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Erschossener Asylbewerber

Psychisch auffälliger Asylbewerber: Wie der sozialpsychiatrische Dienst allgemein arbeitet

Juni 2019: Ermittler der Polizei suchen Spuren auf dem Gelände der Asylbewerberunterkunft in Fredenbeck. Foto: Beneke

Juni 2019: Ermittler der Polizei suchen Spuren auf dem Gelände der Asylbewerberunterkunft in Fredenbeck. Foto: Beneke

Der in Harsefeld bei einem Polizeieinsatz erschossene Asylbewerber soll psychisch auffällig gewesen sein. Hätte ihm nicht früher geholfen werden können? Das hat das TAGEBLATT den sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises gefragt.

Von Anping Richter Samstag, 23.10.2021, 14:00 Uhr

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Mitbewohner des erschossenen Kamal I. sagen, dass sie bei ihm eine psychische Krankheit vermuteten und deshalb schon mindestens zwei Mal bei der Samtgemeinde Harsefeld um ärztliche Hilfe für ihn gebeten hatten. Die Samtgemeinde schaltete den sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises ein.

Weil dessen Mitarbeiter der Schweigepflicht unterliegen, sagen sie zu dem konkreten Fall Kamal I. allerdings nichts – nicht einmal, ob oder wie oft sie mit ihm gesprochen haben. Im TAGEBLATT-Gespräch wollen Ingo Lutz und Ursula Elmendorf vom sozialpsychiatrischen Dienst und Dezernentin Susanne Brahmst aber erklären, wie diese Einrichtung, die zum Gesundheitsamt gehört, grundsätzlich arbeitet – und beantworten dabei indirekt die eigentliche Frage.

Die Aufgaben des sozialpsychiatrischen Dienstes

„Der sozialpsychiatrische Dienst ist keine schnelle Eingreiftruppe“, sagt Susanne Brahmst. Die Mitarbeiter führen in Krisensituationen zwar auch Gespräche, vor allem aber informieren sie über Hilfsmöglichkeiten und vermitteln welche. Zum Team gehören vier Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und zwei Arzthelferinnen – eigentlich unter fachärztlicher Leitung. Doch vor mehr als drei Jahren ging der Psychiater. Die Stelle wurde seither fünf Mal ausgeschrieben, konnte bislang aber nicht wieder besetzt werden.

Jenseits der Behörde seien die Verdienstmöglichkeiten wesentlich besser, erklärt Brahmst. Das dürfe aber nicht falsch verstanden werden, betont die Sozialpädagogin Ursula Elmendorf: Ihr Team arbeite stattdessen gut und vertrauensvoll mit Fachärzten zusammen, sowohl mit niedergelassenen als auch im Elbe Klinikum.

Wann der sozialpsychiatrische Dienst hinzugezogen werden sollte

„Wenn jemand nur noch traurig wirkt und sich vollkommen zurückzieht oder wenn der Nachbar bei Minusgraden nackt auf dem Balkon tanzt, können Menschen, die in Sorge sind, sich direkt an uns wenden“, sagt Elmendorf. Für Menschen in seelischen Notlagen oder bei psychischen Erkrankungen sowie deren soziales Umfeld seien sie Anlaufstelle. Meldende können sagen, ob sie genannt werden wollen oder nicht.

Wie der Sozialpädagoge Ingo Lutz erklärt, kommt es auf die Einschätzung des Einzelfalls an, ob seine Kollegen und er sofort in Aktion treten. Bei jedem Einsatz gelte: „Wir setzen immer erst das mildestmögliche Mittel ein.“ Grundsätzlich sei die Toleranzgrenze weit, denn: „Jeder darf leben, wie er will.“

Wie ein Einsatz ablaufen kann

Zuerst werde immer versucht, den Betroffenen durch ein Gespräch zu der Einsicht zu bringen, dass er sich Hilfe holt – das kann der Hausarzt oder ein Facharzt sein, manchmal reiche auch ein Pflegedienst. Auch bei Psychosen oder schweren Persönlichkeitserkrankungen werde nach Möglichkeit versucht, eine Einwilligung herbeizuführen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar – das gilt bis zum Ende. Zwang ist das letzte Mittel“, erklärt Ursula Elmendorf.

Nur, wenn anzunehmen sei, dass die Person sich selbst oder anderen erheblich schaden könnte, dürfe eine Zwangseinweisung erfolgen. Das müsse klar erkennbar sein, erklärt Ingo Lutz, denn: „Einen Präventivschutz gibt es nicht, wir sind an die gesetzlichen Vorgaben gebunden.“ Gemeint ist das Niedersächsische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke.

