Sandra Norak: Eine Ex-Prostituierte klagt an
Sandra Norak wurde als Jugendliche von einem Loverboy in die Prostitution gelockt. Foto: Richter
Prostitution ist keine normale Arbeit. Sie ist ein Geschäft, mit dem Kriminelle viel Geld verdienen können und das Frauen entwürdigt und erniedrigt: So beginnt Sandra Norak ihren Vortrag vor 150 Schülern der IGS Stade. Sie spricht aus Erfahrung.
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Die 15- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schüler hören gespannt zu, als Sandra Norak ihre Geschichte erzählt, die hier sehr verkürzt wiedergegeben wird: Sie war 16 Jahre alt, als sie einen „Loverboy“ kennenlernte. Oft sind das junge Männer, die Mädchen glauben machen, dass sie die große Liebe gefunden haben und sie später in die Prostitution drängen. In Noraks Fall war der Mann – zunächst eine Internet-Bekanntschaft – 20 Jahre älter als sie. Ihr Vater hatte die Familie früh verlassen, die Mutter war psychisch krank. Der Mann nahm sich viel Zeit, um ihr Vertrauen zu gewinnen und eine Beziehung aufzubauen.
Als sie nach vielen Wochen anfingen, nicht nur zu chatten, sondern sich auch persönlich zu treffen, ging es zunächst nie um Prostitution – bis er sie eines Tages zum Kaffeetrinken mit in ein Bordell nahm. Sie fühlte sich unwohl. „Sei doch nicht so prüde. Das ist ein ganz normaler Job“, habe er gesagt. Erst viele weitere Treffen später erzählte er ihr von angeblichen Schuldenproblemen und Ärger mit einer Rockerbande.
Als sie sich darauf einließ, anzuschaffen, um ihren Geliebten zu retten, dachte sie zuerst, es wäre nur für zwei Wochen. Es sollte sechs Jahre dauern, in denen sie in verschiedenen Formen von Bordellen arbeitete, bis ihr 2014 der Ausstieg gelang.
Anschließend durften die Schüler ihre Fragen an die heute 30-jährige Sandra Norak stellen; hier eine Auswahl und die Antworten dazu.
Wie war der Ausstieg, wie haben Sie das geschafft?
„Ich hatte einen Zusammenbruch, ich konnte einfach nicht mehr und war nicht mehr lukrativ. Dann ist man schnell weg, und der Zuhälter holt sich neue, jüngere Mädchen. Ich hatte die 13. Klasse am Gymnasium abgebrochen und stand mit nichts da, ohne Abi und ohne Ausbildung. Bei meinen Bewerbungen als Tierarzthelferin oder Sozialarbeiterin konnte ich die sechs Jahre Lücke im Lebenslauf nicht erklären. Schließlich habe ich ein Praktikum als Tierpflegerin im Nürnberger Zoo bekommen, aus dem sich erst ein Minijob und später eine Stelle als Tierarzthelferin ergab. Nachts arbeitete ich zuerst weiter in der Prostitution, um die Kosten zu decken, trotz Panikattacken und Herzrasen. Dann habe ich mein Abitur nachgemacht und ein Jurastudium begonnen.
Wie sah der Alltag als Prostituierte aus?
„Ich wurde in verschiedene Bordelle gebracht, auch in ein Flatrate-Bordell, was heute verboten ist. Von 140 Euro Eintritt bekommen die Betreiber erst mal die Hälfte, von dem Rest dürfen die Freier so oft mit verschiedenen Mädchen aufs Zimmer gehen, wie sie wollen. Gehen sie sieben Mal, bleiben nur 10 Euro für jede übrig – aber davon kassiert auch noch der Zuhälter etwas. Eine Zeit lang habe ich in einem Bordell mit Nachtbetrieb gewohnt. Ich wusste nicht, ob Tag oder Nacht, ob Winter oder Frühling war. Mit Leben hatte das nichts zu tun.“
Gibt es heute noch Dinge, die Sie triggern?
Wie Norak zuvor erklärt hatte, bleiben viele Prostituierte schwer geschädigt, bestimmte Auslöser – Trigger – können die traumatischen Erlebnisse wieder nach vorne holen und Flashbacks auslösen. „Ich war mal bei einer Freundin, als die Türklingel ging. Der Ton war der gleiche wie der von der Klingel, die die Freier in einem Bordell benutzt haben. Ich bekam Herzrasen, habe gezittert, meine Beine waren wie gelähmt.“
Wie haben Sie das ausgehalten?
