Sie produzieren Armbänder aus Geisternetzen

Madeleine von Hohenthal begutachtet alte Fischernetze , die Taucher im Auftrag einer Meeresschutzorganisation geborgen haben. Aus den Netzen fertigt die Unternehmerin im großen Stil Armbänder. Fotos Bracenet
Sansibar im Jahr 2015: Madeleine von Hohenthal liegt mit ihrem Freund Benjamin Wenke am Meer. Sie könnte einfach die paradiesische Umgebung genießen. Aber die ehemalige Staderin bekommt ein Bild nicht aus dem Kopf: Riesige, herrenlose Netze über Korallen, in denen sich Schildkröten verfangen.
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Auch am Strand liegen die alten Fischernetze überall herum. Also beginnt das Paar, den Abfall einzusammeln. „Was könnte man daraus machen?“, fragen sie sich. Armbänder – beschließen sie nach dem Urlaub.
Knapp zwei Jahre nach dem Urlaub stapeln sich in Benjamins und Madeleines Wohnung in den Colonnaden in der Hamburger Innenstadt Hunderte Armbänder auf einem Schreibtisch, in der Ecke des Raumes liegt ein riesiger Sack, in dem sich ein Fischernetz befindet. Auf einem Messeaufsteller prangt der Schriftzug „Bracenet“: eine Neuschöpfung aus den englischen Wörtern Bracelet (zu deutsch Armband) und Net (Netz). Bei den beiden Hamburgern dreht sich mittlerweile alles um die Fischernetze und das Produkt, das sie daraus massenweise herstellen: Bunte Armbänder mit einem schicken Magnetverschluss, ein Modeaccessoire aus Abfall. Das Geschäft brummt, Promis werben für den Armschmuck und die Bänder sind in Internetshops und bei Messen gefragte Ware.
Zwei Wochen lang suchen sie die Küste ab. Nach der Sammelaktion leert das Paar die Rucksäcke und verschenkt die eigene Kleidung, um so viel Netz wie möglich mit nach Hause zu nehmen. Zurück in Hamburg entscheiden sie, daraus Armbänder zu fertigen. Weil diese leicht herzustellen sind, aber auch weil sie ihren Ursprung nach außen tragen. „Das Problem am Handgelenk tragen, dieser Gedanke hat uns gut gefallen. Ein Schlüsselanhänger verschwindet einfach in der Tasche“, sagt der 33-jährige Benjamin. Die positive Botschaft des Bracenets sei ihnen sehr wichtig.
Zurück in Deutschland fangen Madeleine und Benjamin an zu recherchieren: „Wir haben herausgefunden, dass diese Fischernetze ein globales Problem sind“, erläutert er. Überall wo gefischt wird, tritt das Problem auf und verursacht doppelten Schaden: Als zurückgelassener Müll verschandeln die Netze jahrhundertelang die Umwelt und darüber hinaus verfangen sich Tiere wie Seevögel, Fische, Delfine und Schildkröten darin. Im schlimmsten Fall verenden sie dabei. Auch aus der Ostsee werden solche Netze und anderer Müll tonnenweise geborgen. „Vor zwei Jahren gab es noch gar kein deutsches Wort dafür“, sagt er. Mittlerweile ist der Begriff Geisternetz gängig – auf Englisch wird das Phänomen Ghost Fishing genannt. Nach einem Report der Vereinten Nationen befinden sich schätzungsweise 640 000 Tonnen solcher Netze in den Weltmeeren, viele verfangen sich in Schiffswracks am Meeresboden.
