Vielläufer Dodt durchlief eine medizinische Tortur
Dennis Dodt. Foto: Archiv
Dennis Dodt gehört zu den bekanntesten Läufern im Landkreis Stade. Zwei Jahre lang konnte der vormalige Vielläufer allerdings bei keiner Laufveranstaltung starten. Er durchlief eine medizinische Tortur.
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Dennis Dodt sitzt in einem sehr heimeligen Wohnzimmer eines sehr ruhig gelegenen Einfamilienhauses im sehr dörflichen Ottendorf. Weite Felder erstrecken sich hinter dem Haus. „Hier gibt es auch gute Laufstrecken“, sagt Dodt und lächelt Maren an. Maren sitzt neben ihm und lächelt ebenso sanft. Sie und Dodt haben sich vor einem Jahr kennengelernt und sich verliebt. Erst vor fünf Wochen ist Dodt, der Stader, zu ihr aufs Land gezogen.
In dem Wohnzimmer wird das bevorstehende Weihnachtsfest facettenreich zelebriert. Die Verliebten haben sich auch Adventskalender kreiert. Eine Gemeinsamkeit, diese Vorliebe fürs Fest, wie Dodt schwärmerisch erwähnt. Wie eine persönliche, schöne Weihnachtsgeschichte kommt ihm auch sein derzeitiger Lebensabschnitt vor: Neben dem Frisch-Verliebtsein erlebt er gerade besonders bewusst seine ersten Laufversuche, nachdem er zwei Jahre lang von Rückschlag zu Rückschlag geeilt war.
Diese zweijährige Tortur folgte auf einen zweijährigen Höhenflug. Dennis Dodt, heute 46 Jahre alt, begann erst 2012 mit dem leistungsorientierten Laufen. Seine lange Fußballerlaufbahn war mit drei Meniskusrissen und Operationen an beiden Knien beendet. Die Ärzte rieten von laufintensiven Sportarten ab. Der Mann mit dem unbändigen Bewegungsdrang sattelte um aufs Rennrad. Er versuchte sich im Nordic-Walking. Das reichte Dodt aber nicht, die Lust aufs Laufen war immer präsent und trieb ihn. 2011 endeten übermotivierte Teilnahmen am Stader wie Buxtehuder Altstadtlauf an Krücken. „Das haben mir die Knie übel genommen“, sagte er damals. Ein Jahr später hielten sie. Seitdem lief er. Die Schmerzen liefen aber immer mit.
Er trainierte bewusst. Und er beschrieb seinen Ehrgeiz in den Jahren 2015 und 2016 so: „Die Glücksmomente bei erfolgreichen Wettkämpfen sind stärker als die Schmerzen.“ In diesen beiden Jahren war Dodt voll im Wettkampfmodus. Er verbesserte seine Zeiten über die 5, 10 und 21 Kilometer stetig. Seine Bestzeit über 10 Kilometer: 34:29 Minuten. Über 21 Kilometer: 1:14 Stunden. Er blickte stolz auf mehr als 50 Rennen zurück, bei denen er fast eine 100-prozentige Siegquote in seinen jeweiligen Altersklassen vorweisen konnte. Mehr als 30 Mal ging er als Gesamtsieger über seine Distanzen hervor. Das war 2016.
2017 holten den ehrgeizigen wie leidenschaftlichen Läufer seine Schmerzen ein. Er bezeichnete das Jahr als ein „verlorenes“. Er hatte ein halbes Jahr nicht trainieren können und startete trotzdem beim Stader Altstadtlauf und gewann über zehn Kilometer. Kurz darauf beendete er den Buxtehuder Altstadtlauf als Dritter über fünf Kilometer. Hinter der Ziellinie setzte er sich auf das Pflaster. Nicht vor Erschöpfung. Weil er Schmerzen hatte. Es war sein vorerst letzter Wettkampf. Da hatte er sich schon für eine folgenreiche Operation entschieden.
Ende November 2017 ließ sich der Läufer operieren. Eine erst kürzlich in der EU zugelassene Methode kam als große Lösung daher. Der Meniskus wurde geglättet. Dann wurden ihm Knorpelkügelchen eingesetzt, im Labor gezüchtet aus entnommenem gesunden Knorpelgewebe und Eigenblut. Daraus sollte sich dann gesunder Knorpel bilden. Zudem ließ Dodt sich sein rechtes O-Bein begradigen, damit fortan die Reibung an dem neu gewachsenen Knorpelgewebe nicht wieder so stark ist. Dodt strahlte seinerzeit puren Optimismus aus im Krankenbett. Seine Zukunftspläne sahen vor, nach dem Übergangsjahr 2018 im Jahr 2019 um Deutsche Meisterschaften in seiner Altersklasse mitzulaufen.
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Doch die Rückschläge kamen prompt. Ende Februar 2018 musste Dodt abermals unters Messer, weil die Schmerzen bei leichten Belastungen zurück waren. Ihm wurde gesagt, der Knorpel müsse geglättet und Narbengewebe entfernt werden. „Jetzt haben sie es“, sagte er sich. Eine Woche später hatte er wieder „stechende Schmerzen“. Anfang April folgte die nächste Operation. „Da habe ich noch dran geglaubt“, sagt Dodt. Aber er habe sich schon hilflos gefühlt. Dieses Mal habe sein Kreuzband von Narbengewebe befreit werden müssen, so die Diagnose. Wenige Tage später kamen die Schmerzen zurück.
