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Interview

Landespastor: „Meiner Erfahrung nach gibt es sehr viele solidarische Menschen“

Pastor Dirk Ahrens glaubt, dass unsere Gesellschaft sehr viel besser ist, als wir oft denken. Foto: Axel Nordmeier/Diakonie

Pastor Dirk Ahrens glaubt, dass unsere Gesellschaft sehr viel besser ist, als wir oft denken. Foto: Axel Nordmeier/Diakonie

Dirk Ahrens empfängt TAGEBLATT-Mitarbeiter Julian Willuhn in seinem Büro im vierten Stock des Diakoniegebäudes in der Königstraße in Altona. Der Landespastor tippt die letzten Sätze der Weihnachtsbotschaft an seine Mitarbeiter – um sich dann viel Zeit für das Gespräch zu nehmen.

Freitag, 24.12.2021, 18:00 Uhr

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TAGEBLATT: Herr Ahrens, Sie sind Landespastor und Leiter des Diakonischen Werkes Hamburg. Wollten Sie diesen Weg schon in Ihrer Schulzeit einschlagen?

Dirk Ahrens: Nein, gar nicht. Mein familiärer Hintergrund ist überhaupt nicht kirchlich. Ich komme väterlicherseits aus einer Bergmannsfamilie aus dem Harz. Meine Familie war eher sozialdemokratisch-gewerkschaftlich eingestellt. Als es auf mein Abitur zuging, habe ich dann zur Überraschung meiner Familie und Freund*innen entschieden, dass ich Theologie studieren möchte. Ich habe sechs Jahre am Missionsseminar in Hermannsburg in einer Bruderschaft studiert, sehr klösterlich. Mein Ziel war es, Pastor in Übersee zu werden. In Hermannsburg hatte ich aber dann mein Coming-out als schwuler Mann.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr Coming-out?

Es war das Jahr 1983 in der Lüneburger Heide, in einem sehr frommen kleinen Ort. Meine Kommilitonen und meine Dozenten sind diesen Weg mit mir gegangen. Gleichzeitig hat mein zukünftiger Arbeitgeber, die Kirche, klar gesagt: Bei uns nicht. Ich konnte noch zu Ende studieren und bin danach für meine Doktorarbeit nach Wien gegangen. Thema sollte das völlig neue Arbeitsfeld Aids-Seelsorge sein. Das war eine heftige Herausforderung. Die Jungs und Männer, die ich im Krankenhaus besuchte, hatten zur damaligen Zeit den sicheren Tod vor Augen. Viele waren verzweifelt, sehr einsam, rangen mit Schuldgefühlen, und nicht wenige hatten einen regelrechten Hass auf eine Kirche, die sie als verlogen und repressiv erlebt hatten. Ich fühlte mich total überfordert, weil ich den Eindruck hatte, nichts wirklich „tun“ zu können. Dort hatte ich eine wichtige spirituelle Erfahrung: Ich saß bei einem Jungen am Bett, dem es sehr schlecht ging. Er tat mir entsetzlich leid, und ich hatte wieder das schreckliche Gefühl, nicht helfen zu können. Ich wollte nur noch raus, weg, in die Sonne. Dann schaute ich auf das Kruzifix an der Wand: Gott, an Händen und Füßen festgenagelt. Gott hält die Ohnmacht aus, läuft nicht weg. Ich erkannte, dass es darum geht, Menschen nicht alleine zu lassen, ihr Leid mit zu tragen, auch wenn man manchmal dabei vor allem die eigene Ohnmacht aushalten muss. Nicht weglaufen, so wie Gott nicht wegläuft. Aus der Doktorarbeit ist am Ende nichts geworden. Ich bin im August 1990 nach Greifswald in Vorpommern gezogen und dort Vikar geworden. Ungeoutet. Das habe ich erst ein Jahr später gemacht und bin deswegen dort leider auch nie Pastor geworden.

Hat man Ihnen ganz offiziell gesagt, dass Sie nicht Pastor werden dürfen, weil Sie schwul sind?

Ja, im Grunde genommen habe ich mir die ersten 18 Jahre meines Theologendaseins anhören dürfen, dass ich nie als Pastor ordiniert werden würde. 2001 sind mein heutiger Mann und ich deshalb nach Hamburg gezogen. In der damaligen Nordelbischen Kirche war eine Ordination damals kein Problem mehr. 2002 haben wir in „unserer“ Gemeinde, der Kreuzkirche in Wandsbek, geheiratet. Meine damalige Chefin, die Pröpstin, hat uns getraut, und die ganze Gemeinde hat mitgefeiert. Es war eine völlig andere Welt.

