Mehr psychisch Kranke – Ochsenzoll wieder auf dem Weg zur Großklinik

Ein Schild mit der Aufschrift «Psychiatrisch-Psychotherapeutisches Ambulanzzentrum» (PAZ) steht am Eingang zur psychiatrischen Klinik der Hamburger Asklepios-Klinik Nord / Ochsenzoll. Foto: Daniel Bockwoldt/dpa
Vor bald 50 Jahren gerieten psychiatrische Großkliniken wie in Hamburg-Ochsenzoll in die Kritik. Die Patienten sollten ambulant und wohnortnah versorgt werden. Heute wächst die Zahl der Betten wieder stark - vor allem für Kranke, die nicht freiwillig kommen.
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Von Bernhard Sprengel, dpa
130 Jahre nach ihrer Gründung stellt die starke Zunahme psychiatrischer Erkrankungen die Hamburger Asklepios-Klinik Nord/Ochsenzoll vor große Herausforderungen. Seit Mitte der 1970er Jahre hatten sich Therapeuten und Sozialarbeiter für den Abbau der Großkliniken in Deutschland eingesetzt. Chronisch kranke Patienten sollten nicht mehr in der Klinik, sondern in ihrem Stadtteil oder zu Hause leben, erklärt der Ärztliche Direktor der Klinik, Prof. Claas-Hinrich Lammers (61). Seit Mitte der 90er Jahre gab Ochsenzoll einen Großteil seines Geländes im Hamburger Norden zum Wohnungsbau ab. "Jetzt schlägt das Pendel wieder zurück", sagt Lammers. "Unser Nachteil Größe wird zum Vorteil."
1000 stationäre Behandlungsplätze in Ochsenzoll
Ochsenzoll wurde 1893 als "Landwirtschaftliche Kolonie für Geisteskranke" auf 130 Hektar Waldgebiet gegründet. Die Patienten lebten in Pavillons, wo sie bis zu 20 Jahre ihres Lebens verbrachten. 1914 hatte die "Irrenanstalt Langenhorn" gut 1800 Betten.
Heute verfügt die Klinik über rund 1000 Behandlungsplätze für stationäre Patienten. Sie bleiben im Schnitt 20 Tage. Zu Ochsenzoll gehören auch ein Standort in Wandsbek mit 100 Betten sowie acht Tageskliniken, verteilt über die ganze Stadt. Dennoch ist der Bedarf größer als das Angebot. Vor allem die Nachfrage in der Ambulanz auf dem Klinikgelände habe "bombastisch" zugenommen, sagt Lammers. Das Krankenhaus stößt an seine Grenzen. Für den Aufbau einer Kinder- und Jugendpsychiatrie ist auf dem Gelände kein Platz.
Forensische Abteilung ist überbelegt
Besonders groß ist die Not in der forensischen Abteilung, also in dem geschlossenen Bereich zur Unterbringung psychisch kranker Straftäter. "Die Zahl der Forensik-Betten hat überall in Deutschland zugenommen, wirklich dramatisch", sagt der Klinikdirektor. Nach Angaben der Sozialbehörde hat sich die Zahl der psychisch kranken Straftäter im Hamburger Maßregelvollzug in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht. 2002 gab es 116 Insassen, Anfang dieses Jahres 350. Die Klinik in Ochsenzoll verfügt über 325 Plätze. In diesem Jahr sollen 40 hinzukommen, im nächsten Jahr 10.
Wegen der Überbelegung nehme die Klinik keine Patienten mehr auf, die auf richterliche Anordnung nur vorläufig untergebracht werden sollen, sagt Lammers. Verurteilte Patienten müssen dagegen aufgenommen werden. Sie kommen in eine gefängnisartige Station, umgeben von einer hohen Mauer mit Stacheldraht. Für eine Kunstausstellung zum Jubiläum hat die Klinik einen Eingang in der Mauer geöffnet. In dem für Besucherinnen und Besucher zugänglichen Bereich befindet sich ein Café, das mit einem idyllischen Außenbereich überrascht. "Wir sind ein Krankenhaus", betont eine Therapeutin mit Blick auf die freundliche Gestaltung des Gartenlokals.
Elektroschocks gegen Depressionen
Weit über 90 Prozent der Patienten kommen nach Angaben von Lammers freiwillig nach Ochsenzoll. In der Bevölkerung sei der Ort aber noch mit Ängsten verbunden. "Unsere Vorstellung von Psychiatrie ist geprägt von Filmen", sagt Lammers. Dort seien die Einrichtungen negative Orte mit alten Gemäuern, Stahltüren, Zwangstherapien und Elektroschockbehandlungen. Letztere seien allerdings zu Unrecht in Verruf geraten. Die heute als Elektrokonvulsionstherapie (EKT/Elektroheilkrampfbehandlung) bezeichnete Behandlung sei eine sehr gute Therapie, wenn auch aufwendig und teuer. "Dennoch machen wir das, und zwar weil es für bestimmte Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen eine extrem wirksame und zum Teil wirklich lebensrettende Methode ist", sagt der Klinikdirektor. Er spricht von einer Renaissance der in den 1930er Jahren entwickelten Therapie.
Patienten werden nur noch freiwillig und unter Narkose mit Elektroimpulsen behandelt. Eine Behandlung auf richterliche Anordnung ist seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Junge Medizinstudenten bezeichneten die Methode oft als brutal, berichtet Lammers. Er antworte darauf mit einem Vergleich zur Chirurgie: "Einen Bauch aufzuschneiden, ist auch nicht gerade hübsch. Aber man macht es, weil man sagt, das ist der einzige Weg, diesen Menschen zu helfen."
Bei der Elektrokonvulsionstherapie wird das Gehirn für wenige Sekunden mit sehr kurzen elektrischen Impulsen über die Kopfhaut stimuliert. Dadurch werde ein Teil der Nervenzellen zu einer Aktivität im gleichen Takt angeregt, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Wirksam sei nicht der elektrische Strom, sondern die vorübergehende koordinierte Aktivität der Nervenzellen. Bei wiederholter Anwendung würden hirneigene Heilungsprozesse angestoßen. "Vornehmlich Patienten mit depressiven und psychotischen Beschwerden sprechen gut auf die Therapie an", heißt es in einem Ratgeber für Patienten und Angehörige.
Ochsenzoll gedenkt der Euthanasie-Opfer
Die Klinik in Ochsenzoll will Ängste in der Bevölkerung abbauen und hat darum Anwohner und Interessierte in diesem Jahr zu mehreren Veranstaltungen eingeladen. Lammers glaubt, dass durch solche und ähnliche Bemühungen schon viel erreicht worden ist: "Die Akzeptanz für psychisch Kranke ist extrem gestiegen, gleichwohl ist noch Luft nach oben."
Offen geht Ochsenzoll auch mit seiner dunklen Geschichte um. Vor dem Haupteingang zum Verwaltungsgebäude erinnern Tafeln an das Schicksal von über 3600 Patienten mit Behinderungen, die in der NS-Zeit ab 1940 in Tötungs- und Verwahranstalten gebracht wurden. Mehr als 2400 von ihnen fanden dabei den Tod.