Von der Idee über den Prototypen bis zum ersten großen Verkaufsdeal geht alles sehr schnell. Etwas zu schnell, wie beide in der Rückschau sagen. Anfangs wollen sie die Armbänder als Wochenendprojekt neben ihren Vollzeitjobs in der Werbebranche betreiben. „Wir haben den Produktionsaufwand extrem unterschätzt“, sagt Madeleine. Ein Unternehmen gründen und Kontakt zu Meeresschutz-Organisationen wie Healthy Seas, Ghost Fishing und Nofir aufnehmen, die sich um die Bergung und Reinigung der Netze kümmern, ein einheitliches Produkt gestalten, eine Webseite erstellen und den Versandhandel betreiben – das kostet Zeit. Im Oktober 2016 startet www.bracenet.net mit einem Online-Shop und schon im Mai 2017 fliegt ein Großauftrag der Telekom herein. „Wir haben nicht mehr gegessen und nicht mehr geschlafen“, berichtet Madeleine. „Es war eine schlimme Zeit.“ Der Telekommunikationsriese hatte die Armbänder auf seiner Website als Mega-Deal aufgenommen und zwei Stück zum Preis von einem angeboten. Regulär kosten die Armbänder 19 Euro pro Stück.
Ein fertiges Bracenet, hergestellt aus einem geborgenen Fischernetz. Die Knoten in den Armbändern ergeben sich aus den unterschiedlich großen Maschen der Netze und weisen deswegen unterschiedliche Abstände auf.
Um das Pensum zu schaffen, muss das junge Paar – mittlerweile sind sie verheiratet – die gesamte Familie einspannen, pro Tag kamen bis zu 40 Bestellungen. „Für ein Armband brauchen wir pro Person etwa 15 Minuten“, sagt Madeleine. Insgesamt werden in dieser Zeit Bestellungen im hohen viertstelligen Bereich abgegeben.
Mit dem Großauftrag verheben sich die Unternehmer beinahe. Letztlich gibt der Deal dem Start-up aber Auftrieb. Die Nachfrage ist weiterhin so groß, dass beide ihre festen Arbeitsplätze für ihr junges Unternehmen kündigen. „Wir hatten gut bezahlte Jobs“, verrät Madeleine. Beide haben in der Werbewirtschaft schnell Karriere gemacht und gern in der Branche gearbeitet. Madeleine als Chefin im Art Buying in einer großen Werbeagentur. Sie macht den Schritt im August 2017 als Erste und konzentriert sich auf die Selbstständigkeit. Nicht, ohne wehmütig zu sein: „Ich habe meinen Traumjob aufgegeben“, sagt sie.
Die heutige Hamburgerin war als 12-Jährige mit ihrer Familie nach Stade gezogen. Nach ihrem Realschulabschluss absolvierte sie eine Ausbildung zur Fotografin bei Photo Professional. Es folgten drei Jahre als freie Fotografin in Hamburg und eine Ausbildung als Kauffrau für Marketing und Kommunikation.
Benjamin kommt aus Nordrhein-Westfalen und ist mit 20 Jahren nach Hamburg gezogen. Bis Ende Januar 2017 war er Marketingleiter bei Bosch, auch er hat sich schweren Herzens von seinem Job getrennt.
Die Motivation hinter ihrer Unternehmung ist laut Benjamin und Madeleine nicht finanzieller Natur. „Wie haben vorher noch nie etwas nennenswertes Soziales getan“, ergänzt Madeleine. Für sie ist Bracenet die Chance, etwas Positives zu bewegen und ein Projekt zu unterstützen, bei dem man sicher weiß, wo das Geld bleibt.
„Wir müssen dringend jemanden einstellen“, sagt Madeleine. Die Geschäfte laufen gut, insgesamt hat das Unternehmen knapp zwei Tonnen Geisternetze zu Armbändern verarbeitet, im letzten Jahr konnte Bracenet Spenden von 10 000 Euro an die Meeresschutzorganisationen übergeben. Vom Verkauf geben sie zehn Prozent ihrer Einnahmen ab.
Einen Großteil der Produktionsarbeiten leisten mittlerweile zwei Behindertenwerkstätten in Duisburg und Neumünster. Zeitweise fertigen die beiden Unternehmer die Bracenets noch selbst, aus zeitlichen Gründen sollen die Werkstätten das aber bald vollständig übernehmen. Aber: „Es soll immer ein handgefertigtes Produkt bleiben“, sagt Madeleine.
Während Madeleine (29) und Benjamin (33) letztes Jahr noch viele Armbänder selbst hergestellt haben, übernehmen jetzt größtenteils Behindertenwerkstätten die Produktionsarbeit.