Was ist für Sie der Auftrag der Diakonie in Hamburg?

Unser erster Auftrag bezieht sich auf diese Stadt und die Menschen, die in ihr leben. Hamburg ist eine Stadt mit sehr reichen und sehr armen Menschen. Gemeinsam mit der Politik Wege zu finden, das Leben für die Ärmeren zu verbessern und die Gesellschaft zusammenzuhalten, ist sehr wichtig. Im urbanen Raum sind wir außerdem besonders durch weltweite Migration herausgefordert. Menschen, die neu in unsere Stadt kommen und sich hier ein Leben aufbauen wollen, brauchen Unterstützung bei der Integration. Außerdem brauchen wir alle die Sicherheit, dass wir versorgt werden, wenn wir krank oder alt und gebrechlich sind. Es geht in allen Feldern des sozialen Lebens unserer großen Stadt um praktizierte Nächstenliebe.

Welche Erfahrungen haben Sie in der Diakonie in der Corona-Pandemie gemacht?

Die Situation in der stationären Pflege war vor allem im ersten Lockdown schrecklich. Die Pflegekräfte mussten viel aushalten. Auch in der öffentlichen Diskussion. Die Pflegeheime wurden für Besucher*innen geschlossen, und die Gesellschaft sprach vom „einsamen Sterben“. Das war furchtbar für die Pflegekräfte. Sie waren ja für die Bewohner*innen da, auch wenn die Angehörigen nicht rein konnten. Kinder und Jugendliche haben wahnsinnig darunter gelitten, nicht in die Kita oder in die Schule zu können. Ich war vor kurzem in der Wichernschule und habe dort mit Schüler*innen geredet. Manche Berichte aus Lockdownzeiten haben mich nachhaltig bewegt: Wir haben den Kindern sehr viel zugemutet. Kinder aus wohlhabenderen Familien berichteten von Einsamkeit und Isolation und davon, wie sehr sie ihre Freund*innen vermisst haben. Kinder aus ärmeren Familien erzählten eher von Enge und Stress und schlechter technischer Ausstattung. Alle Statistiken zeigen eine Zunahme von häuslicher Gewalt. Ich finde, sollten wir wieder in eine Lockdown-Situation geraten, dann muss diesmal wirklich alles andere geschlossen werden, bevor wir Kitas und Schulen schließen. Die Impfungen haben die Lage insgesamt etwas entspannt. Die Diakonie begrüßt sehr, dass es eine berufsspezifische Impfpflicht geben wird. Wer mit besonders gefährdeten Menschen arbeitet, wie zum Beispiel in Pflegeheimen, soll sich impfen lassen.

Wie stehen Sie zu einer allgemeinen Impfpflicht?

Als Diakonie sagen wir nichts zu einer allgemeinen Impfpflicht. Als Staatsbürger würde ich sie mir wünschen. Die Sorge, dass eine solche Entscheidung die Gesellschaft spaltet, halte ich für unbegründet. Ich habe gelesen, dass sich mehr als 70 Prozent der Bevölkerung eine Impfpflicht wünschen. In welcher anderen politischen Frage gibt es solch eindeutige Mehrheiten? Eine Politik, die die kleine Gruppe der Gegner*innen wichtiger nimmt als die große Mehrheit der Befürworter*innen läuft Gefahr, die tragenden Gruppen der Gesellschaft zu verlieren und selbst als entscheidungsschwach und ängstlich wahrgenommen zu werden. Unabhängig davon: Wenn Politik immer wieder den Ernst der Lage betont, aber nicht entschieden handelt, sondern moralisiert, dann werden die verschobenen Entscheidungen erbittert zwischen den Bürger*innen ausgekämpft. Die Spaltung, die dann entsteht, entsteht nicht trotz, sondern wegen der Konfliktscheu der Politik.

Haben Sie das Gefühl, dass die Corona-Pandemie zu mehr Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft geführt hat? Oder kümmerten sich letztlich alle irgendwann nur noch um sich selbst?

