Mörder an tauber Rentnerin gesucht: Was Cold Case Unit probiert

Ein Team der Cold Case Unit des Landeskriminalamts (LKA) Schleswig-Holstein in Kiel ermittelt unerbittert. Foto: Christian Charisius/dpa
187 Tötungsdelikte sind in Schleswig-Holstein ungeklärt. Eine „Cold Case Unit“ gibt wie im Fall Linde Perrey nicht auf. Und können selbst bei Erfolgen scheitern.
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Kiel . Manche Fälle lassen Kriminalisten nicht los. Der gewaltsame Tod der alleinstehenden und gehörlosen Linde Perrey ist so einer. „Die Tat erscheint besonders verwerflich“, sagt Hajo Plähn, der Leiter der sogenannten „Cold Case Unit“ (CCU) des Landeskriminalamts in Kiel. „Irgendwie wurmt es mich schon, dass so eine Tat ungeklärt bleibt.“ Fünf Ermittler kümmern sich um schwere Verbrechen wie dieses.
Die 72-jährige Linde Perrey wurde am 18. Juni 2016 tot in ihrer Wohnung im Kieler Stadtteil Schreventeich gefunden. Die kranke, nicht vermögende Frau war auf einen Rollator angewiesen. Geldbörse und Mantel sind verschwunden. Die Ermittler gehen von einem Mann als Täter aus.
Plähn und sein Team sind nicht vom aktuellen Tagesgeschäft getrieben. Sie rollen seit 2015 alte Fälle neu auf. Ihr Fundus enthält 187 ungeklärte Tötungsdelikte aus dem Norden ab Ende der 1960er Jahre. „Die meisten Kapitalverbrechen in Schleswig-Holstein wurden aber aufgeklärt“, sagt der 60-Jährige.
Tat im Fokus
Die Ermittler schauen sich den Tatort nochmal genau an, gehen die Akten durch, analysieren die Arbeit ihrer Kollegen und suchen neue Ansätze. „Wir haben uns den Fall neu erschlossen“, sagt Plähn. Bei Erstbefragungen von Zeugen seien im Fall Perrey in den ersten Jahren gewisse Frage-Schwerpunkte, die heute im Fokus der Ermittler stünden, nicht angesprochen worden. Sie gehen zudem neuen Ermittlungsansätzen nach, befragen neue Zeugen.

Ein Mitarbeiter beim Landeskriminalamt in Kiel hält ein DNA-Probengefäß vor einem Pipettierroboter in der Hand. Foto: Frank Molter/dpa
Der Fall war auch Thema in der ZDF-Reihe „Aktenzeichen XY... Ungelöst“. Noch immer läuft eine sogenannte DNA-Reihenuntersuchung. Bereits 1.340 Speichelproben wurden untersucht. Ein Treffer war nicht dabei. Die Probenabgabe ist freiwillig. Häufig kontaktieren die Ermittler Menschen, die grundsätzlich in Betracht kommen, persönlich und befragten diese zugleich, sagt Plähn. Die Verweigerungsquote sei durch persönliche Kontaktaufnahme relativ gering.
Die Unit hält eine Aufklärung für möglich. „Wir gehen davon aus, dass der Täter ein Bezug zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Linde Perrey lebte, zur dortigen Umgebung oder mindestens zum Stadtteil hatte“, sagt Plähn. Bei ihrer Arbeit nutzen die Beamten nicht nur vergilbte Akten. Sie können den Tatort auch virtuell erkunden. Ein Hamburger Team hat ihnen mit Hilfe der Fotos nach der Tat ein 3D-Modell der Wohnung des Opfers erstellt.
Zur falschen Zeit am falschen Ort?
Die Einheit geht die alten Fälle wie den aus Kiel aber auch mit neuen Ansätzen an. „Zum Beispiel das Thema Obdachlose im Tathaus und der näheren Umgebung spielte damals beispielsweise noch keine große Rolle“, sagt Plähn. Mittlerweile gebe es entsprechende Hinweise. „Aber die Ermittlungen sind nicht soweit gediehen, dass wir sagen können: Wir glauben, dass es ein Obdachloser war.“
Seine Kollegin Katrin Tönsfeldt schließt nicht aus, dass es sich um ein Gelegenheitsverbrechen handelte. „Die Tat wurde mit einem hohen Aggressionspotenzial ausgeführt“, sagt die 42-Jährige. „Sie war einfach skrupellos aufgrund der Opferauswahl.“ Ein denkbares Szenarium sei, dass die Frau schlicht aus Pech zum Opfer wurde. Sie war regelmäßig mit ihrem Rollator unterwegs zum Supermarkt oder einem Arzt. Plähn betont, „jemand, der was Böses wollte, fasste sie möglicherweise ins Auge und folgte ihr, weil er die alte, schwache Frau für ein geeignetes Opfer hielt“.