Bei seinen Einsätzen arbeitet der sozialpsychiatrische Dienst so diskret wie möglich. Ein Besuch soll nicht für jeden zu erkennen sein. Selbst das Auto ist nicht als Landkreis-Pkw erkennbar. Eine Rückkopplung, zum Beispiel an die Kommune, in der Betroffene wohnen, andere Helfer oder den Hausarzt, gibt es nur nach einer ausdrücklichen Entbindung von der Schweigepflicht. In Notfällen ist der sozialpsychiatrische Dienst zwar nicht Tag und Nacht erreichbar, wohl aber die Rettungsleitstelle.

Therapieangebote

Therapieplätze seien zwar generell knapp, räumen die Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienstes ein. Sie hätten aber nie erlebt, dass jemand abgewiesen wurde, der sich selbst wegen einer psychischen Notlage einwies und um Hilfe bat. Aber es fehle oft an Therapiewilligkeit, sagt Ingo Lutz, zumal psychische Erkrankungen zum Teil noch immer stigmatisiert würden. Gerade bei Asylbewerbern sei es wichtig, dass auch im Umfeld allen Akteuren bekannt sei, an wen sie sich bei Auffälligkeiten wenden können.

Psychisch auffällige Geflüchtete und Vorfälle im Umfeld

Der Landkreis Stade bekommt keine Informationen aus Krankenakten und erfasst nicht, ob Asylbewerber psychische Probleme haben. Die hier aufgelisteten Fälle wurden aber bekannt, weil sie dramatisch endeten.

  • Nottensdorf: Im Dezember 2018 setzt ein 19-Jähriger eine Asylbewerberunterkunft in Nottensdorf in Brand und steckt sein Bettzeug in suizidaler Absicht an.
  • Fredenbeck: Im Juni 2019 sticht ein psychisch auffälliger 23-jähriger Flüchtling in einer Unterkunft einen gleichaltrigen Landsmann nieder, das Opfer stirbt.
  • Bützfleth: Im August 2019 kommt es in einer Asyl-Unterkunft zum Streit. Die Polizei rückt an. Im Laufe des Einsatzes greift der 19-jährige Bewohner Aman Alizada die Beamten mit einer Eisenstange an. Er wird erschossen. Der Getötete war psychisch krank.
  • Fredenbeck: Im November 2019 schleppt sich ein schwer verletzter Flüchtling nach einem Streit in der Unterkunft erst zur geschlossenen Post-Filiale, dann zum Rewe-Markt und stirbt kurz darauf. Die Polizei nimmt einen 27-jährigen Asylbewerber aus der Unterkunft fest. Er soll seinen Mitbewohner mit einem Küchenmesser attackiert haben. Seine Einweisung war kurz zuvor eingeleitet worden.
  • Steinkirchen: Im Januar 2020 sorgt ein 33-jähriger Geflüchteter, der als psychisch auffällig gilt, für einen Großeinsatz von Feuerwehr und Polizei in Steinkirchen. Er wollte eine Schlange in seiner Matratze gefunden haben und zündete die Matratze an.
  • Harsefeld: In der Nacht zum 3. Oktober 2021 wird der 40-jährige Kamal I., Asylbewerber aus dem Sudan, bei einem Polizeieinsatz in einer Unterkunft in Harsefeld erschossen. Er soll die Polizisten mit einem Messer bedroht haben. Die Samtgemeinde Harsefeld hatte zuvor Kontakt mit dem sozialpsychiatrischen Dienst aufgenommen, weil Mitbewohner eine psychische Erkrankung vermuteten.
Ein Beamter der Spurensicherung vor der Unterkunft im Harsefelder Gewerbegebiet Im Sande, wo am 3. Oktober ein Asylbewerber von Polizisten erschossen wurde. Foto: Beneke

Ein Beamter der Spurensicherung vor der Unterkunft im Harsefelder Gewerbegebiet Im Sande, wo am 3. Oktober ein Asylbewerber von Polizisten erschossen wurde. Foto: Beneke

August 2019: Freunde des Toten hatten vor der Asylbewerberunterkunft in Bützfleth einen Tisch mit Kerzen und einem Porträtfoto des 19-jährigen Afghanen aufgestellt. Foto: Beneke

August 2019: Freunde des Toten hatten vor der Asylbewerberunterkunft in Bützfleth einen Tisch mit Kerzen und einem Porträtfoto des 19-jährigen Afghanen aufgestellt. Foto: Beneke

Dezember 2018: In Nottensdorf setzt ein 19-jähriger Afghane eine Asylbewerberunterkunft in Brand. Foto: Strüning

Dezember 2018: In Nottensdorf setzt ein 19-jähriger Afghane eine Asylbewerberunterkunft in Brand. Foto: Strüning

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