Meiner Erfahrung nach gibt es sehr viele solidarische Menschen. Wir haben viele engagierte Freiwillige in der Diakonie. Der Mitternachtsbus ist jede Nacht im Jahr unterwegs, alles Ehrenamtliche. Im allerersten Lockdown fuhr der Bus fünf Tage nicht. Dann hatte sich das Team sortiert und es ging weiter. Ohne die Freiwilligen wären wir nichts. Das Spendenaufkommen im vergangenen Jahr war großartig, deutlich höher als jemals zuvor. Es sieht so aus, als würden wir diesen Wert dieses Jahr wieder erreichen. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft sehr viel besser ist, als wir oft denken.

Sie sind nicht nur Diakonie-Chef, sondern auch Herausgeber der Straßenzeitung Hinz&Kunzt. Was könnte eine so reiche Stadt wie Hamburg besser machen, um Obdachlosigkeit zu bekämpfen?

Eines ist klar: Bezahlbares Wohnen ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Ich finde es erschreckend, wenn auch unsere Mitarbeiter*innen, zum Beispiel Pflegekräfte, keine bezahlbaren Wohnungen in der Stadt finden. Es ist eines der großen Verdienste der Regierungszeit von Olaf Scholz, dass er das Thema erkannt hat und angegangen ist. Man könnte es aber noch entschiedener machen. Ein Drittel Sozialwohnungen bei Neubauten ist schön und gut, derzeit hätten aber 50 Prozent der Bevölkerung Anspruch auf eine Sozialwohnung. Ich wünsche mir, dass man zum gemeinwohlorientierten Bauen im großen Stil zurückkehrt. Wohnen ist ein Menschenrecht, und wir müssen die Versorgung mit Wohnraum zumindest teilweise den Gesetzen des Marktes entziehen, wenn es nicht anders funktioniert.

Dieses Interview erscheint an Heiligabend. Was ist für Sie die zentrale Botschaft des Weihnachtsfests?

An Weihnachten geht es um die unverbrüchliche Würde des Menschseins. Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, wird in einer Krippe geboren. Gott wird Mensch, ja sogar ein armer Mensch. Er wird wie wir und dadurch werden wir wie er. Diese Würde kann keinem Menschen genommen werden. Da wird auch unsere permanente Selbstoptimierung infrage gestellt: Wir wollen ständig schneller, gesünder, schöner und klüger werden und zumindest ein besserer Mensch werden. Zu Weihnachten wird das alles vom Kopf auf die Füße gestellt: Für Gott musst du nicht in jeder Hinsicht besser werden. Wenn du Gott begegnen willst, dann werde einfach Mensch. Du findest Gott nicht in einem Palast, sondern in einer Krippe im Stall. Die Weihnachtsgeschichte ist ganz schön subversiv, wenn man sie von dem ganzen Kitsch befreit.

Wie planen Sie, in diesem Jahr Weihnachten zu feiern?

Am 24. feiere ich zunächst einen Gottesdienst im Diakoniezentrum für Wohnungslose mit anschließendem Mittagessen. Danach holen wir die Enkel mit Familie zu uns, und es gibt Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Anschließend treffen wir uns vielleicht noch mit Freunden. Am 1. Weihnachtsfeiertag fahren wir zu meiner Schwester und meiner Mutter nach Kattenvenne in der Nähe von Osnabrück.

Bitte ergänzen Sie...

An Weihnachten singe ich am liebsten… Hört der Engel helle Lieder.

Wir essen an Heiligabend… Hühnchen mit Reis in Erdnusssoße.

Die schönste Kirche in Hamburg ist für mich… der Michel.

Wenn ich Erster Bürgermeister wäre, würde ich… versuchen, intensiver auszuloten, welche Möglichkeiten es für Wohnungsbau außerhalb der Marktmechanismen gibt.

Mein liebster Ort in Hamburg ist... die Alster.

Sobald die Corona-Pandemie vorbei ist... feiere ich ein großes Fest mit all meinen Freund*innen.

Zur Person

Dirk Ahrens kam 1963 in Goslar zur Welt und machte 1983 sein Abitur in Celle. Nach dem Theologiestudium in Hermannsburg startete er zunächst eine Doktorarbeit in Wien, um schließlich nach Greifswald zu ziehen. Dort arbeitete er als Vikar und bildete Kirchenmusiker und Religionslehrkräfte aus. 2001 zog er nach Hamburg, wo er als Pastor ordiniert wurde, bevor er schließlich 2009 zur Diakonie wechselte – zunächst als Vorsitzender des Diakonie-Hiifswerks, dann ab 2014 als Vorstandsvorsitzender der Organisation. Dirk Ahrens ist verheiratet, hat einen Adoptivsohn und lebt in Hamburg-Winterhude.

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