„Die Zahlen sind eindrucksvoll“ – Mehr Anrufe bei der Telefonseelsorge

Die Mitarbeiter bei der Telefonseelsorge arbeiten ehrenamtlich rund um die Uhr. Foto: Markus Scholz/dpa
Familienzwist, Alleinsein, psychische Probleme - auch 2024 suchten Tausende Menschen Rat bei der Telefonseelsorge. Was ihnen zu schaffen macht.
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Stade. 50.300 Gespräche wurden im Jahr 2024 in den sechs Telefonseelsorgestellen in der hannoverschen Landeskirche geführt. Hinzu kamen 5895 Gespräche per Chat und 1951 Seelsorgekontakte per Mail. Diese Zahlen gab jetzt Daniel Tietjen, landeskirchlicher Beauftragter für die Telefonseelsorge und Leiter der Stader Seelsorge im Elbe-Weser-Raum, bekannt.
„Diese Zahlen sind eindrucksvoll“, so Tietjen. „Am Telefon waren es insgesamt durchschnittlich 137 Gespräche pro Tag in unseren sechs Stellen oder eben 23 Gespräche pro Stelle und Tag.“ Geführt wurden diese Gespräche von etwa 450 ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern, die nach einer sorgfältigen Ausbildung regelmäßig in den Telefonseelsorgestellen Dienst tun.

Daniel Tietjen leitet die Telefonseelsorge im Elbe-Weser-Raum mit den Dienststellen Stade und Bad Bederkesa. Foto: Landeskirche Hannover
Neben der Telefonseelsorgestelle Elbe-Weser mit Standorten in Bad Bederkesa und Stade gibt es in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers fünf weitere Einrichtungen in Soltau, Göttingen, Wolfsburg, Osnabrück und Hannover.
Seelsorge auch per Chat – Millionen Minuten im Jahr 2024
Ein Seelsorgegespräch am Telefon dauert im Schnitt etwa 30 Minuten; der Kontakt im Chat umfasst durchschnittlich 40 Minuten. Um die Dimension deutlich zu machen, wagt Daniel Tietjen eine Zahlenspielerei: „Insgesamt haben unsere ehrenamtlich Mitarbeitenden im vergangenen Jahr 1.509.000 Minuten am Telefon und 235.800 Minuten im Chat verbracht. In einer Gesamtzahl ausgedrückt: Diese 450 Menschen haben sich 2024 für mehr als 1.800.000 Minuten als Seelsorgende am Telefon, im Chat und per Mail engagiert.“
Schwierig zu beantworten sei die Frage, ob der Bedarf gegenüber dem Vorjahr gewachsen sei, so Tietjen weiter. Die Statistik der Telefonseelsorge erfasst aus Gründen des Datenschutzes anonymisiert nur die tatsächlich geführten Gespräche, während versuchte Anrufe nicht in die Statistik einfließen. „Gleichzeitig sehen wir, dass mehr Gespräche am Telefon, im Chat und per Mail geführt wurden. Dies macht deutlich, dass der Bedarf an Seelsorge weiterhin sehr hoch ist“, erklärt der Beauftragte.
Mehr Einsamkeit, mehr familiärer und beruflicher Druck
Inhaltlich seien insbesondere die Themen Einsamkeit, Depressionen, Suizidgedanken, familiäre Beziehungen, Ängste sowie körperliches und seelisches Befinden Gegenstand der Seelsorgekontakte gewesen.
„Wir hören oft Sätze wie: ,Ich habe heute noch mit niemandem gesprochen‘“, bestätigt Ludger Storch, Vorsitzender der bundesweiten Telefonseelsorge-Arbeitsgruppe Statistik. Viele Anrufer fühlten einen stark wachsenden Druck - familiär und beruflich. Die Menschen klagten über eine massive Verdichtung der Arbeit. Andere schildern finanzielle Not. Etwa ein Drittel der Ratsuchenden leide nach eigenen Angaben unter Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung.
Ein Forsa-Umfrage der Techniker Krankenkasse zum Jahresende 2024 bestätigt: Junge Erwachsene in Deutschland fühlen sich häufiger einsam als ältere. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Befragten im Alter von 18 bis 39 Jahren gaben an, häufig, manchmal oder selten einsam zu sein. Bei älteren Befragten ab 40 Jahren trifft das nur auf etwa jeden Zweiten zu. Erwachsene unter 40 empfinden Einsamkeit nicht nur häufiger, sie leiden auch mehr darunter, so die Umfrage.
Auch die derzeitige Weltlage komme oft zur Sprache und schlage Anrufern auf das Gemüt. „Der Grundton ist dann: Wir leben in einer schwierigen Zeit, mit Krisen, Kriegen und Inflation. Das schwingt in vielen Gesprächen mit - obwohl das eigentliche Thema des Anrufers ein anderes ist“, erläutert Storch. „Aber viele Leute wirken dadurch bedrückt und belastet.“
Nachts kommen häufig die Probleme hoch
„Nachts rufen viele Menschen an, die den Alltagsstress abgelegt haben und jetzt jemanden zum Austauschen suchen“, berichtet Bernd Kramer, einer der ehrenamtlichen Zuhörer in Stade. Es gebe auch Anrufer, die regelmäßig zu bestimmten Uhrzeiten anrufen. „Oft rufen gerade ältere oder kranke Menschen an, die niemanden mehr zum Reden haben“, sagt er weiter.
Viele Menschen riefen zudem in Abständen mehrmals an und wollten darüber sprechen, wie sich ein Problem weiterentwickelt habe.
„Unverändert stellen wir fest, dass die niedrigschwelligen Angebote der Telefonseelsorge für viele Menschen eine wichtige Unterstützung sind“, sagt Leiter Tietjen. Er rechnet auch für das Jahr 2025 mit einem hohen Bedarf.
Die Telefonseelsorge Elbe-Weser ist rund um die Uhr telefonisch unter 0800/110111 erreichbar. Einen Chattermin vereinbart man über die Homepage www.telefonseelsorge-elbe-weser.de. Alle Anrufe und Chats sind kostenlos, anonym und vertraulich. (pm/tip)