24-Stunden-Reportage: Mit der Elbfähre in die City

Auf der Fähre nähern sich die Pendler aus Finkenwerder allmählich der Hamburger Innenstadt . Auch in die Gegenrichtung ist ein Linienschiff um 5.15 Uhr gestartet (links im Bild). Auf Höhe des Altonaer Fischmarktes ist neben dem Dockland-Geb
Statt sich dem Stress in Bus und Bahn auszusetzen oder im Stau vor dem Elbtunnel zu stehen, setzen einige Hamburg-Pendler auf die Fähre ab Finkenwerder. Das TAGEBLATT hat die erste Fahrt am Morgen um 5.15 Uhr begleitet.
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5 Uhr morgens am Fähranleger in Finkenwerder: Der sonor wummernde Schiffsmotor und die eingeschaltete Infotafel verraten, welche der drei aufgereihten HADAG-Fähren die erste Tour in einer Viertelstunde fahren wird. Ansonsten herrscht Stille rund um den Ponton – vereinzelt schreien Möwen auf der Suche nach dem frühen Wurm auf. „62 Landungsbrücken“ steht auf der digitalen Anzeige des Schiffes, das auf der rechten Seite des Anlegers angedockt hat. Es ist bereits mit zehn Passagieren besetzt. Ziel der meisten Fahrgäste: die Hamburger Landungsbrücken.
Zunehmend füllt sich das geschlossene Unterdeck mit weiteren Pendlern, die die Fähre zielstrebig ansteuern, routiniert den Türöffner betätigen und sich geradewegs auf einer der freien Sitzgelegenheiten niederlassen. Hier hat offenbar jeder seinen festen Platz. Letztendlich finden sich etwa 25 Menschen auf dem Schiff ein, mehrere davon mit Fahrrädern.
Bevor die Frühaufsteher die „Oortkaten“ entern – so heißt die blaue Fähre mit dem bunten „Heiße Ecke“-Schriftzug – sind die meisten an der Kaffeeklappe vor der Fährstation stehen geblieben. Dort versorgt Bärbel Wylezich die Menschen im Laden ihres Sohnes seit 4.30 Uhr mit Brötchen, Kaffee, Zeitungen und Zigaretten. „Es kommen immer die gleichen“, verrät die Verkäuferin aus Finkenwerder. „Und man redet mit allen ein paar Worte. Das ist auch für mich schön.“ Mit einigen Kunden duzt sie sich.
Das Fährangebot empfindet Bärbel Wylezich als großes Privileg für die Pendler: „Die Leute haben an Bord alle ihren Tisch und können in Ruhe in den Tag starten.“ Schon seit rund 30 Jahren betreibt ihr Sohn Thomas Wylezich das Geschäft, den „Dampfer Imbiss“, am Finkenwerder Fähranleger. Anfangs in einer kleineren Bude, später in dem neuen Gebäude mit Café und Sitzgelegenheiten, das im Zuge des Baus einer Flutschutzmauer hochgezogen wurde.
5.15 Uhr: Begleitet von einem lauten Warnton und gelben Blinklichtern lässt der Schiffsführer die Rampe von seiner Kommandobrücke aus einfahren und steuert die Fähre pünktlich in Richtung Bubendey-Ufer. Dass das Oberdeck menschenleer ist, liegt nicht nur am Hamburger Schietwetter – das erklärt Sven Pinkowski aus Finkenwerder: „Morgens geht noch keiner hoch, das kommt erst nachmittags, wenn die Touristen mitfahren.“
Der Flugzeugmechaniker ist einer der wenigen, die so früh am Morgen schon gesprächsfreudig sind. Viele Fahrgäste sind in ihre Lektüre vertieft, wischen auf dem Handy herum oder haben Stöpsel in den Ohren. Auf die Frage, ob er regelmäßig diese Fähre nehme, wedelt ein angesprochener Fahrgast wild mit den Armen und antwortet schroff: „Ich brauche meine Ruhe morgens!“
Sven Pinkowski ist die Ausnahme und gibt gern Auskunft. Er ist ein regelmäßiger Fährnutzer. „Ich fahre die Strecke jeden Werktag seit über zehn Jahren“, verrät der 49-Jährige. Während des Gespräches passiert die „Oortkaten“ die Haltestellen Bubendey-Ufer, Neumühlen/Ovelgönne, Dockland (Fischereihafen) und Altona (Fischmarkt). Die Kulisse wird zunehmend spektakulär: Das schräge Dockland-Gebäude und die Fischauktionshalle in Altona zur Linken, die Traditionswerft Blohm+Voss und ein einfahrendes Kreuzfahrtschiff zur Rechten – und zum krönenden Abschluss die Landungsbrücken mit Blick auf die Elbphilharmonie. Auch bei Regen ist diese Fährlinie wohl der schönste Arbeitsweg der Region.
