Wenn das Weihnachtsgeschenk sieben Wochen zu früh kommt

Frühchen verbringen ihre ersten Lebenswochen in einem durchsichtigen Kasten. Foto: Husung
Eigentlich wollte er Serien auf dem Sofa schauen und die Eindrücke eines Geburtsvorbereitungskurses sacken lassen – und plötzlich war sein Sohn viel früher auf Welt, als erwartet. Ein TAGEBLATT-Redakteur gibt Einblicke in die Welt der Frühchen.
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Ein menschliches Wesen ist zwischen all den Schläuchen, Kabeln, Pflastern und Sensoren kaum zu erkennen. Erst auf den zweiten Blick wedeln in dem Gewirr mickrige Ärmchen und Beinchen herum. Und hinter einer Atemmaske zappelt ein hochroter Kopf, die Augen fest zusammengekniffen. Was für ein beschwerlicher Start ins Leben. TAGEBLATT-Redakteur Sven Husung berichtet von der plötzlichen Geburt seines Sohnes Mitte November und seinen Erlebnissen in der Intensivstation für Frühchen in einer Hamburger Klinik.
Einfach aufs Sofa werfen, Netflix anschmeißen und ausspannen – das war der Plan für unseren Abend. Vorher hatten wir sechs Stunden lang den Ausführungen einer Hebamme gelauscht – über den Ablauf der Geburt, mögliche Entbindungsmethoden und vieles mehr. Zum gemütlichen Serienabend sollte es aber nie kommen.
Nur zehn Minuten nachdem meine Frau und ich von dem Crashkurs nach Hause gekommen sind, klingelt mein Telefon. „Ich glaube wir müssen ins Krankenhaus, ich glaube meine Fruchtblase ist geplatzt“, sagt meine Frau. „Kein Scherz?“ Kein Scherz. Puh. Ich laufe zu ihr. Es geht wirklich los.
Während ich durch das Wohnzimmer stromere, versuche ich, mich an die Infos aus dem Kursus zu erinnern. Der ist erst vor einer halben Stunde zu Ende gegangen. Aber wie war das alles noch gleich? Zusammen rekonstruieren wir: Im Sitzen soll die Schwangere nur ins Krankenhaus transportiert werden, wenn das Baby fest im Becken sitzt. Selbst fahren fällt also aus, denn wer soll das jetzt verdammt noch mal wie überprüfen? Also der Rettungswagen. 112 ist wohl die richtige Wahl.
Ich wedele mit der Packliste für die Kliniktasche. Einiges haben wir vorbereitet. Dann fällt mir das Hackfleisch in der Einkaufstasche ein. Das sollte ich noch in den Kühlschrank legen. Quatsch, total unwichtig. Sollte ich nicht lieber schnell einen Laptop einpacken? Ist das schon der Krankenwagen da draußen? Die elektrische oder normale Zahnbürste? Meine Hündin Paula kommt schwanzwedelnd zu mir gelaufen und sieht mich mit großen Augen an. Sie spürt meine Nervosität. Und mir wird klar: Der Hund muss untergebracht werden, irgendjemand muss ihr regelmäßig die Herztabletten geben. Mein Gott, warum denke ich die ganze Zeit an dieses bescheuerte Hackfleisch?
Draußen sind unsere Nachbarn noch aufgeregter als wir selbst, meine Frau spricht ihnen beruhigende Worte von der Trage aus entgegen. Die Türen am Krankenwagen gehen zu.
Drei Stunden nachdem das Blaulicht durch die abendliche Buxtehuder Siedlung schimmerte, kommt unser Sohn in einer Hamburger Klinik auf die Welt. Sieben Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin. Dass er den Eindruck erweckt, als würde er am liebsten zurück in den Mutterleib kriechen, kann ich ihm nicht verübeln. Neben der üblichen Reizüberflutung, mit der Neugeborene zu kämpfen haben, fällt Tjelle das Atmen schwer. Seine Lunge ist noch nicht voll ausgebildet. Aus medizinischer Sicht keine Katastrophe, für uns als tatenlose Beobachter aber ein hartes Brot.
