Rudi Kargus: „Fußball war mein erstes Leben“

Rudi Kargus zeigt noch bis zum 11. September 40 Werke seiner Werke im Stader Kunsthaus. Foto: Ertel
Von HSV-Idol zum Künstler: Der ehemalige Torwart spricht im Interview über seine neue Leidenschaft und den Ausstieg aus dem Fußball-Zirkus.
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Von Manfred Ertel
TAGEBLATT: „Ich ist ein Anderer“ lautet der Titel Ihrer ersten ganz großen Ausstellung in Stade. Ist das eigentlich auch biografisch gemeint nach der Zeit als Fußballer?
Rudi Kargus: Natürlich ist damit auch der Anklang zu meinem zweiten Leben gemeint. Das erste Leben war Fußball, das zweite ist die Kunst. Aber der Titel ergibt sich eigentlich aus verschiedenen Komponenten. Denn es gibt für mich auch eine starke Verbindung zur Literatur. Kurz vor der Ausstellung habe ich noch ein Buch des norwegischen Autors Jon Fosse mit dem gleichen Titel gelesen, der von zwei Malern handelt, mit demselben Vornamen aber völlig unterschiedlichen Eigenschaften. Zurück geht der Titel tatsächlich auf den französischen Dichter Arthur Rimbaud, der Ende des 19. Jahrhunderts unter der Formel versuchte, sein exzentrisches Leben mit seiner Sehnsucht nach Entgrenzung und ästhetischer Kompromisslosigkeit in der Kunst zu vereinen. So sind wir mit dem Kunsthaus Stade auf den Ausstellungstitel gekommen. Der passt.
Haben Sie sich als Fußballer wie in einem falschen Leben gefühlt?
Nein, Fußball war mein erstes Leben. Das war mein Kindheitstraum und das war schon richtig, dass ich mir den erfüllt habe. Aber das ist für mich ein völlig abgeschlossener Zeitabschnitt meines Lebens. Die Kunst ist das Jetzt.
Was bedeutet die Ausstellung in Stade für Sie?
Es ist die erste in einem musealen Rahmen, im Gegensatz zu anderen vorher in Galerien. Das ist noch mal ein großer Schritt und für mich deshalb die vielleicht bedeutsamste Ausstellung. Auch wenn das irgendwie meistens für die jeweils aktuelle gilt.
Auf so eine große Ausstellung haben Sie lange gewartet. Hatten Sie zwischendurch auch mal Zweifel an Ihrer Entscheidung für die Kunst bekommen haben?
Nein, so darf man das auch nicht sehen. Die Wahrnehmung meiner Kunst durch Ausstellungen war ja eine stetige Entwicklung. Von der einen oder anderen kleineren Präsentation zu größeren Ausstellungen in Galerien und hat sich das ständig weiterentwickelt. Stade ist jetzt ein temporärer Höhepunkt. Das Ganze ist im ständigen Fluss.
Wie wichtig sind für Sie öffentliche Wahrnehmung und Gemäldeverkäufe?
Ich male nicht, um Bilder zu verkaufen. Das ist nicht mein erster Antrieb. Das würde auch nicht funktionieren. Gleichwohl ist es gut, ab und zu eine Ausstellung zu haben, wahrgenommen zu werden und auch ab und zu ein Bild zu verkaufen. Aber mein erster Antrieb ist die Leidenschaft für die Malerei. Die Ausstellung in Stade ist wirklich wichtig und für mich schon ein Meilenstein. Trotzdem war es nach der ganzen Zeit der Vorbereitung das tollste Erlebnis, wieder ganz allein im Atelier zu stehen. Bei allem bleibt das die Basis. Die Malerei ist für mich die beste Möglichkeit, mich auszudrücken. Malen hat mich irgendwann vollkommen angefixt.
Wir sind vom Fußball einiges gewohnt, aber wie kommt ein erfolgreicher Profi nach Karriereende ausgerechnet zur Malerei?
Während des Fußballs war die für mich in keiner Weise ein Berührungspunkt. Irgendwann nach meiner aktiven Zeit hatte ich eine Auszeit, weil ich nach einer Operation in der Reha war, und machte mir Gedanken über meine Zukunft. Da wurde mir bewusst, dass ich 35 Jahre meines Lebens in der Kategorie Fußball gedacht habe und endlich andere Dinge an mich ranlassen wollte. Ich habe mich danach ausprobiert, habe viel gelesen, bin gereist, ins Theater gegangen. Und habe dann auch mal gemalt. In Spanien bei einem Künstler bekam ich das erste Mal einen Pinsel in die Hand. Das war künstlerisch eigentlich unbedeutend, hat sich aber ganz gut angefühlt. Ich hätte auch gern ein Instrument gelernt, Klavier oder Gitarre, und habe Keyboard probiert. Das hat sich grausam angehört und ich habe gemerkt, das ist nur Kampf. Das war mit der Malerei anders.