Die Marke hat mittlerweile prominente Unterstützer bekommen. Matthias Schweighöfer wird in seinem nächsten Film ein Bracenet tragen, der Extrembergsteiger Reinhold Messner hat sich gemeldet und „einen langen Atem gewünscht“. Gefragt sind die Armbänder von Bracenet besonders bei Fachmessen wie der „Boot“ in Düsseldorf und bei Designermessen wie dem „Holy Shit Shopping“ in den Hamburger Messehallen. Auf diesen Veranstaltungen zeigt sich auch, dass sich mittlerweile eine ganze Reihe von Anbietern auf das sogenannte Upcycling, also die Auf- und Umarbeitung von vermeintlich Nutzlosem, Ausrangiertem und Weggeworfenem, spezialisiert hat (siehe Kasten). Geldbeutel, Schlüsselanhänger, Ohrringe, Dekoartikel und ganze Möbel – all das gibt es als Upcycling-Produkt zu kaufen.
Die Methode hat besonders in der Massenproduktion auch ihre Tücken: „Wenn ein Netz leer ist, ist es leer“, sagt Benjamin. Bestimmte Ausführungen und Farben haben die Jungunternehmer daher nicht ewig auf Vorrat. Große Aufträge setzen große Netze voraus. Aber: „Netze mit einer Länge von zweieinhalb Kilometern sind keine Seltenheit“, weiß Madeleine zu berichten. Zu den Tauchern und Mitarbeitern der Organisationen pflegen sie einen engen Kontakt, etwa 20 Mal sind die Jungunternehmer mit den Meeresrettern mit auf Bergungsmission gefahren.
Dass der Rohstoff für die Armbänder ihnen ausgeht, müssen Madeleine und Benjamin nicht befürchten. Jährlich kämen knapp 1500 Kilometer Geisternetze hinzu. In ihrem Hamburger Büro zwischen Netzen, Kartons und Messeaufsteller machen sie sich derzeit darüber Gedanken, wie sie das Problem der Meeresverschmutzung stärker an der Wurzel anpacken können. Ein Ansatz sind Anreizsysteme in Unternehmen: „Wir wollen erreichen, dass Mitarbeiter Ideen bei ihren Arbeitgebern für einen geringeren Plastikverbrauch einreichen“, sagt Madeleine. Im Gegenzug gibt es dafür ein Bracenet als Geschenk. Die Werbeprofis wissen, wie man Ware an den Kunden bringt. Dass sie diese Kenntnisse einmal für ihr eigenes Produkt einsetzen würden, hätten sie sich vor zweieinhalb Jahren noch nicht erträumt. Reisen verändert dein Leben – eine Binsenweisheit, die im Fall von Madeleine und Benjamin tatsächlich zutrifft.
Das sogenannte Upcycling liegt schon seit Jahren im Trend. Nach dem Motto „Aus Alt mach’ Neu“ werden dabei Abfallprodukte in neuwertige Gegenstände und Produkte umgewandelt. Ressourcenschonendes Upcycling wird sowohl in privaten Haushalten als auch von kommerziellen Anbietern betrieben.Ein prominentes Upcycling-Produkt im Handel sind die Umhängetaschen von der Firma Freitag, die aus ausgedienten Lkw-Planen hergestellt werden. Das Züricher Unternehmen gilt als einer der Vorreiter der Upcycling-Bewegung. Auf Designermessen und E-Commerce-Plattformen sind zahlreiche solcher Anbieter vertreten, die beispielsweise Produkte wie Regale, Stühle oder Schlüssel aus alten Skateboards verkaufen. Tipps für das Upcyceln im Alltag geben Einrichtungszeitschriften, Internetseiten und Buchpublikationen.
Neben Armbändern werden aus den Geisternetzen auch viele andere Produkte hergestellt. So nutzen Hersteller wie Outerknown, Adidas in Kooperation mit Parley oder Selvaggi den sogenannten Econyl-Garn, der aus den Netzen und anderen Kunststoffabfällen produziert wird, um Bademode, Schuhe und andere Bekleidungsstücke herzustellen.www.econyl.com/de