Politik will den Pflegeplatz für alle – Das hat Folgen

Anfang 2022 eingeführte Entlastungszuschläge für Pflegeheimbwohnerinnen und -bewohner sollen zum 1. Januar 2024 erhöht werden. Foto: dpa
Ein allgemeiner Rechtsanspruch soll die Lage in den Altenheimen verbessern. Zwar bringt die Pflegereform Entlastungen, aber auch teils höhere Beiträge - und das schon bald.
Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!
Von Hagen Strauß
Die Lage in der Altenpflege ist zum Teil dramatisch. Jetzt preschen die Arbeitgeber vor, um den Druck auf die Politik zu erhöhen: Ein Rechtsanspruch für alle auf einen Pflegeplatz soll die Situation in den Heimen verbessern.
Kinder ab einem Jahr haben Anspruch auf einen Kitaplatz. Bei erfolgloser Suche können Eltern ihn gerichtlich einfordern oder Kostenerstattung für alternative Betreuungsmodelle fordern. Warum nicht auch ein solches Modell in der Pflege einführen? Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) macht sich dafür jetzt stark. Begründung: Dann könnten sich die politisch Verantwortlichen nicht länger wegducken.
„Die Lage in der Altenpflege ist ernst“, so AGVP-Präsident Thomas Greiner zu unserer Redaktion. Die Kosten explodierten, die Personallage sei angespannt „und zahlreiche Pflegeheime stehen vor der Insolvenz“. Darüber hinaus blieben Betten leer, „weil sie wegen des Personalmangels bei gleichzeitig rigiden Personalvorgaben nicht belegt werden dürfen. Leidtragende sind Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, die verzweifelt einen Heimplatz suchen“, so Greiner. „Statt mit Gesetzen Pflege zu verhindern, brauchen wir ein Gesetz, das Pflege sichert. Deshalb fordern wir einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf einen Pflegeheimplatz.“
So viele Pflegebedürftige gibt es in Deutschland
Derzeit gibt es in Deutschland rund fünf Millionen Pflegebedürftige. Die Barmer prognostizierte in ihrem Pflegereport einen Anstieg bis 2030 auf sechs Millionen. Hierzulande gibt es demnach rund 16.000 Heime, die 793.000 Menschen versorgen. Bis 2030 fehlen schätzungsweise 293.000 stationäre Plätze. Laut einer Studie des Spitzenverbandes Zentraler Immobilienausschuss (ZIA) sei jedes Jahr der Bau von 210 bis 390 Heimen erforderlich, um den Bedarf zu decken. Die wirtschaftliche Lage deutscher Pflegeheime hat sich zudem seit dem Jahr 2016 stetig verschlechtert, so der Arbeitgeberverband.
Pflegereform bringt Entlastungen und teils höhere Beiträge
Daher jetzt der Vorstoß. Als Vorbild für den Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz nannte Greiner das Recht auf einen Kitaplatz. Er soll garantieren, dass Kommunen trotz Fachkräftemangels die flächendeckende Versorgung mit Kitaplätzen sicherstellen. Und er zwinge die Politik, tätig zu werden, wenn eine Krise der Versorgung drohe, so der Präsident. Genau das sei auch für die Altenpflege notwendig: „Wer Schutz und Hilfe benötigt, bekommt sie – das sollte ungeachtet des Alters gelten. Ein Rechtsanspruch auf einen Pflegeheimplatz würde den politischen Druck erhöhen, die enormen Herausforderungen in der Altenpflege beherzt anzupacken, statt sie zu ignorieren und abzumoderieren, wie dies im Moment geschieht.“
Die Ampel-Koalition will jetzt zumindest mehr Pflegekräfte aus Ländern mit großem Arbeitskräftepotenzial wie etwa Brasilien anwerben. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will deshalb im Juni gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Brasilien reisen. Der Bundestag wird sich zudem in dieser Woche erneut mit der Pflegereform der Ampel beschäftigen. Sie sieht vor, Pflegebedürftige zu entlasten und die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung zu stabilisieren. Zum 1. Juli 2023 soll der Pflegebeitrag um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens angehoben werden, was Mehreinnahmen von rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr bringen soll. (wil/dpa)
Ein Überblick über Kernpunkte der Pflegereform:
- Pflege zu Hause: Das zuletzt 2017 erhöhte Pflegegeld soll laut Entwurf zum 1. Januar 2024 um fünf Prozent steigen, genauso wie die Beträge für Sachleistungen. Pflegegeld gibt es als Unterstützung, wenn Pflegebedürftige nicht in Einrichtungen leben. Sie können es frei nutzen, etwa für Betreuung. Je nach Pflegegrad sind es zwischen 316 und 901 Euro im Monat. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz monierte, die mehr als vier Millionen daheim versorgten Menschen würden weiter im Stich gelassen. Ein Pflegegeld-Plus von nur fünf Prozent stehe „nicht ansatzweise im Verhältnis zur Kostenexplosion” in den vergangenen fünf Jahren, sagte Vorstand Eugen Brysch.
