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24-Stunden-Reportage: Tierschau am frühen Morgen

Links: Jäger Joachim Gwosdz vor einem seiner Lieblingshochsitze von insgesamt 15 im Revier des Guts Daudieck. Rechts: „Die schießt noch wie Gift“ - Gwosdz mit seiner 1954 gebauten Merkel Drilling – für zwei Schrot- patronen und eine normale Patrone. Fotos: Bröhan

Links: Jäger Joachim Gwosdz vor einem seiner Lieblingshochsitze von insgesamt 15 im Revier des Guts Daudieck. Rechts: „Die schießt noch wie Gift“ - Gwosdz mit seiner 1954 gebauten Merkel Drilling – für zwei Schrot- patronen und eine normale Patrone. Fotos: Bröhan

Die erste Stunde auf einem der 15 Hochsitze im Revier Gut Daudieck ist ihm fast die liebste. Jäger Joachim Gwosdz genießt dann sein ganz privates Konzert. Im Morgengrauen gibt es meist auch mehr zu sehen. Ereignislos ist für Gwosdz keine Minute. Aber: Ein Jäger schießt nur selten.

Von Jan Bröhan Freitag, 07.07.2017, 12:00 Uhr

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Mit der beginnenden Dämmerung intonieren die Vögel ihre Gesänge, ein wildes Durcheinander in Harmonie. Joachim Gwosdz malt mit einer runden Handbewegung und wippenden Fingern durch die kühle, dunkle Waldluft. „Ist das nicht herrlich, dieses Konzert“, sagt er. Er liebt das. Er kann jeden Vogel an dessen Gesang erkennen. Der Jäger ist ein großer Genießer. Die Natur ist dabei das allumfassende Lebenselixier. Das wird schon auf dem kurzen Weg zum Hochsitz klar. „Hier ist der Eisvogel gern gesehener Gast, schöne Farben“, flüstert er beim Passieren eines noch schlafenden Teiches. Gwosdz’ Revier ist das Gut Daudieck, nur ein Steinwurf entfernt von seinem Haus in Horneburg. Das Gut Daudieck, das sind auf 200 Hektar Land- und Forstwirtschaft im Einklang, dazu Biotope, Teiche, Wiesen.

Der geräumige Hochsitz mit Ausblick zu allen Seiten steht an einer Lieblingsstelle von Gwosdz. In etwa 100 Meter Entfernung schlängelt sich die Aue unerkannt durch hohes Schilf. Davor hat Gutbesitzer Henning Brümmel erst kürzlich zwei Felder durch Mulchen freigelegt, links und rechts geben hohe Büsche und überwachsene Biotopflächen den Tieren Schutz. Schon nach fünf Minuten im Hochsitz zückt Gwosdz das gerade abgelegte Fernglas. Ein Reh betritt mit vorsichtigen Schritten die gemulchte Fläche, schaut nervös in alle Himmelsrichtungen. Und dann springt ein ungewöhnlich dunkles Kitz hinter hohen Gräsern hervor. „Eine Laune der Natur“, sagt Gwosdz über das schwarze Fell. Das Reh-Kitz-Duo hat er erst kürzlich gesichtet. Jäger beobachten zu 98 Prozent, bestimmen den Bestand, nur zwei Prozent sind Abschüsse, sagt Gwosdz. Fast eine halbe Stunde vergnügt sich das Kitz auf der Wiese, die Mutter grast ab und zu, ist die meiste Zeit aber angespannt. Das Reh weiß nicht, dass die Jäger ab dem 1. Mai nur die Böcke schießen dürfen. Das Rehwild ist standorttreu – und die großen Bestände müssen von den Jägern in Schach gehalten werden.

Die Dämmerung ist vom Tageslicht verdrängt. Dunkles Sonnenrot wandert hinter einer dichten Pappelreihe und großen Eichen entlang. Das Vogelkonzert ist weiter in vollem Gange. Da durchbricht ein männlicher Fasan mit lauter Krächzstimme das Gezwitscher und plustert sich mit zwei kurzen Flügelschlägen auf. „Der markiert sein Revier“, sagt Gwosdz. Er blickt durch sein Fernglas und murmelt etwas von der bunten Komposition der männlichen Fasane. „Das sind schöne Kerle“, stellt er dann fest. Den Fasanen- und den Hasenbestand schützen die Jäger im Gut Daudieck schon seit Jahren. „Eine bunte Vielfalt ist schön“, sagt Gwosdz. Dass das Rebhuhn fast verschwunden ist, bedauert er sehr. Ein Verband sei noch im Revier.

Der Fasan bleibt fast eine halbe Stunde, frisst, drei Mal krakeelt er seine Anwesenheit heraus. Ansonsten: leichter Wind und lautstarkes Gezwitscher.

