Nordisch und naturnah: Siegel in Stade strickt an seiner Zukunft

Ein Mann zwischen Kapitalismus und Hippie -Dasein: Frank-Karl Siegel, Chef und auch Arbeiter in der eigenen Strickfabrik. Fotos Strüning (3)
Karl-Frank Siegel, gerade 60 geworden, ist seit 30 Jahren Chef der Karl-Siegel-Strickmanufaktur in Stade. Und darum ein Kapitalist, wie er selbst sagt. Spannend machen ihn seine „hippiesken Einstellungen“, wie er gleich nachschiebt. Ein Besuch in der etwas anderen Strickerei.
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Eigentlich lebt er von konservativer Mode für die gepflegte Dame unter dem Label „Seepferdchen“. Eine ganz andere Marke geht zurzeit durch die Decke. „Rymhart“, ehrliche Woll-Troyer, fein gestrickt und derb zugleich.
"Rymhart“ wird eigentlich Rümhart geschrieben. Das kommt aus dem Friesischen und heißt so viel wie „weites Herz“. „Rümhart, klar Kimming“, rufen sich im Friesischen nicht nur die Seeleute zu. Es ist ein Lebensmotto: Großes Herz, klarer Blick oder auch klarer Horizont. Das nordische Gefühl sollen auch die Strickwaren aus der Stader Produktion vermitteln. Authentisch, lässig, wetterfest, im besten Fall eine Freundschaft fürs Leben.
Karl-Frank Siegels Liebe zum Strick blühte spät auf. Er lernte Tischler, sah zu, dass er Stade früh hinter sich lassen konnte. Im Sommer war er in Sachen Denkmalschutz unterwegs, im Winter baute er für ein Bio-Label Gewürz-Trocknungsmaschinen. Zehn Jahre lebte er auf Korsika; bis die Familie ihn rief.
Der Junior übernahm den Laden, den es seit 1946 gibt, setzte seine Ideen um. Sein „Vater hatte immer einen Benz und wir immer Butter auf dem Brot“, sagt er heute rückblickend und mit einem Schmunzeln. Status-Symbole sind ihm nicht wichtig. Siegel Junior trägt gebrauchte Klamotten, sein Büro sieht aus wie eine Werkstatt mit leicht musealem Touch.
Handarbeit: Ein Pullover wird zurechtgeschnitten.
Von hier aus dirigiert er 30 Mitarbeiter. „Die sind alle klasse, ich liebe sie“, sagt er mit fester, nahezu inbrünstiger Stimme. Der Mann mit den Tischlerhänden liebt aber auch feine Garne aus Italien. Gefühlvoll lässt er im Lager die bunten Fäden durch seine Finger gleiten. „Die Italiener machen tolle Sachen“, sagt er dabei etwas gedankenverloren. Sie veredeln die Wolle, die aus Argentinien kommt. Die hätten von Rinderzucht auf Schafe umgestellt. Früher kam der Rohstoff aus Australien.
Die Globalisierung ist längst auch in Stade angekommen. Siegel: „Das Rad dreht sich immer schneller.“ Zweimal im Jahr gibt Seepferdchen eine neue Kollektion nicht nur für die ältere Dame heraus. Siegel hat eigene Designer. Deren Computer sind mit den Strickmaschinen gekoppelt. Mehr als 80 000 Teile werden produziert. Siegels Strickwaren hängen dann mit den Billig-Produkten aus der Ukraine oder Bangladesh in den Läden, Ständer neben Ständer. „Die zahlen einen Euro für einen 12-Stunden-Tag“. Siegels Abneigung ist hörbar, zum einen als kapitalistisch denkender Geschäftsmann, der die Konkurrenz fürchten muss, zum anderen als Mensch mit sozialistischem Gedankengut.
Er hält dagegen. Seine Mitarbeiter können sich ihre Arbeitszeit frei einteilen. „Die meisten kommen früh“, sagt er. Nur der Buchhalter nicht. Der ist sich dafür auch nicht zu schade, Pakete mit Ware für den Postweg zu bearbeiten, bevor er sich wieder um Außenstände kümmern muss. Karl-Frank Siegel übernahm vom Vater so etwas wie eine Lohnstrickerei. Er selbst stellte Vertrieb und Inkasso auf die Beine. A und O für ihn ist das Betriebsklima. Siegel selbst steht am Wochenende an der Strickmaschine und reiht sich auch schon mal in die normalen Schichten ein. Der Ton untereinander ist entspannt, die Stimmung respektvoll und freundlich. Die Idee geht auf: „Der Krankenstand bei uns ist gleich Null.“ Liegt vielleicht auch am Betriebssport, der immer montags angeboten wird.
Die Näherei: Ein Troyer liegt zur Reparatur parat.
Jedes Jahr neue Ware, neue Farben, neue Schnitte. Siegels Ding ist das nicht so wirklich. „Eigentlich haben wir Bock auf Öko und Nachhaltigkeit“ – weg von der „Ressourcen-Verballerei“. Rymhart war geboren. Karl-Frank Siegel war der Geburtshelfer. Als Segler wollte er eine ordentliche Klamotte und tüftelte an den eigenen Strickmaschinen, bis der Troyer seinen Ansprüchen genügte. Er versorgte Familie, Freunde, hängte die ersten Modelle in den Fabrikverkauf. Rymhart sprach sich herum. Spätestens, als die Zeitschrift „Die Jagd“ die dicken Pullover in seinem Online-Adventskalender anpries und die NDR-Nordtour den Geheimtipp übers Fernsehen herausposaunte, war die Marktnische besetzt.
Neue Farben als nur marine-blau oder anthrazit kamen ins Spiel, Pullover mit Kapuze, Jacken und Mützen vervollständigen die Kollektion. Ein Sommer-Pullover ist in Arbeit. Jeder Troyer bekommt eine Seriennummer. Bei gut 11 000 ist Siegel mit seinem Team schon. Wer sich eines der großen Teile erwirbt, hat Garantie nahezu auf Lebenszeit. Die Firma Siegel repariert die Rymharts, das ist inklusive. Wenn die nicht mehr passen, werden sie zurückgenommen, aufbereitet und als Gebrauchte verkauft. Auch die sind ein Renner. Die Strickware hat ihren Preis. Ein Troyer kostet 199 Euro.
Der Vertrieb läuft nur übers Internet oder den Direktverkauf ab Fabrik. So können die Rymhartrianer, wie Siegel sie nennt, den Kontakt zum Kunden halten, eine Art Familiengefühl entwickeln, wozu im Übrigen auch Jürgen Drews gehört. Die entsprechende Autogrammkarte hat sich Siegel ans Regal geheftet.
Er ist überzeugt von seiner Ware: „Das ist ein Super-Produkt, genial wie die Wolle klimatisiert.“ Siegel meint das nicht marktschreierisch, sondern ehrlich. Er spielt gerne mit der Idee der ökologischen Nachhaltigkeit. „Wir wollen die Welt ein kleines Stückchen besser machen.“ Versteht sich von selbst, dass Greenpeace und Nabu unterstützt werden. So weit das Globale. Individuell runtergebrochen heißt das für Siegel: Jeder sollte einen haben. Er hält kurz inne und denkt nach. Ein Lächeln huscht – wie so häufig – über sein Gesicht: „Aber nicht jeder hat einen verdient.“

Die Zielgruppe der „Rymhart“-Linie: Moderne Menschen mit Sinn für Nachhaltigkeit, haltbare Troyer und Hoodies in dezenten Farben gehören dazu. Fotos: Rymhart (2)