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Wenn Schutzhunde selbst beißen

Die Kangals Attila und Shira schützen ihre Herde vor Wölfen und streunenden Hunden. Die Rasse gehört zu den ältesten Herdenschutzhunden überhaupt. Foto: Monsees

Die Kangals Attila und Shira schützen ihre Herde vor Wölfen und streunenden Hunden. Die Rasse gehört zu den ältesten Herdenschutzhunden überhaupt. Foto: Monsees

In der Nacht zum ersten Weihnachtstag verließen zwei Schutzhunde der Rasse Kangal das von ihnen zu bewachende Areal nahe des Langenmoors in der Börde Lamstedt und verletzten im zehn Kilometer entfernten Alfstedt vier Hunde. Der Halter der Kangals hat Konsequenzen gezogen.

Freitag, 04.01.2019, 19:27 Uhr

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Von Carmen Monsees

Herdenschutzhunde machen ihren Job auf der Weide selbstständig und entscheiden allein – auch nachts. Sie leben in der Regel mit Nutztieren auf der Weide. Ihre Konstitution ist dem Leben in der freien Natur angepasst. Obwohl sie gut auf Menschen sozialisiert sind, haben sie ganz andere Ansprüche als familiennahe Haushunde. Ihre Verwendung und Haltung im Einsatz auf Weideland ist im Tierschutz wie im öffentlichen Recht aber nur unzureichend geregelt.

Mit der Ausrottung des Wolfes vor mehr als 100 Jahren waren keine besonderen Schutzvorkehrungen gegen Übergriffe mehr nötig. Die Situation hat sich grundlegend geändert. War 2016 von neun nachgewiesenen Wolfsrudeln in Niedersachsen die Rede, waren es 2018 laut Mitteilung des Umweltministeriums bereits 21 Rudel. Fest steht: Das Arrangieren mit dem Raubtier und mit einem effektiven Herdenschutz müssen Nutztierhalter und die Bevölkerung in Wolfsgebieten erst lernen. Der Fall der ausgerissenen Herdenschutzhunde aus Lamstedt zeigt das exemplarisch. Sie stammen vom Hof einer Familie aus dem Ortsteil Moorausmoor. Der Familie sind an Weihnachten die zwei Kangals entwischt, die auf ihrem Streifzug mit Artgenossen aneinandergerieten und diese verletzten.

Kangals sind anatolische Hirtenhunde. Ihre Geschichte reicht Jahrtausende zurück. Warum sich die Lamstedter Familie für den Kangal entschieden hat, erklärt der Besitzer, der seit drei Jahren mitten im Wolfsrevier lebt, so: „Das im Langenmoor ansässige Wolfsrudel hatte vermehrt Rinder und Kälber gerissen. Ich brauchte zum Schutz meiner seltenen Nutztierrassen große, starke Hunde, die meine Herde gegen Wölfe verteidigen können. Wir haben mit vier Hektar wolfsabweisend eingezäunter Weide von insgesamt 8,5 Hektar ein großes Grundstück, das unseren Kangals als Arbeitsraum reicht.“

In den vergangenen Monaten hätten seine Wildkameras das Auftauchen dreier unterschiedlicher Wölfe aufgezeichnet, erklärt der Landwirt. „Das bedeutet, ich bräuchte eigentlich mehr Hunde, damit meine Tiere nicht bis zur Erschöpfung arbeiten.“

Seit drei Jahren sammelt die Familie im Moor Erfahrungen mit Wolfsbegegnungen auf ihrem Hof und auf ihrem Weideland. Die Kangals haben sich als furchtlos bewährt. „Herde und Familie beschützen sie unter Einsatz ihres Lebens. Spaziergänger, Reiter oder Radfahrer, die tagsüber am Hof und an der Weide vorbeikommen, behalten sie so lange im Auge, bis diese sich von der Herde entfernt haben. Würden sie dabei anders reagieren, wären sie als Herdenschutzhund ungeeignet“, betont der Besitzer.

