So droht die Integration zu scheitern
Eine bemerkenswerte Sitzung erlebten die Mitglieder des Ausschusses für Integration am Donnerstagabend im Stader Ratssaal. Was sie – auf Wunsch der CDU-Fraktion – zur Integration von Kindern ohne Deutschkenntnisse zu hören bekamen, machte sie sprachlos.
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Ihnen wurde von Leiterinnen aus Kindergärten, Grundschule und Hauptschule ein schonungsloser Zustandsbericht geboten. Am Ende war die Betroffenheit so groß wie die Ratlosigkeit.
Die Situation in den Kindergärten schilderten Katrin Hirsch aus Hahle und Susann Köncke aus Bützfleth. 70 Prozent der Kinder in den Ganztagsgruppen sprächen kein Deutsch, pro Gruppe seien fünf verschiedene Sprachen vertreten. Kommunikationsprobleme sind programmiert. Die gibt es auch mit den Eltern. Gespräche seien zeitlich, personell und planerisch eine Herausforderung, Dolmetscher würden fehlen. Es sei schwierig, Basiswissen zu vermitteln, zum Beispiel, wenn es darum ginge, Frühstück mit in die Kita zu bringen oder vier Euro Musikgeld zu bezahlen. Richtig kompliziert wird es bei Themen wie Gesundheitsvorsorge oder Hygienerichtlinien.
Eltern seien schlecht erreichbar, wenn ein Kind erkrankt oder sich beim Spielen verletzt. Abholzeiten würden nicht eingehalten, Elternabende nicht besucht. Teilweise gebe es keinen Respekt gegenüber den Erzieherinnen geschweige denn eine Zusammenarbeit, vielmehr träten einige Eltern sehr fordernd auf.
Schwierig sei es, die verschiedenen Kulturen und die unterschiedlichen Vorstellungen bei gesellschaftlichen Werten zu vermitteln; zum Beispiel bei der Erziehung von Jungen und Mädchen. Da wollen Kurden nicht mit Türken an einem Tisch sitzen, kapseln sich Volksgruppen ab. Muslime gehen bei Regen ungern ins Freie, so die Erfahrung der Kindergärtnerinnen, russische Eltern mischen sich nicht ein, was sie aber sollten. Von Bürgerkrieg traumatisierte Kinder sind verschlossen und eingeschüchtert oder aggressiv gegen andere.
Die Arbeit im Kindergarten, so Susann Köncke aus Bützfleth, erlebe einen dramatischen Wandel. Statt geplanter Aktionen und langfristiger Pädagogik sei es heutzutage wichtig, spontan zu reagieren, neue Kinder in die Gruppen zu integrieren. Nicht selten sei den ganzen Tag eine 1:1-Betreuung von schwierigen Kindern geboten, personell sei das nicht leistbar. In den Gruppen selbst sei es sehr unruhig geworden, viele Kinder seien reizüberflutet, mit dem Angebot in den Kitas überfordert.
In Bützfleth gebe es eine besondere Entwicklung, sagt Susann Köncke, die dort seit 25 Jahren arbeite: Die dritte Generation der Türken besinne sich auf ihre Kultur, auf ihre Religion zurück. Elterncafes oder Gesprächsrunden gehörten der Vergangenheit an. Köncke: „Das ist wieder eine Gemeinde für sich.“
Eine Sonderrolle spielt auch das Altländer Viertel: Die Kindergärten dort sind ausgelastet, nur noch Fünfjährige würden aufgenommen. Viele Eltern würden daraufhin auf eine Betreuung in der Kita verzichten, weil sie das Viertel nicht verlassen wollten. In der städtischen Kita im Altländer Viertel sind 13 verschiedene Nationalitäten registriert. Vor allem Zuzug aus den östlichen EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien sorgten für etwa 20 Neuanmeldungen pro Monat. Es gebe dort Gruppen mit einem 98-prozentigen Ausländeranteil.
Es gebe aber auch die positiven Ansätze. Eltern zeigten sich sehr dankbar, verwöhnten die Erzieherinnen mit Köstlichkeiten, weil sie sähen, dass ihre Kinder gut aufgenommen worden sind. Eltern kümmerten sich selbst um Dolmetscher, hülfen sich gegenseitig. Beliebt bei den Kindern seien vor allem Ausflüge, zum Beispiel ins Theater. Das sei „Glückseligkeit pur“.
Die Situation an den Grundschulen schilderte Cordula Wuttke, Leiterin der Burggrabenschule in der Stadtmitte. Auch hier spielt das Altländer Viertel mit seiner Montessorischule eine Sonderrolle. Von 191 Schülern seien dort 176 nicht der deutschen Sprache mächtig. Hinzu kämen für die acht Klassen der Grundschule noch 32 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Jede Woche stoßen etwa drei neue Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen hinzu, an den anderen Schulen ist es etwa ein Kind pro Woche. Cordula Wuttke: „Es gibt kaum eine Schule, die davon nicht betroffen ist.“
Das erfordere einen hohen Organisationsaufwand. Viele würden die Schulpflicht nicht kennen, die Kinder müssen teilweise abgeholt, mit den Eltern müsse an der Haustür mit Händen und Füßen geredet werden. Die Sekretärin würden Sprachförderanträge ausfüllen, Informationen zu Themen wie Infektionsschutz oder übers deutsche Waffenrecht müssten transportiert werden. Viele Kinder, die vor der Tür stehen, könnten weder Deutsch oder Lesen und Schreiben, dennoch sollen die Kinder altersgerecht eingeschult werden. Viele seien nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. „Und wir haben noch 25 andere Kinder in der Klasse, die etwas lernen wollen“, sagte Cordula Wuttke.
