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„Erste Hilfe für die Seele“: Wie das Kriseninterventionsteam Menschen unter Schock betreut

Malte Stüben, Sozialpädagoge und Teamleiter des Kriseninterventionsteams (KIT) des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), und Nina Satya Paulsen, Psychologin und psychiatrische Psychotherapeutin, stehen an ihrem Einsatzfahrzeug auf dem Gelände des DRK-Kreisverbands Hamburg-Harburg e. V. Foto: Marcus Brandt/dpa

Malte Stüben, Sozialpädagoge und Teamleiter des Kriseninterventionsteams (KIT) des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), und Nina Satya Paulsen, Psychologin und psychiatrische Psychotherapeutin, stehen an ihrem Einsatzfahrzeug auf dem Gelände des DRK-Kreisverbands Hamburg-Harburg e. V. Foto: Marcus Brandt/dpa

Auf eine Todesnachricht reagieren die meisten Angehörigen mit einem Schock. Sie können nicht fassen, dass ein geliebter Mensch tot ist. Das Hamburger Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes leistet "Erste Hilfe für die Seele". Dabei hilft oft: ein Teddy.

Dienstag, 28.02.2023, 08:00 Uhr

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Von Bernhard Sprengel

Wenn das Hamburger Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zu einem Einsatz fährt, sind immer Teddybären dabei. Einige der Kuscheltiere haben die Mitarbeiter in ihrem Dienstrucksack, ein größerer Vorrat befindet sich in einer Kiste im Kofferraum ihres Fahrzeugs. Die Teddys sind oft genauso wichtig wie das eigentliche Erste-Hilfe-Material. Denn das, was das Team leistet, ist nach den Worten seines Leiters Malte Stüben "Erste Hilfe für die Seele". Und die Betroffenen sind häufig Kinder.

Bei rund einem Viertel der Einsätze geht es um die Betreuung von Angehörigen nach einem Suizid. In einem weiteren Viertel begleitet das Kriseninterventionsteam die Polizei bei der Überbringung von Todesnachrichten. Bei den übrigen Fällen handelt es sich um Verkehrs- oder Arbeitsunfälle, Reanimationen und andere akute Ereignisse, erklärt der Diplom-Sozialpädagoge. Für Kinder, die eine solche Situation erleben, könne der Moment potenziell traumatisierend sein. "Durch die psychosoziale Akuthilfe können wir auch Traumafolgestörungen abwenden", sagt Stübens Kollegin Nina Paulsen.

Jeder Mensch reagiert anders

Am vergangenen Heiligabend wurde das Team zu einem Einsatz gerufen, bei dem ein Vater reanimiert werden musste. Stüben und seine Kollegen kümmerten sich um die Ehefrau und die drei Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren. "Das hält den Einsatzkräften am Patienten den Rücken frei", sagt der 46-Jährige. Der Vater kam schließlich ins Krankenhaus, ob er überlebt hat, kann Stüben nicht sagen.

Bei einem Notfall reagieren Zeugen und Angehörige der Verunglückten sehr unterschiedlich. Manche schreien laut und weinen, doch gerade Kinder sind oft sehr leise und ziehen sich zurück, wie Stüben sagt. In der unmittelbaren Schocksituation hilft es manchmal nicht, nur zu reden. Paulsen kann ihren ersten Einsatz nicht vergessen: Eine ganze Nacht lang saß die Diplom-Psychologin mit einem Teddybären bei einer Elfjährigen im Bett. Die Mutter des Mädchens hatte sich gerade das Leben genommen.

Den Hinterbliebenen falle es meist schwer, den Tod eines geliebten Menschen zu realisieren. Die Polizei überbringe ihnen die Todesnachricht. Doch dann komme nach kurzer Zeit oft die Frage: "Sind Sie sicher, dass das mein Mann ist, der gestorben ist?" Die Mitarbeiter sind von der Polizei informiert worden und können Auskunft geben. Um Trösten geht es in dieser Phase noch gar nicht.

Einsätze bleiben in Erinnerung

"Die erste Phase ist eigentlich das Realisieren dessen, was man gerade erleben musste oder über die Polizei gehört hat", sagt Stüben. In diesem Schockmoment stehe das Team den Betroffenen bei. "Wir verschönern das auch nicht" erklärt Paulsen. Die 41-Jährige betont: "Es ist einfach wichtig, dass die Menschen die Information bekommen, die sie bekommen müssen. Sonst gibt es keine Möglichkeit zu realisieren, dass ein geliebter Mensch nicht doch noch mal heute Abend durch die Tür kommt."

Vor einigen Jahren sei das Team in einer Flüchtlingsunterkunft im Einsatz gewesen, nachdem dort ein zweijähriges Kind überfahren wurde. Mit dem Vater habe er sich auf Englisch verständigen können, sagt Stüben. Aber der Mann habe nicht begreifen können, dass sein Kind tot ist. Er wollte es nur sehen. Stüben sorgte dafür, dass der Rettungswagen mit dem Leichnam am Unfallort blieb und der Vater sein totes Kind streicheln und küssen konnte. "Es ging nicht um viele Worte", erinnert sich Stüben, der selbst Vater von drei Kindern ist.

Das Kriseninterventionsteam bleibt manchmal nur kurze Zeit am Einsatzort, bis Angehörige, Freunde oder Nachbarn die Betreuung übernehmen. Dann sei es gut, auch schnell wieder zu gehen, sagt Paulsen. Zuvor klären die Mitarbeiter über mögliche Belastungsreaktionen auf und geben Informationen zu Beratungs- und Hilfsangeboten in Hamburg.

Auch beim Kriseninterventionsteam fließen manchmal Tränen

"Es fließt manchmal auch bei uns eine Träne, aber wir sind handlungsfähig", sagt Stüben. Wenn irgendmöglich, fahren immer zwei Mitglieder des insgesamt 55-köpfigen Teams gemeinsam zu einem Einsatz. "Das hat mit der eigenen Psychohygiene zu tun", sagt Paulsen. Nach dem Einsatz gehen die Helfer erst mal einen Kaffee trinken oder reden auf der Rückfahrt im Auto miteinander. Regelmäßig gibt es sogenannte Supervisionen, bei denen die Eindrücke unter fachkundiger Anleitung besprochen werden.

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Teams melden sich für zwei bis drei Bereitschaften pro Monat, für jeweils 24 Stunden. Dass sie nicht alarmiert werden, ist die Ausnahme. Im vergangenen Jahr bewältigte das Team 506 Einsätze, so viele wie noch nie seit Gründung der Einrichtung vor 25 Jahren, sagt der Pressesprecher des DRK-Kreisverbandes Hamburg-Harburg, Stefan Glowa. In 187 Fällen mussten die Helfer Kinder und Jugendliche unterstützen. Eine Bezahlung oder auch nur Entschädigung bekommen die Mitarbeiter nicht.

Bevor neue Teammitglieder in einen Einsatz gehen, müssen sie eine anderthalbjährige theoretische und praktische Ausbildung absolvieren. Paulsen betont, dass nicht nur Psychologen oder Sozialarbeiter im Team willkommen seien. Es komme auf die persönlichen und charakterlichen Eigenschaften an, sagt Stüben. "Die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich in Sekunden auf wildfremde Menschen einzustellen, die gerade das Schlimmste in ihrem Leben erleben, das kann man in der Theorie nicht vermitteln." (dpa)

 

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