Das unerlaubte Betreten des von ihnen zu bewachenden Areals – ganz gleich ob von Wolf, streunenden Hunden oder fremden Zweibeinern – interpretieren die Kangals als Bedrohung und reagieren entsprechend. Eine solch wachsame Rasse wie der Kangal gehöre nicht in unerfahrene Hände, betont der Besitzer. Auf dem Hof der Lamstedter Familie endet die Nachtwache der beiden Kangals Attila und Shira, wenn die Natur morgens erwacht. Vor allem in der Dunkelheit passen die Herdenschutzhunde auf, dass sich kein Wolf der Weide nähert. Am frühen Silvestermorgen ist dort draußen ein Zebu-Kälbchen geboren. Ohne Scheu begegnet die Zeburind-Herde ihren Beschützern. Zur Tiergesellschaft auf der Weide gehören neben den Zeburindern auch ein Pferd und zwei Esel.

18 Wollschweine leben im Offenstall mit einem Auslauf zum Suhlen. Lockengänse und sonstiges Federvieh laufen frei auf dem Hof. Der Tisch ist auf dem Hof für den Wolf reichlich gedeckt, könnte man meinen. „Doch seit Attila und Shira da sind, kommt kein Wolf mehr bis auf den Hof“, erzählt der Landwirt. Der gebürtige Niedersachse ist vor drei Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern auf den Hof nahe des Langenmoors gezogen. Unbewusst mitten rein in das „Wohnzimmer“ des Wolfes, wo zu dem Zeitpunkt ein siebenköpfiges Rudel aktiv war. Bisher hat die Familie noch keines ihrer Tiere an den Wolf verloren.

Herdenschutzhunde hat sich die Familie auf Empfehlung des Wolfsbüros im Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft-, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) angeschafft. Dass die Kangals ausrissen und mit anderen Hunde in Konflikt gerieten, bedauert der Landwirt sehr. „Wir sind betroffen und haben sofort reagiert“, sagt er. Beide Herdenschutzhunde seien jetzt mit einem System am Halsband ausgestattet, mit dem der Besitzer die Tiere in Echtzeit auf dem Smartphone orten könne.

Das Weideland hat der Landwirt außerdem mit einem weiteren stromführenden Draht abgesichert, der die Hunde davon abhalten soll, das Areal zu verlassen. Sollte das dennoch passieren, erhält der Hundehalter über eine App einen sofortigen Alarm. Er beteuert, dass er alles dafür tun werde, dass so etwas nicht wieder passiere. Warum die Situation in Alfstedt derart eskalierte, während es auf anderen Höfen, die die Kangals auf ihrem Streifzug passierten, zu keinem Vorfall kam, sei ihm unerklärlich.

Die Attacke in Alfstedt rief die Ordnungsbehörde auf den Plan. Wenn die Familie mit den Kangals unterwegs sei, müssten die Tiere einen Maulkorb tragen und an der Leine geführt werden, sagte Dezernent Friedrich Redeker von der Kreisverwaltung in Cuxhaven. Der Landkreis sei dabei, den Sachverhalt aufzuklären. „Dabei wird auch noch zu prüfen sein, ob diese Hunde gefährlich sind“, erklärte Redeker. Wenn dies festgestellt werde, sei eine Haltung nur unter bestimmten Auflagen erlaubt.

 

Ein Leitfaden zur Verwendung von Herdenschutzhunden

Die Arbeitsgemeinschaft (AG) Herdenschutzhunde hat in Kooperation mit dem IFAW (Internationaler Tierschutz-Fonds) und dem Landesamt für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz (LUGV) im Umweltministerium des Landes Brandenburg einen Leitfaden zur Verwendung von Herdenschutzhunden zum Download herausgegeben. In den Kapiteln geht es um Schutz und Sicherheit für Herden und das dafür erwünschte Grundwesen und Verhalten des Hundes.

In der Broschüre wird beschrieben, wie der Herdenschutzhund auf die Aufgaben in seinem Zuhause vorbereitet werden muss. Dabei gibt es auch spezielle Anforderungen an den Hundehalter. Die AG Herdenschutzhunde ist ein Zusammenschluss engagierter Schäfer und Herdenbesitzer. Das ausdrückliche Ziel ist die Schulung und Weiterbildung der zukünftigen Herdenschutzhund-Besitzer. Die AG will die Zucht und Vermittlung exzellenter, für unsere Klimazone und Art der Herdenbewirtschaftung geeignete Schutzhunde fördern. www.ag-herdenschutzhunde.de

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