Sie haben als Spieler und Nachwuchstrainer überaus erfolgreich gearbeitet. Warum haben Sie sich trotzdem vom Fußball verabschiedet?
Es gab nicht den einen Moment, in dem ich die Entscheidung getroffen habe. Ich war ja noch fünfeinhalb Jahre beim HSV hauptamtlicher Cheftrainer im Jugendbereich. Das ist für den Verein eine sehr lange Zeit und große Kontinuität (lacht), von der heute so viel gesprochen wird. Und habe in der Zeit bekannte Spieler hervorgebracht. Trotzdem bin ich 1996 einer Säuberungsaktion zum Opfer gefallen, eher als eine Art Kollateralschaden, als wieder mal ein Trainerwechsel bei den Profis anstand. Das war für mich ein entscheidender Moment.
Bedauern Sie manchmal angesichts der Summen, die auch Trainer und Assistenten heute im Fußball verdienen, dass Sie nicht mehr dabei sind?
Nein, das kann ich reinen Gewissens sagen. Über die Malerei habe ich einen Zufriedenheitsstatus erreicht, der für mich jetzt und erst recht im Alter das höchste Gut ist. Das Finanzlastige im Fußball, der ganze Kommerz, das ist kein Anreiz mehr für mich. Ich war einmal etwas wehmütig, als ich das erste Mal ins neue HSV-Stadion im Volkspark kam. Da habe ich gedacht, wow, hier hätte ich gern mal gespielt in dieser Atmosphäre. Ich kannte ja nur die alte Betonschüssel. Aber das ganze Drumherum im modernen Fußball stört mich. Diese Orchestrierung der Fan-Kultur mit Einpeitschern nervt mich. Als Spieler eine halbe Minute nach Abpfiff Rede und Antwort zu stehen auf Fragen wie „warum konnte der Fehler passieren?“, das wäre für mich ein Albtraum. Jede Zeit schult eben ihre Leute.
Trotzdem lässt auch den Maler Rudi Kargus der Fußball nicht los und Sie sind sogar einem Ruf des Deutschen Fußball-Bundes gefolgt.
Der DFB und das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund hatten mich zum Bau des Museums gebeten, ein Bild dafür zu malen. Das einzige Mal, das ich ein Auftragsbild gemalt habe, das mache ich sonst nicht: Ein großformatiges Bild, das heute noch im Museum hängt. Es zeigt eine abstrahierte Kampfszene aus dem Fußball. Wenn man Malerei ernsthaft betreibt, speist sich die eigene Kunst immer aus dem, was man in sich trägt: das Erlebte, das Gefühlte. Und da gibt es natürlich das alte Fußballleben in mir.
Eine Gemälde-Serie trägt den Titel „Zerberus“. Haben Sie da mehr an den dreiköpfigen Hund der griechischen Mythologie gedacht oder an den Titel, den ihnen die Medien als „Elfmeterkiller“ damals verliehen haben?
Das wissen eigentlich nur noch wir Älteren. Von denen die heute 35 oder 40 Jahre alt sind bringt niemand Zerberus mit Fußball in Verbindung. Die Serie, die in Stade hängt, hat tatsächlich diesen Namen und ist entstanden, indem ich aus alten Kampfszenen und Sportfotos Collagen gebaut habe in Verbindung mit klassischer Malerei. Ich habe versucht daraus neue Wesen entstehen zu lassen. Die Serie dokumentiert für mich noch mal eine künstlerische Weiterentwicklung. In den ersten Jahren meiner Malerei war die Nahtstelle zwischen Fußball und Kunst für mich immer ein bisschen schwierig. Irgendwann habe ich damit meinen Frieden gemacht und kann jetzt ganz offensiv mit meiner Vergangenheit umgehen.
Wissen Sie eigentlich noch, wie viele Elfmeter sie gehalten haben und welchen Status diese Leistung bis heute hat?
Das haben wohl mal Journalisten gezählt und daher weiß ich in der Tat, dass es wohl 23 oder 24 sind und es wohl nach wie vor der Rekord ist. Der wird wahrscheinlich auch schwergebrochen werden, weil die meisten Torhüter heutzutage ja gar nicht mehr so lange spielen. (lacht)
Signieren Sie ihre Gemälde eigentlich wirklich nicht?