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Noch im Laufe seines ersten, unbeholfenen Kommunikationsversuchs wird Tjelle auf die Intensivstation entführt. Als „Frühchen“ oder „Frühgeborener“ bringen die Schwestern und Ärzte unser Baby direkt nach der Geburt in einem sogenannten Inkubator unter – besser bekannt als Brutkasten. Ich benachrichtige die frischgebackenen Großeltern. „Da fährt man einmal weg. Den Geburtsvorbereitungskurs habt ihr wohl zu ernst genommen“, sagen meine Eltern am Telefon. Wir werfen einen letzten Blick in den Schaukasten. Das ist also unser Sohn. 2080 Gramm und 46 Zentimeter lauten die Eckdaten. Der Rest wird sich zeigen. Die vorläufigen Diagnosen lauten: Frühgebürtlichkeit, respiratorische Insuffizienz, Atemnotsyndrom I und Amnioninfektionssyndrom.
Ein freundlicher Kinderarzt erklärt uns die Lage. Wir nicken viel und verstehen wenig. Alles halb so wild, wie wir noch erfahren sollen. Aufs Zimmer gehen wir aber mit einem mulmigen Gefühl. Es wird eine kurze Nacht mit unruhigem Schlaf.
Wann immer ich das Wort Känguru höre, denke ich an ein kommunistisches Beuteltier mit roten Handschuhen, das Nazis boxen will und ziemlich geschwätzig ist. Alle, die Marc-Uwe Klings „Känguru-Chroniken“ kennen, wissen, was ich meine.
{picture1s} Das hat nicht direkt etwas mit Tjelles Aufenthalt in der Klinik zu tun. Aber es ist meine erste Assoziation, als meiner Frau und mir angeboten wird, mit unserem Sohn zu „känguruhen“. Um sprechende Tiere oder Klassenkampf geht es dabei aber gar nicht, sondern um eine Heilmethode ganz nach meinem Geschmack: Noch nie habe ich mich beim Herumliegen so nützlich gefühlt.
Am Morgen nach der Geburt wachen wir ziemlich gerädert auf, die Ereignisse vom Vorabend scheinen unendlich weit weg zu sein. Sind wir wirklich Eltern geworden? Augenreiben, Katzenwäsche und runter in den ersten Stock in die Frühchen-Station.
Am zweiten Tag haben die bunten Kabel und die Beatmungsschläuche schon etwas von ihrem Schrecken verloren. Der kleine Tjelle liegt ruhig in seinem Nestchen und schmatzt, jedenfalls solange ihn niemand berührt. Alles fühlt sich wieder ein Stück realer an. Auf dem Monitor neben dem Brutkasten bewegen sich bunte Linien, Zahlen blinken auf, schrille Alarmtöne in verschiedenen Frequenzbereichen wechseln sich ab. Bei jedem „Piep“ blicken wir nervös zu den Schwestern, Pflegern oder Ärzten, versuchen aus ihren Gesichtsausdrücken zu deuten, was die Signalgeräusche bedeuten könnten. Was ist los? Schwebt er in Lebensgefahr? Warum wird noch keine Not-OP anberaumt?! Sagt doch etwas! Alle bleiben relaxed, anscheinend gibt es keinen Grund zur Panik. Atmen.
Unser Sohn ist noch empfindlich, die Schwestern und Pfleger bezeichnen ihn als „rohes Ei“. Sie umsorgen den Kleinen aber so liebevoll und gleichzeitig routiniert, dass bei uns ein großes Stück Anspannung abfällt. Es gibt auch gute Nachrichten: Tjelle muss nicht im eigentlichen Sinne beatmet werden, sondern bekommt lediglich eine Atemunterstützung. Wegen der schnellen Geburt konnte der kleine Kerl die Lungenreife nicht mehr erreichen. Nicht ungewöhnlich bei Frühchen und kein Grund zur Sorge.
Wir müssen uns zum Glück erst einmal nicht weiter mit den medizinischen Feinheiten beschäftigen und können uns mit einer simplen Therapieform nützlich machen – dem „Känguruhen“. Das Magazin „Eltern“ schreibt dazu: „Beim Känguruhen darf das unbekleidete Baby auf der nackten Brust von Mama oder Papa kuscheln. Mittlerweile ist bewiesen, dass der Hautkontakt die Überlebenschancen der Frühgeborenen steigert.“
Ich kann kaum fassen, dass dieser kleine, warme Wurm (der Brutkasten hält eine Temperatur zwischen 30 und 35 Grad Celsius) jetzt wirklich auf mir liegt. Das „Känguruhen“ hat auf mich eine meditative Wirkung. Drei Stunden mit ihm auf der Brust vergehen wie im Flug.
