wenn er ein, zwei Schippen drauflegt, ist er dabei.“
