Der strenge Glauben der Zeugen Jehovas

Der Hauptsitzes der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas Deutschland ist in Berlin. Foto: Britta Pedersen/dpa
Nach dem Amoklauf in einer Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas herrscht große Bestürzung. Im Alltag der meisten Menschen ist die Gemeinschaft sonst wohl nicht sonderlich präsent. Das hat durchaus Gründe.
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Von Sebastian Fischer
Nach der tödlichen Bluttat in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg rückt die christliche Gemeinschaft mit ihrem Glauben in den Fokus. Den meisten Menschen werden die Anhänger erkennbar begegnen, wenn sie etwa an Haustüren klingeln oder in Fußgängerzonen ihre Magazine und Bücher anbieten. An Orten wie dem Arbeitsplatz sind sie weniger auffällig. Das hat auch etwas mit dem Selbstverständnis ihres Glaubens zu tun.
Denn die Gemeinschaft will nach Expertenansicht kein Teil dieser Welt sein. „Das gesamte Leben eines Mitglieds bezieht sich auf die Zeugen Jehovas“, erklärt der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Matthias Pöhlmann der Deutschen Presse-Agentur. Enge Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Gemeinde seien eher unwichtig.
Glaube an bevorstehenden Weltuntergang
Nach der Lehre glauben sie zwar an den christlichen Gott (Jehova), grenzen sich aber massiv von den anderen christlichen Kirchen ab. Feste wie Ostern und Weihnachten begehen sie nicht. Das Kreuz als Symbol ist bei ihnen nicht zu finden. Den anderen Kirchen wirft die Gemeinschaft vor, sich von der wahren Lehre der Bibel abzuwenden. „Die Zeugen Jehovas sind stark fundamentalistisch geprägt“, sagt Pöhlmann. Die Organisation verstehe sich als theokratisch, sieht sich also vom Wort Gottes geleitet.
Die Anhänger unterwerfen sich den strengen Vorschriften ihrer eigenen Bibelübersetzung. Sie glauben an einen bald bevorstehenden Weltuntergang und sind davon überzeugt, dass sie nach einer Entscheidungsschlacht zwischen Jehova und dem Bösen („Armageddon“) als auserwählte Gemeinde für das Reich Gottes gerettet werden.
Geburtstage werden nicht gefeiert
Die Ursprünge reichen zurück bis ans Ende des 19. Jahrhunderts: auf die Verlagsgesellschaft der Bibelforscher von Charles Taze Russell in den USA. Russells Ziel sei gewesen, so die Zeugen Jehovas: „Wieder das lehren, was Jesus Christus lehrte, und das Christentum so leben, wie es die Urchristen praktizierten.“
Weltlichen Bräuchen versagen sich die Gläubigen weitestgehend: Geburtstage werden nicht gefeiert, dem Staat stehen sie distanziert gegenüber. An Wahlen nehmen sie nicht teil. Übermäßiger Alkohol- und Tabakgenuss werden ebenso abgelehnt wie Bluttransfusionen.
Verfolgung während NS-Zeit
Während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus wurden die Zeugen Jehovas massiv verfolgt. Denn sie unterwarfen sich nicht dem NS-Terrorregime, zeigten keinen Hitlergruß und schickten ihre Kinder nicht in die Hitlerjugend. Nach Angaben des Holocaust Memorial Museums in Washington kamen mindestens 3000 Glaubensanhänger in Konzentrationslager, mehr als die Hälfte starb.
Heute gibt es weltweit mehr als acht Millionen Anhänger, die deutsche Gemeinschaft mit etwa 170 000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa. Gläubige kommen in sogenannten Königreichssälen zusammen - meist schlichten, schmucklosen Räumen. Dort beten sie Jehova an und lernen über dessen Königreich. „Solch ein Treffen dient auch der Schulung der Mitglieder“, erklärt Experte Pöhlmann. Denn an Ständen auf der Straße und in Gesprächen an Wohnungstüren müssen sie als Teil ihres Glaubens missionarischen Dienst leisten, also für ihre Gemeinschaft werben.
Zeugen Jehovas aus den USA
Die „Weltzentrale“ ist in Warwick (US-Bundesstaat New York). Dort tagt auch das Leitungsgremium aus neun Männern. Diese kleine Gruppe sieht sich als „Nachfolger Jesu, die mit Gottes Geist gesalbt sind“. Sie erstellen ohne Nennung ihrer jeweiligen Autorenschaft Aufsätze und Auslegungen, die als strenge Grundlage für Leben und Glauben dienen, für Zeitschriften wie „Der Wachtturm“ oder „Erwachet!“.
„Es handelt sich bei den Zeugen Jehovas um ein geschlossenes Glaubenssystem mit hierarchischem Druck und sozialer Kontrolle“, analysiert Pöhlmann. Vom Einzelnen werde blinder Gehorsam verlangt. Bei Verstößen drohten Konsequenzen. Glaubenssätze infrage zu stellen, ist nicht vorgesehen. „Uneinsichtige Mitglieder, bei denen keine Reue zu erkennen ist, werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen“, erklärt Pöhlmann. Die Zeugen Jehovas seien „Propheten der Angst“. Das belegten viele Aussteigerberichte. (dpa)