Dodt, der Läufer, bewegte sich bis Mai nur mit Krücken fort. „Das war die schlimmste Phase“, sagt er. Er erinnert sich an einem Moment, als er auf Toilette nur noch geheult hat. Er, der offene, freundliche Mensch, wollte nicht mehr aus der Wohnung gehen, nicht mehr unter Leuten sein. Er wollte keine Fragen mehr beantworten, wie es ihm denn gehe. Von August bis September quälte er sich durch die Reha. Er kam kaum die Treppen rauf. Seine Physiotherapeuten „waren irgendwann auch ratlos“. Im Dezember ließ er sich ein letztes Mal in der Klinik operieren, die auf das gezüchtete Knorpelgewebe setzte. Dieses Mal sei das Kreuzband eingeklemmt gewesen, sei Dodt gesagt worden. „Als Sportler hat man eigentlich ein Gefühl für seinen Körper“, sagt Dodt, „aber irgendwann wird man verrückt, die Schmerzen waren für mich in dieser Zeit nicht mehr identifizierbar.“
Dodt hat sich gequält und fühlte sich hilflos. Er sagt, er habe „starke Zweifel“ gehabt, ob er seine große Leidenschaft, das ambitionierte Laufen, wieder erleben könnte. „Der Glaube war irgendwie weg, aber Hoffnung war immer da.“ Anders kann er es nicht beschreiben. Denn unterkriegen ließ er sich nicht, Krafttraining oder Stand-Up-Paddling, auch eingeschränkt machte Dodt „immer irgendwas, was gerade ging“. „Ich habe ihn als Kämpfer kennengelernt“, sagt Maren.
Dodt möchte der Klinik nicht „großartig Vorwürfe machen“. Die Kniebegradigung habe super geklappt. Dass das Verfahren mit dem gezüchteten Eigengewebe nicht anschlägt, komme vor, sagt Dodt. „Das hätten sie allerdings anerkennen müssen. Die haben zu lange an mir rumgedoktert.“
Im Frühjahr 2019 diagnostiziert ein Orthopäde den „klaren Knorpelschaden“. Gewissheit. Und gleichzeitig neue Hoffnung. Der Orthopäde rät Dodt zur Uniklinik Eppendorf. Im UKE wird ihm eine Knorpel-Knochen-Transplantation empfohlen. Von der gesunden Knieseite wird genau so viel entnommen, wie auf der kaputten benötigt wird. „Vom Aufwand her ein sehr heftiger Eingriff“, sagt Dodt, aber er war sich sofort sicher. „Das war meine letzte Patrone.“
Im Mai lässt er sich operieren. Maren gibt ihm ein gerahmtes Foto mit ins Krankenhaus. Dodt läuft darauf mit hochgestreckten Armen als Sieger über eine Ziellinie (siehe großes Foto links), darunter schrieb Maren: „Egal was passiert, am Ende werde ich wieder laufen.“ Dodt war zu Tränen gerührt. „Sie hat immer verstanden, was in mir vorgeht“, sagt er jetzt.
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Jetzt ist das Seuchenjahr 2018 fast vergessen. Dodt, der sich als unerschütterlicher Optimist versteht, sagt, dass er als Mensch nie unglücklich gewesen sei. „Man lernt ja auch immer etwas dazu“, sagt er. „Vielleicht hätten wir uns auch gar nicht wirklich kennengelernt“, sagt Maren. Dodt nickt, an Wochenenden hätte er als aktiver Läufer auf jeden Fall viel weniger Zeit gehabt. In diesem Jahr entwickelt sich bisher alles positiv.
Nachts um 0 Uhr, der 19. Juli bricht an, legt Dodt sechs Wochen nach der Operation die Krücken weg. Er erinnert sich genau. Er konnte es nicht abwarten. Die ersten zaghaften Vollbelastungen gehen einher mit der „Riesenangst“, dass die Schmerzen zurückkommen. Die Angst geht in den folgenden Wochen mit, ist latent auch jetzt noch da. Dodt muss seinen ganzen Körper wieder in den Sportlermodus kriegen. Physiotherapeuten helfen. Mit Maren macht er Spaziergänge. Sie ist mittlerweile auch Joggerin.
Dodt macht am 14. Oktober spontan ein Video von sich, wie er langsam einen Feldweg hoch und runter läuft, schickt es Maren per Whatsapp. Er fragt: „Ist das schon Laufen?“ Ja. Es ist sein erster Laufversuch. Es passiert spontan, als er stramm walkt. Seitdem steigert er sich stetig. Am Anfang braucht er zwölf Minuten pro Kilometer, mittlerweile ist er wieder bei fast fünf Minuten. Vor wenigen Tagen läuft er zwölf Kilometer wie im Rausch, er muss sich selbst ausbremsen, am liebsten will er immer weiterlaufen. Er darf es aber nicht übertreiben. Dodt sprudelt vor Glück, wenn er von den kleinen Lauferfolgen spricht. „Diese Fortschritte hatte ich nicht im Traum.“
Dennis Dodt hat sich für 2020 schon wieder ein paar Lauftermine in den Kalender eingetragen. „Das habe ich unglaublich vermisst.“ Er sagt, er wisse, dass er sein altes Niveau nicht mehr erreichen wird. Dieses Ziel, Deutscher Meister zu werden, in zwei, drei Jahren vielleicht, hat der leidenschaftliche Läufer aber noch immer.
Es ist noch nicht lange her, da wurden ihm seine Laufschuhe aus dem Hausflur in dem Stader Wohnhaus gestohlen. „Da hab ich gedacht, ob das ein Zeichen sein soll“, erzählt Dodt. Den Gedanken hat er aber sogleich verworfen, die beiden grünen Paare seiner vielen Laufschuhe haben die Diebe da gelassen. Dodt lacht. Besser könnte es nicht laufen.