Ermittlung ohne Anklage
Zu den ungeklärten Gewaltverbrechen gehört auch der Tod der angehenden Bademeisterin Jeanette G. aus Damp. Die Leiche der 21-Jährigen wird am 18. Juli 1994 im Kofferraum eines brennenden Autos gefunden. 18 Jahre nach ihrem Tod gibt es bei einer Untersuchung von Spuren unter den Fingern der Frau einen Treffer in der bundesweiten DNA-Datenbank, weil ein zu diesem Zeitpunkt in Bremerhaven lebender Mann bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten war.
„Der Mann hat von Anfang an nicht den Eindruck vermittelt, dass er sich irgendwas von der Seele reden müsste“, sagt der Kieler Oberstaatsanwalt Achim Hackethal. Er habe beharrlich geschwiegen, sowohl bei der Durchsuchung seiner Wohnung als auch bei der Eröffnung des Haftbefehls. Zur Anklage kam es nie.
„Das ist maximal frustrierend, denn ganz ehrlich: Wir hatten ihn“, sagt Hackethal. Zwar war unter den Fingernägeln der Frau das Erbmaterial des Tatverdächtigen sichergestellt worden, im Mund des Opfers aber auch eine Spermaspur, die nicht zu dem Mann passte. Der Anwalt des Mannes legte erfolgreich Beschwerde gegen den Haftbefehl ein.
„An der Stelle endete das dann 2012“, sagt Hackethal. Durch Laborergebnisse schied ein Verdeckungsmord aus. „Alles, was strafbar wäre, wo ein dringender Tatverdacht bestand, war bereits verjährt.“ Ein Tötungsvorsatz sei nicht nachzuweisen gewesen. Den mittlerweile existierenden Straftatbestand der Brandstiftung mit Todesfolge habe es noch nicht gegeben. „Das Opfer starb an einer Rauchgasintoxikation, sie ist also lebend ins Feuer gekommen.“ Wahrscheinlich sei sie bewusstlos gewesen.
Hackethal geht davon aus, dass die 21-Jährige den Täter als Anhalter mitnahm. „Aus meiner heutigen Sicht würde ich sagen, der Grundfehler in unseren Ermittlungen war, dass wir uns auf diese Sexualmordthese festgelegt hatten.“ Er habe Sympathie für die damals vom Landgericht angeführte These, dass Jeanette G. in Zeitnot gewesen sei, weil sie vorher einen Sexualkontakt hatte. Fest steht: Ein Zeuge hatte sie ungewöhnlich spät mit dem Auto auf dem Weg ins Spaßbad beobachtet. Der Grund dafür sei aber völlig offen geblieben, sagte Hackethal.
„Man geht Hunderten von Spuren nach, kommt aber letztlich nicht weiter“, sagt Hackethal. In der Mordkommission sei eine Ermittlerin aber weiterhin mit dem Fall beschäftigt. Wie groß die Chancen sind, diesen nach mehr als 30 Jahren noch zu lösen? „Gering“, sagt Hackethal. „Der Fall ist tatsächlich nie wirklich zu den Akten gelegt worden. Das ist einer von denen, die einen immer so ein bisschen begleiten.“ Abseits der juristischen Frage der Verjährung von Straftaten bleibe das kriminalistische Interesse der Aufklärung. „Aber wir bräuchten einen Impuls von außen, der uns noch einmal eine andere Ermittlungsrichtung aufzeigt.“
Kommt ein Treffer?
Soweit sind die Ermittler im Fall Perrey noch nicht. Anfang 2024 wandte sich die „Cold Case Unit“ ein zweites Mal mit einem Phantombild an die Öffentlichkeit. Die Ermittler suchen nach einem zum Tatzeitpunkt 55 bis 60 Jahre alten Mann mit kräftiger Statur und kurzen, grauen Haaren, ausdrücklich jedoch als Zeugen und nicht als Beschuldigten.
Etwa seit 2000 nimmt die Zahl der ungeklärten Mordfälle dank der DNA-Tests ab. „Wir haben das Tatortumfeld und den Stadtteil mittlerweile sehr intensiv überprüft“, sagt Plähn. Die Ermittler seien die damaligen Zeugen erneut angegangen, hätten sämtliche polizeilichen Systeme und verschiedenste Quellen zur Erlangung neuer Ermittlungsspuren, neuen Zeugen und Überprüfungspersonen bemüht.
„Früher oder später fassen wir den Täter auf jeden Fall“, sagt Tönsfeldt. „Ich gehe davon aus, dass der Täter irgendwann Fehler machen und es dann einen DNA-Treffer geben wird.“ Wird nach einem Verbrechen DNA-Material sichergestellt, das mit dem des Kieler Falls identisch ist, erhält die Unit automatisch Nachricht. Und wenn es soweit ist? „Dann wird ermittelt.“ Denn bis zur Verurteilung sei es ein langer Weg.
Es sei eine ziemlich vornehme Aufgabe für die Polizei, sich diesen Fällen noch einmal intensiv zu widmen, sagt Teamleiter Plähn. Ähnlich sieht es seine Kollegin Tönsfeldt: „Die Opfer haben einfach einen Anspruch auf Klärung. Und die Angehörigen auch.“