Für den Lufthansa-Mitarbeiter Sven Pinkowski bietet die Fähre aber noch weitere Vorteile. „Es ist zwar nicht der kürzeste, aber der sicherste Weg zur Arbeit“, sagt er. Während andere vor dem Elbtunnel oder den Elbbrücken im Stau stehen oder regelmäßige Verspätungen bei der S-Bahn hinnehmen müssen, schippern die HADAG-Fähren zum HVV-Tarif verlässlich über den Fluss. „Die ersten Fähren am Morgen werden eigentlich besonders gut genutzt“, erklärt Pinkowski. Dass sich an diesem Tag nur 25 Fahrgäste an Bord befinden, sei der Ferienzeit in Niedersachsen geschuldet. Besonders die Rückfahrt am Nachmittag genießt der Techniker. „Auf der Fahrt auf der Elbe fällt alles von einem ab.“
5.43 Uhr: Nach einer knapp halbstündigen Fahrt legt die Fähre an der Endstation Landungsbrücken an. Sven Pinkowski und alle übrigen Passagiere steigen aus und machen sich auf die individuellen Wege zu ihren Arbeitsstätten. Leer ist das Schiff aber nur kurzzeitig: Für die direkte Rückfahrt versammeln sich schon 15 Menschen vor der „Oortkaten“ und drängen an Deck, als die Rampe wieder frei ist.
Die Stimmung ist etwas wacher als bei der Hinfahrt, die Gespräche drehen sich ausschließlich um den G20-Gipfel. „Das ist doch nicht normal“, beschwert sich jemand. Den Unterhaltungen lässt sich entnehmen, dass diverse Sperrungen und Busausfälle den Hamburgern die Anreise zu ihren Arbeitsplätzen erschweren. Am Fischmarkt steigen neue Fahrgäste hinzu. „Zurückbleiben bitte“, befiehlt die automatische Ansage, bevor die Elbfähre weiter in Richtung Finkenwerder gleitet.
Auf die Frage, warum sie die Fähre nutzen, bricht Gelächter in einer Gruppe von Männern in Arbeitskleidung aus. Die Mitarbeiter des Eurogate Container-Terminals wollen am Bubendey-Ufer aussteigen und haben keine andere Wahl: „Entweder du hast ein Auto oder du nimmst die Fähre. Anders geht es doch nicht“, erklärt ein langhaariger Mann, als gehöre diese Information zur Allgemeinbildung. Seinen Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen.
Um 6 Uhr befindet sich die „Oortkaten“ auf halber Strecke – in Finkenwerder wartet schon der nächste Fahrgastschub. Auch einige der folgenden Pendler haben bei Bärbel Wylezich im „Dampfer Imbiss“ vorbeigeschaut, dort den ersten Schnack des Tages abgehalten und werden ihre Plätze auf der Fähre einnehmen.
Für die Serie „24 Stunden: Reportagen rund um die Uhr“ verbringen TAGEBLATT-Redakteure je eine Stunde an einem Ort in der Region. Start und Ende der Serie ist 0 Uhr, was 24 Stunden und damit 24 Serienteile ergibt. Und das sind die Folgen:
- Teil 1: Bei der Polizei
- Teil 2: Im Pressehaus
- Teil 3: Beim Bäcker
- Teil 4: Bei der Post
- Teil 5: Auf der Jagd
- Teil 6: Auf der ersten Fähre
- Teil 7: Der Greenkeeper
- Teil 8: Im Industriehafen
- Teil 9: Bei der Straßenmeisterei
- Teil 10: Im Hotel
- Teil 11: Bei der Tagespflege
- Teil 12: In der Touristen-Information
- Teil 13: Am Imbiss
- Teil 14: Besuch beim Schäfer
- Teil 15: Der Bestatter
- Teil 16: Beim Brückenwärter
- Teil 17: Der Tierarzt
- Teil 18: Im Landgasthof
- Teil 19: In der Notaufnahme
- Teil 20: Bei der Fahrschule
- Teil 21: Auf dem Autohof
- Teil 22: Beim Lieferservice
- Teil 23: Bei der Ernte
- Teil 24: Neben einem Angler