Das ist ein Fehler in der Berichterstattung. Tatsächlich ist es so, dass jedes Bild von mir auf der Rückseite signiert ist, zusammen mit dem Titel und dem Entstehungsjahr. Das ist nicht außergewöhnlich, das machen viele Künstler. Bei mir hing das aber schon ein bisschen mit dem Fußball zusammen, weil ich bei der Signatur immer mein Fußball-Autogramm gesehen habe und das hat mich immer gestört. Und würde das im Bild auch nach wie vor störend finden.
Was war der Grund, dass Sie nach den vielen Stationen als Fußballer wieder in den Norden zurückgekehrt sind?
Als die Entscheidung anstand, war das tatsächlich eine ganz schwierige Entscheidung. Ich war damals grad in Köln unter Vertrag, hatte in Nürnberg noch ein Haus, in das ich aber nicht mehr zurückwollte. Ich war nach zehn Jahren Hamburg und HSV zehn Jahre im ganzen Land herumgesprungen. Da verliert man die Wurzeln. Ich wusste nicht mehr, wo ich hingehöre. Das war schwierig. Gottseidank wollte meine Frau, obwohl sie nicht aus Hamburg ist, hierhin zurück. Heute weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war und Hamburg neben meiner Geburtsstadt Worms meine Heimat ist.
Haben Sie beim Malen eigentlich auch eine Macke wie beim Fußball mit der Auswahl Ihrer Handschuhe, in die Sie dann gespuckt haben?
Wieder so eine falsche Geschichte, die mir dauernd begegnet: dass ich angeblich immer fünf paar Handschuhe auf dem Platz ausprobiert hätte. Das habe ich nie im Leben gemacht. In die Handschuhe habe ich sicher gespuckt, aber das haben viele Torhüter gemacht und tun das wahrscheinlich auch heute noch. Damals war es jedenfalls besser für die Griffigkeit, wenn die Handschuhe innen etwas klebrig waren. Das hatte aber nichts mit einer Zauberwelt zu tun. Und beim Malen, brauche ich die schon gar nicht.
Bitte ergänzen Sie...
Wenn ich mal nicht male... dann lese ich sehr viel, gern anspruchsvolle Romane.
Bekanntheit als Künstler... ist mir nicht egal, das wäre vermessen. Ich freue mich schon sehr, wenn meine Bilder gut hängen und auch Leute kommen. Das ist Bestätigung für meine Arbeit, aber noch wichtiger ist mir die Arbeit selbst.
Mir Kritiken umgehen... konnte ich als Spieler sehr schlecht. Ich hoffe, dass ich das heute als Maler besser kann, wenn sie fundiert ist.
Die Fußball-WM in Katar... werde ich wohl im Fernsehen gucken, denn Welt- oder Europameisterschaften haben mich immer interessiert. Dass die in einem Land stattfindet, das derartig schlecht mit Menschenrechten umgeht, und dazu in klimatisierten Hallen, finde ich eine Vollkatastrophe.
Frauen-Fußball... ist viel, viel besser geworden, schaue ich aber trotzdem viel weniger als Männer-Fußball, das muss ich gestehen.
Zur Person: Der HSV war 1971 die erste Profistation für den in Worms geborenen Fußball-Torwart. Und zugleich seine erfolgreichste. Zehn Jahre kickte er für den HSV in 254 Bundesliga-Spielen, wurde mit ihm Deutscher Meister, Pokalsieger und Europapokalsieger. Drei Mal wurde Kargus in die Nationalmannschaft berufen, er stand im Nationalkader zur EM in Jugoslawien sowie der WM in Argentinien. Zu größtem Ruhm kam er jedoch als „Elfmetertöter“. 23 Strafstöße parierte er nach offiziellen Statistiken in seiner Laufbahn, so viel wie kein anderer seiner Nachfolger mit großen Namen. Vom HSV ging er zum 1. FC Nürnberg, später noch nach Karlsruhe, Düsseldorf und Köln. Nach seiner aktiven Zeit machte er den Fußballlehrer an der Sporthochschule Köln und schnitt als Lehrgangsbester ab.
Unmittelbar vor den Toren Hamburgs in einem alten Bauernhof zwischen Norderstedt und Quickborn fand er seine neue Berufung: Das Malen. Mit breitem Pinsel in Öl auf Leinwand lässt er fließende Formen entstehen, die er „expressive und zeitgenössische Malerei“ nennt. Seine meist großformatigen Bildkompositionen sind oft autobiographisch inspiriert. Er nutzt Bildfragmente, private Fotografien oder Zeitungsartikel, fügt sie zu Collagen zusammen und baut sie dann malerisch aus. Passend zu seinem 70. Geburtstag am 15. August zeigt er seit einigen Wochen 40 seiner Werke im Kunsthaus Stade in seiner bislang umfassendsten Ausstellung. Sie dauert noch bis zum 11. September.
