„Du warst so tapfer“: Botschaften für Anne Frank in Bergen-Belsen

Das jüdische Mädchen Anne Frank, das durch ihre Tagebuchaufzeichnungen im Versteck ihrer Familie in Amsterdam während des Zweiten Weltkriegs bekannt wurde. Foto: -/ANP/dpa
Mit nur 15 Jahren stirbt Anne Frank in Bergen-Belsen - im Frühjahr vor 80 Jahren. Ernst und emotional zeigen sich Schüler-Gruppen an ihrem Gedenkstein. Und haben eine große Sorge.
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Bergen . Am schlechten Empfang liegt es nicht, dass die Zehntklässler an diesem sonnig-frostigen Februarmorgen ihre Handys in den Jackentaschen fast vergessen. Eher daran, dass das weite ehemalige KZ-Gelände Bergen-Belsen am Rande der Lüneburger Heide für die Schrecken des Nationalsozialismus steht. Viele halten ein wenig inne. „Das ist für mich sehr emotional“, sagt die 15 Jahre alte Pauline beim Anblick des Fotos von Anne Frank an einer Schautafel im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte.
„Ich kenne sie schon ein Leben lang“, erzählt die Schülerin der 10. Gymnasialklasse aus Soltau. Sie habe das legendäre Tagebuch, das in mehr als 70 Sprachen übersetzt wurde, von ihrem Vater geerbt, zudem Filme und Dokumentationen gesehen. Das jüdische Mädchen bekam zu ihrem 13. Geburtstag von den Eltern ein Büchlein geschenkt, sie berichtet darin aus den zwei Jahren in ihrem Hinterhof-Exil in Amsterdam.

Ingrid Schön absolviert ihr freiwilliges soziales Jahr in der Gedenkstätte. Foto: Philipp Schulze/dpa
Dorthin war die Familie aus Frankfurt vor der zunehmenden Judenverfolgung emigriert. Nachdem das Versteck 1944 aufgeflogen war, wurde sie nach Auschwitz deportiert, später getrennt. Anne und ihre ältere Schwester Margot kamen in das Lager im Landkreis Celle.
Tausende sterben an Typhus und Fleckfieber
Kurz vor der Befreiung durch die Briten soll zunächst Margot im Frühjahr vor 80 Jahren, kurze Zeit später Anne gestorben sein. „Die Epidemien Typhus und Fleckfieber grassierten, es gab keine Häftlingsärzte“, erzählt Stephanie Billib, Sprecherin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. „Die Situation war katastrophal.“ Es gab kaum Essen und häufig kein Wasser. 35 000 Menschen starben allein zwischen Anfang Januar und Mitte April 1945 an Hunger und Krankheiten.
Weil es nur wenige Dokumente gibt, geht man davon aus, dass Anne und ihre Schwester im Februar/März gestorben sind. Niemand weiß es genau. Die Leichname der Mädchen müssen in die Massengräber gebracht worden sein, die das Gelände auch zu einem großen Friedhof machen. Rund 120 000 Menschen waren unter NS-Herrschaft nach Bergen-Belsen deportiert worden, mehr als 52 000 starben.

Gedenkstein für Margot und Anne Frank auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Foto: Philipp Schulze/dpa
Als die britischen Truppen am 15. April 1945 ankamen, fanden sie Tausende unbestattete Tote und Zehntausende todkranke Menschen auf dem Gelände. Kurz vorher war Anne im Alter von 15 Jahren ums Leben gekommen.
„Ich wusste gar nicht, dass sie hier gestorben ist“, sagt Myada, als sie mit ihrer Klasse den Gedenkstein für die beiden Schwestern erreicht. „Wir kennen ihre Geschichte, aber zu realisieren, dass sie hier gestorben ist, wo wir gerade sind, das ist ein erstaunlicher Moment“, meint die 16-Jährige. Grablichter, Plastikblumen und ein Foto erinnern an das bekannteste Opfer. Insgesamt sollen 3.500 Kinder unter den Gefangenen gewesen sein.
„Du warst so tapfer, ich bewundere dich“
In einer Gedenkhalle liegen etliche Botschaften und Zettel, darunter ein an Anne adressierter, langer Brief. „An Anne Frank, im Himmel bei Gott“ lautet die verzierte Adresse auf dem Umschlag. Eine 13-Jährige schreibt, dass sie wohl gute Freundinnen geworden wären, hätten sie in der gleichen Zeit gelebt. Das Tagebuch sei auch ihr bester Freund.

„Bergen-Belsen 1940 bis 1945“ steht auf einer Mauer auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Foto: Philipp Schulze/dpa
„Du warst so tapfer, ich bewundere dich“, heißt es in dem rührenden Schreiben. „Der grausame Krieg, die Judenverfolgung ist vorbei.“ Das Traurige sei aber, dass die Familie Frank - bis auf den Vater - nicht überlebt habe.
Dass Ausgrenzung und Intoleranz auch heute wieder zunehmen, davor hat Zehntklässlerin Pauline Angst: „Mit der AfD, das macht mir Sorgen.“ Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP sei genauso groß geworden, habe immer mehr Raum bekommen.
Verantwortung für die Demokratie übernehmen
„Es hat langsam angefangen damals, ich habe Angst, dass die Faschisten wiederkommen“, sagt auch Mitschüler Timo Ryan. Ein Weltkrieg sei etwas, was auch heute nicht auszuschließen sei: „Wenn man nichts dagegen tut.“ Was er an den Themen in der Gedenkstätte gut findet: „Nicht, weil du Deutscher bist, bist du schuld. Sondern, wenn es wieder passiert, wärst du schuld.“
Der 15-Jährige möchte Verantwortung für die Demokratie übernehmen, er will nach dem Abitur voraussichtlich die Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr anstreben.
Auch Ingrid Schön sieht ihr freiwilliges soziales Jahr in Bergen-Belsen als gute Vorbereitung auf ein duales Studium in der Bundeswehr-Verwaltung. Sie begleitet einige der 1200 Gruppen pro Jahr, die meisten sind Schulklassen. „Anne Frank ist Pflichtlektüre, aber viele kennen die Zusammenhänge nicht“, erzählt die 20-Jährige während des Rundgangs.
Der Ort macht manche Schüler sprachlos
Auch, wie hart die Bedingungen in der flachen, ungeschützten Heide-Landschaft waren: im Winter die Eiseskälte, im Sommer die Hitze. 30 aufbewahrte Tagebücher erzählen von der Tortur jener grausamen Zeit.
Die Schülerinnen und Schüler der Gymnasialklasse aus Soltau gehen konzentriert und ernst durch ihren Studientag. „Das ist eine tolle Truppe, sie entwickeln eigene Gedanken und stellen Fragen“, sagt Lehrer Matthias Neumann. „Dieser authentische Ort macht manche Schüler aber auch sprachlos“, erzählt Tim Rose, der sie durch die Ausstellung führt. Jeder gehe anders mit den Eindrücken um. (dpa)

Tim Rose steht im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen. „Dieser authentische Ort macht manche Schüler aber auch sprachlos“, sagt er. Foto: Philipp Schulze/dpa