„Mit Drogen und Alkohol. Literweise, jeden Abend, jeden Tag. Alkohol betäubt nicht nur psychisch, sondern auch die körperlichen Schmerzen.
Wie viele Männer am Tag haben Sie bedient?
„Im Flatrate-Laden waren es bis zu 20, in anderen Bordellformen zwei oder drei am Tag. In dem Flatrate-Bordell waren es in einem Monat 400 bis 500, in den sechs Jahren Tausende Männer. An Namen und Gesichter kann man sich kaum erinnern – auch, weil Menschen sich bei schweren Gewalterfahrungen wegschalten.“
Können Sie das Erlebte hinter sich lassen oder bleibt ein Trauma?
Ich kann nicht hinter mir lassen, dass ich weiß, dass jeden Tag zwischen 200 000 und einer Million Frauen in Deutschland so etwas passiert. Deshalb kämpfe ich für das Nordische Modell, das Zuhälter und Freier bestraft und die Frauen entkriminalisiert.
Freier und Profiteure von Prostitution bestrafen, Prostituierte entkriminalisieren und ihnen Hilfen beim Ausstieg anbieten: Das ist das „Nordische Modell“, wie es der Ex-Prostituierten und heutigen Jura-Studentin Sandra Norak auch für Deutschland vorschwebt. Die deutsche Politik diskutiert das Thema zurzeit kontrovers.
In Schweden wurde das „Nordische Modell“ bereits 1990 eingeführt. Norwegen, Island, Kanada, Frankreich und Irland folgten. „Diese Gesetzgebung geht davon aus, dass sich die Masse der Menschen nicht für Prostitution entscheidet, sondern vor allem Menschenhandel und Zwangsprostitution passieren“, sagt Sandra Norak. Es gehe darum, den Opern zu helfen, indem die Täter bestraft werden, was auch die Nachfrage einschränke. Die schaffe den Markt und sorge dafür, dass Zwangsprostitution und Menschenhandel gedeihen.
Kritiker argumentieren, dass das Sexkaufverbot Prostitution nicht verhindere, aber Freier und Prostituierte in den Untergrund dränge und damit kriminelle Strukturen und Gewalt begünstige. Prostituierte könnten so schlechter geschützt werden.
Sandra Norak führt dazu den Polizeikommissar Simon Hägg-ström an, den sie am vergangenen Freitag getroffen hat und der in Stockholm für Prostitutionsfragen zuständig ist. Er sage, dass dieses Argument vielerorts, aber seltsamerweise nicht in Schweden zu hören sei. Wo Freier die Frauen finden könnten, finde die Polizei auch die Freier – es brauche nur ein Handy. Häggström sage auch, dass Sexkäufer wüssten, dass sie Kriminelle und dran seien, wenn die Frau nur einmal das Handy nehme und die Polizei rufe. Deshalb versuchten sie erst recht, keine Probleme zu machen.
Sandra Norak ist überzeugt, dass Gewalt in der Prostitution inhärent ist. Die Gesetzgebung in Deutschland verschleiere das nur. Außenstehenden erscheine ein Bordell, das die Polizei kontrolliere, wo sie aber nichts sehen und deswegen auch nichts tun könne, gewaltfrei, zumal die offizielle Statistik dann keine Gewalt zeige: „Ein Verbot würde aber nicht bedeuten, dass die Gewalt mehr wird, sondern nur, dass sie sichtbarer wird, so dass man sie endlich verfolgen kann.“
Sandra Norak glaubt, dass es nicht richtig und ehrlich wäre, zu behaupten, dass Prostitution und Menschenhandel durch das Nordische Modell verschwinden würden – auch in Schweden gebe es sie noch. Aber es sei dort weniger geworden, und es werde wenigstens versucht, dagegen anzugehen: „Wir können keine der Straftaten abschaffen, die wir im Strafgesetzbuch haben – nicht Mord, nicht Vergewaltigung. Aber das heißt ja nicht, dass wir sie als Gesellschaft akzeptieren und legalisieren müssen.“
Sandra Norak engagiert sich bei Sisters e.V. Mehr dazu unter https://sisters-ev.de/