Da erhebt sich weit hinten aus dem Schilf ein Fischreiher. Denkt Gwosdz. Er schaut durch sein Fernglas. „Nein“, flüstert er, „ein Kranich, wie majestätisch.“ Das sind geflüsterte Gedanken, Gedanken, die er auch allein auf dem Hochsitz hätte. Der 69-Jährige erfreut sich an alten Eichen, die „Geschichten erzählen können“, an dem Baumläufer, der „unermüdlich hoch und runter läuft“ an dem Baumstamm vorm Hochsitz, oder an der Meise in einem Zweig neben dem Hochsitz, die „nur für ihn singt“.

Der gebürtige Pole ist mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen. Er arbeitete in Kiel und Hamburg in der Schifffahrt, führende Stelle, oft stressig. „Zwei Stunden auf dem Hochsitz und die Batterie war wieder voll“, erzählt Gwosdz. Als Kind wollte er eigentlich Förster werden. Hat nicht geklappt. So machte er 1987 seinen Jagdschein. 25 Jahre lang hatte Gwosdz auch ein Revier in Polen. Von dem dortigen Förster habe er viel gelernt. „Der konnte Rotwild riechen“, erzählt Gwosdz und reibt dabei mit den Fingern vor seiner Nase. Er lächelt spitzbübisch. Im Flüsterton, dem erwachenden Tag angepasst, erzählt er vom Anpirschen, vom Pilzesammeln und Pflanzenbestimmen.

Der zentrale Blick aus dem Hochsitz, der aber auch zu allen anderen Seiten Luken hat. Hinter den gemulchten Feldern schlängelt sich die Aue entlang. Fernglas und der Jagdkalender für Notizen müssen immer dabei sein.

Wenige Meter entfernt vom Hochsitz hat Gwosdz eine Kamera angebracht, die filmt 24 Stunden am Tag, alle sieben bis zehn Tage wertet Gwosdz die Aufnahmen aus. „Ich warte auf den Wolf“, scherzt er, spitzbübisches Lächeln im Gesicht. Weniger amüsant sind für ihn die anwesenden „Prädatoren“, wie er die „immer hungrigen“ Jäger und Räuber nennt: Füchse, Marderhunde, auch Dachse. Vor allem die Füchse und Marderhunde seien stark vertreten. Der Marderhund sei von Russland über Polen eingewandert und hat sich breitgemacht. „Der hat schon ein ordentliches Auftreten“, charakterisiert Gwosdz den „grimmigen“ Marderhund. Er macht ein grimmiges Gesicht und lässt ein Lächeln folgen.

Wenn er einen Rehbock schießt, bricht er das Tier sofort auf und nimmt es aus. Das unverwertbare Gedärm entsorgt er in der Natur. „Das ist ratzi-fatzi weg“, sagt Gwosdz, die immer hungrigen Jäger eben. Gwosdz verwertet seine Beute ebenso komplett. Er schwärmt von Wild. Er kennt viele kulinarische Finessen. Wie lecker etwas ist, verdeutlicht er mit schnalzenden Zungengeräuschen. Genießer eben.

Reh und Kitz, Fasan, Kranich, noch ein Bussard, das Vogelkonzert ist seit einer Stunde unermüdlich, die freie Fläche vorm Hochsitz ist aber Stillleben – und dann huscht eine Bache mit sechs Frischlingen in Sekundenschnelle über ein Teilstück und verschwindet wieder im Schilf.

So ein Jagdausflug, oder besser, das Naturerleben, endet natürlich nicht nach der ersten Stunde. Nach dreieinhalb Stunden im Hochsitz und einer einstündigen Rundtour durch sein Revier, stellt Gwosdz fest: „Das Glück liegt so nah.“ Er lächelt.

 

Für die Serie „24 Stunden: Reportagen rund um die Uhr“ verbringen TAGEBLATT-Redakteure je eine Stunde an einem Ort in der Region. Start und Ende der Serie ist 0 Uhr, was 24 Stunden und damit 24 Serienteile ergibt. Und das sind die Folgen:

  • Teil 1: Bei der Polizei
  • Teil 2: Im Pressehaus
  • Teil 3: Beim Bäcker
  • Teil 4: Bei der Post
  • Teil 5: Auf der Jagd
  • Teil 6: Auf der ersten Fähre
  • Teil 7: Der Greenkeeper
  • Teil 8: Im Industriehafen
  • Teil 9: Bei der Straßenmeisterei
  • Teil 10: Im Hotel
  • Teil 11: Bei der Tagespflege
  • Teil 12: In der Touristen-Information
  • Teil 13: Am Imbiss
  • Teil 14: Besuch beim Schäfer
  • Teil 15: Der Bestatter
  • Teil 16: Beim Brückenwärter
  • Teil 17: Der Tierarzt
  • Teil 18: Im Landgasthof
  • Teil 19: In der Notaufnahme
  • Teil 20: Bei der Fahrschule
  • Teil 21: Auf dem Autohof
  • Teil 22: Beim Lieferservice
  • Teil 23: Bei der Ernte
  • Teil 24: Neben einem Angler
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