Die Situation an der Hauptschule Thuner Straße schilderte ihre Leiterin Christiane Prüfer. Sie bot dem Ausschuss die wohl krasseste Vorstellung des Abends. 354 Schüler werden dort zurzeit unterrichtet, davon sind 130 Kinder mit Migrationshintergrund aber mit Deutschkenntnissen, und 86, die kein Wort Deutsch können. Das heißt: Nur 39 Prozent der Schüler hätten Deutsch als erste Sprache – und auch hier gebe es große Unterschiede. Hinzu kämen 26 Kinder im Zuge der Inklusion mit „Unterstützungsbedarf“ wie zum Beispiel ein taub-stummer Syrer.
Christiane Prüfer und Kollegen hätten aber auch mit 13 Jahre alten Kindern zu tun, die über gar keine Schulerfahrungen verfügten, wie deren Eltern übrigens auch. Da sei es allein schon schwer, verständlich zu machen, dass Unterrichtsmaterialien Geld kosten. Diese „Schuleinsteiger“ kämen immer häufiger vor. „Das ist eine nette Formulierung, damit man selbst nicht verzweifelt“, sagte die Hauptschulleiterin.
Den Eltern die Schulpflicht, die Regeln des Unterrichts oder des Zusammenseins und die Kosten zu erklären, wiederhole sich ständig, das nehme viel Zeit und Kraft. Immer wieder würden sie mit dem Wunsch konfrontiert, Formulare auszufüllen, und sei es für die Krankenkassen-Karte. Christiane Prüfer: „Darum muss man sich kümmern, aber bitte nicht die Lehrer.“ Eine große Hilfe sei dabei die Soziapädagogin, die die Schule gerade einstellen durfte.
Ein Problem an der Schule laut Prüfer: Kinder ohne Probleme kommen zu kurz, „das ist für einen Lehrer nur schwer auszuhalten.“ Der Krankenstand steige, die Personaldecke sei zu dünn. „Meine Kollegen sind am Ende“, sagte Prüfer. Es gebe kaum die Chancezun einer klassenübergreifendne Arbeit, also für ganz normalen Unterricht, weil immer wieder individuelle Fälle betreut werden müssten. Christiane Prüfer: „Wir erkaufen uns die Integration auf dem Rücken der Kinder, die keinen Unterstützungsbedarf haben.“
Gewaltkonflikte an der Schule hätten zugenommen. Es gebe religiös motivierte Probleme, so müssten Jesiden geschützt werden vor Übergriffen. Viele Kinder litten unter Kriegserfahrungen. Da Waffen an der Schule verboten sind, müsse sie regelmäßig die Jugendlichen kontrollieren: „Die stecken sich morgens, wenn sie das Haus verlassen, ein Messer so selbstverständlich ein, wie wir uns unsere Schuhe zubinden.“ Gerade am Donnerstag hatte es einen Polizeieinsatz gegeben wegen einer gefährlichen Waffe nebst Drohungen.
Ein anderes Thema ist die Gesundheit. Krätze, Hepatitis und selbst TBC kämen vor. „Die Kinder kommen zu uns zur Schule und kein Arzt hat sie vorher gesehen“, monierte Christiane Prüfer. Ihr Fazit: Wenn ein Viertel der Schüler kein Deutsch spreche, kann eine Schule nicht funktionieren. Weder Sprach- noch Wertevermittlung seien möglich. Eine Integration scheitere. Mehr Sozialarbeiter seien nötig. Ihre Bilanz: schonungslos, Besorgnis erregend, aufrüttelnd.
So reagiert die Stadt. Die Politik war sprachlos nach den Vorträgen, bat sich Bedenkzeit aus, um das Gehörte sacken zu lassen. Bürgermeisterin Silvia Nieber und ihr Vize Dirk Kraska, haben bereits am Freitagmorgen reagiert.
„Wir werden auf die Landesschulbehörde und den Landkreis zugehen“, sagte Nieber. Erste Schritte seien eingeleitet. Beim Landkreis seien vor allem Gesundheitsamt und Ausländerbehörde Ansprechpartner. Ein Ziel sei es, jedes Kind vor dem Schulbesuch medizinisch durchzuchecken.
Im Rathaus werde eine „Task Force“ gebildet, um Kitas und Schulen vor allem von der Verwaltungsarbeit zu entlasten. Damit entspricht sie dem Wunsch der Leiterinnen. Ein ebenso gewünschtes verstärktes Dolmetscher-Angebot soll durch drei Video-Lizenzen bewerkstelligt werden, die die Stadt in der kommenden Woche erhält und mithilfe derer Übersetzer per Bildschirm in Gespräche eingeschaltet werden können. Das gelte insbesondere für Bulgarisch und Rumänisch. Niebers Einschätzung: „Es ist schwierig, aber nicht dramatisch.“