In einer Lichtatmosphäre zwischen Blueport Hamburg und einer Raumschiffkulisse liegt mein Sohn in seinem Brutkasten und sieht fast so aus, als würde er eine Sitzung auf der Sonnenbank genießen. Die Lichttherapie, die die Frühchenstation in eine futuristische Kulisse verwandelt, verordnen die Ärzte Tjelle wegen einer drohenden Neugeborenen-Gelbsucht. Eine übliche Anpassungsstörung der Leber.
Mehrere Male wird Tjelle sechs Stunden lang mit dem blauen Lichtbestrahlt.
Er selbst merkt von alldem wenig, liegt in seinem Inkubator und ist weiterhin damit beschäftigt, die verfrühte Geburt zu verkraften. Aber: Ab Tag vier macht er große Schritte – und wir uns Hoffnungen, dass wir Weihnachten zusammen zu Hause verbringen können. Nach drei Übernachtungen in einem Familienzimmer in der Wochenstation pendeln wir nun täglich in die Klinik.
Der Abschied von Tjelle am Abend tut weh, in Gänze realisiert haben wir die neue Situation aber nicht. Das Kind wird uns angereicht und wieder abgenommen, die Verantwortung für den Kleinen liegt noch immer bei den Schwestern, Pflegern und Ärzten. Wir schneien ab und zu rein, kuscheln ein bisschen und verschwinden wieder. Das fühlt sich ein bisschen an wie ein Baby-Verleih. Immerhin hilft die Distanz dabei, zu Hause ein paar Stunden Schlaf zu finden.
Das ist nach den drei Übernachtungen in der Wochenstation auch nötig. Ruhe kehrt dort niemals wirklich ein. Ständig platzt jemand in das Zimmer, misst den Blutdruck, verabreicht Medikamente, bringt Frühstück/Mittag/Abendbrot, nimmt die Essensbestellung für morgen auf. Bei der Visite stehen unvermittelt ganze Menschengruppen im Raum. Jedes Mal neue Gesichter. „Wie fühlen Sie sich?“ „Gut.“ „Alles klar.“ Und tschüss. Ein gewöhnungsbedürftiger Ort, so ein Krankenhaus.
Zwischendurch komme ich ins Grübeln, die Freude über die erstklassige medizinische Versorgung meines Babys kippt bei dem Gedanken an die vielen Menschen auf der Welt, denen in unserer Situation nicht geholfen werden kann, weil das Geld für die technischen Geräte, Medikamente und die Ausbildung des Personals fehlt. In diesen Momenten denke ich auch an meine kleine Tochter Elin, deren kleines Herz im vergangenen Jahr noch im Mutterleib aufhörte zu schlagen. Wir haben sie unter einem Baum im Friedwald begraben. Und es gehört auch zu dieser Geschichte, dass ich entsetzliche Angst habe, meinen Sohn regungslos im Brutkasten vorzufinden.
Eine positive Entwicklung: Im Laufe der ersten Woche konnten die Eltern ihren Sohn selbst mit der Flasche füttern.
Diese Gedanken sind schnell verflogen, wenn der kleine Mann mit seinen Armen und Beinen strampelt und mit seinen winzigen Händen nach meinem Finger greift. Ganz unbeteiligt sind wir in der Intensivstation nicht mehr. Im Gewirr der medizinischen Geräte finden wir uns mittlerweile ziemlich gut zurecht, übernehmen einige Aufgaben selbst.
{picture2s} Tjelles gesundheitliche Fortschritte sind immens. Die anfängliche Zugabe von Sauerstoff durch den Atemschlauch kann eingestellt werden. Die Lunge kommt in Gang, was für eine Erleichterung. Tjelle nutzt sein Organ dann auch gleich für kräftige Wutanfälle und hält das Personal auf Trab. Die ihm zugeordneten Wesensmerkmale reichen von „charakterstark“ bis „verrückt“. Was auch immer uns blüht, meine Frau und ich freuen uns darüber, dass unser Sohn offensichtlich im Leben ankommt.
Um Enttäuschungen zu vermeiden, sollten die Eltern erst zum ursprünglichen Entbindungstermin am 5. Januar mit der Entlassung von Tjelle aus der Klinik rechnen. Aber schon den Abend vor dem Nikolaustag konnten die drei auf dem heimischen Sofa verbringen. Heute feiern sie die erste gemeinsame Bescherung. Ganz ohne Atemschläuche und blaues Licht – aber sicher mit vielen Kuscheleinheiten.