- Pflege im Heim: Anfang 2022 eingeführte Entlastungszuschläge für Bewohnerinnen und Bewohner sollen zum 1. Januar 2024 erhöht werden. Den Eigenanteil für die reine Pflege soll das im ersten Jahr im Heim um 15 statt bisher 5 Prozent drücken, im zweiten Jahr um 30 statt 25 Prozent, im dritten um 50 statt 45 Prozent und ab dem vierten Jahr um 75 statt 70 Prozent. Hintergrund ist, dass die Pflegeversicherung - anders als die Krankenversicherung - nur einen Teil der Kosten für die reine Pflege trägt. Im Heim kommen dann auch noch Zahlungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen dazu.
- Beiträge I: Der Pflegebeitrag liegt aktuell bei 3,05 Prozent des Bruttolohns, für Menschen ohne Kinder bei 3,4 Prozent. Zum 1. Juli soll er erhöht werden, und zwar in Kombination mit Änderungen wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Demnach muss mehr danach unterschieden werden, ob man Kinder hat oder nicht. Alles in allem soll der Beitrag für Kinderlose damit auf 4 Prozent steigen und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent. Der darin enthaltene Arbeitgeberanteil soll von nun 1,525 Prozent auf 1,7 Prozent herauf. Lauterbach sagte, damit komme man durch diese Legislaturperiode. Es könne so jedoch nicht weitergehen. Daher soll sich eine Kommission mit Überlegungen für ein längerfristiges Finanzkonzept befassen.
- Beiträge II: Konkret soll der Pflegebeitrag für größere Familien für die Dauer der Erziehungsphase bis zum 25. Geburtstag des jeweiligen Kindes deutlicher gesenkt werden - und zwar schrittweise je Kind. Ab zwei Kindern müsste damit - bezogen auf den Arbeitnehmeranteil von derzeit 1,525 Prozent - weniger gezahlt werden als heute. Bei zwei Kindern soll der Arbeitnehmeranteil künftig 1,45 Prozent betragen, bei drei Kindern 1,2 Prozent, bei vier Kindern 0,95 Prozent und bei fünf und mehr Kindern 0,7 Prozent. Ist ein Kind älter als 25 Jahre, entfällt „sein” Abschlag. Sind alle Kinder aus der Erziehungszeit, gilt dauerhaft der Ein-Kind-Beitrag, auch wenn man in Rente ist.
- Die Reaktionen: Die mitregierenden Grünen meldeten für die Beratungen im Bundestag prompt Nachbesserungsbedarf an. Man müsse feststellen, dass der Finanzminister verhindert habe, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in notwendiger Höhe entlastet werden, kritisierten die Fachpolitikerinnen Maria Klein-Schmeink und Kordula Schulz-Asche. Im Koalitionsvertrag vereinbarte Steuermittel für gesellschaftliche Aufgaben stünden nicht bereit. Unions-Experte Tino Sorge (CDU) warnte vor einem Finanzkollaps. Seit Monaten blockierten sich Lauterbach und FDP-Finanzminister Christian Lindner. Die Pflegekassen beklagten, mit dem vorliegenden Entwurf springe die Regierung deutlich zu kurz.
- Die Lieferengpässe: Um Ausfälle wichtiger Arzneimittel zu vermeiden, will Lauterbach bestimmte Preisregeln lockern. Das soll Lieferungen nach Deutschland attraktiver machen. Bei Kindermedikamenten sollen Hersteller den Preis um bis zu 50 Prozent heraufsetzen dürfen. Zudem sollen europäische Hersteller - angefangen bei Antibiotika - stärker zum Zug kommen. Geplant sind auch Vorgaben zu mehrmonatigen Vorräten als Sicherheitspuffer. Mit anderen Maßnahmen dürfte das Gesetz die gesetzlichen Kassen einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag mehr kosten, wie der Minister schätzte. Die Linke kritisierte, er knicke vor der Pharma-Lobby ein. Engpässe gab es zuletzt im Winter etwa bei patentfreien Medikamenten wie Fiebersäften für Kinder.