Sein Arbeitsleben steht auf der Kippe
Froh und stolz, Mitarbeiter der Elbe Kliniken zu sein: Max Prigge. Hier mit dem Betriebsratsvorsitzenden, Kai Holm.
Max Prigge gibt es nur im Doppelpack. In der Schule, in der Freizeit und bei seiner Ausbildung – immer hatte der von der Glasknochen-Krankheit Betroffene einen Assistenten an seiner Seite. Nun, im Arbeitsleben angekommen, soll es diesen Schatten nicht mehr in dem Umfang geben.
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Für Max Prigge ist das unverständlich. „Wie soll denn Inklusion in Deutschland funktionieren?, fragt er. Er ist bekannt wie ein bunter Hund. Jahrelang rollte er als Maskottchen der VfL-Fredenbeck-Handballer über das Spielfeld. Er baute sein Abitur am Athenaeum in Stade und begann 2013 eine Ausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen bei den Elbe Kliniken. Dort arbeitet er seit eineinhalb Jahren in der Kostensicherung.
Trotz des starken Handicaps – Max Prigge gilt als zu 100 Prozent schwer behindert – verläuft das Leben des jungen Mannes von den Eckdaten her betrachtet, in gewöhnlichen Bahnen. Abi, Ausbildung, Arbeit und eine bewegte Freizeit mit Handball und im Schützenverein – Max Prigge wirkt wie ein Fall geglückter Inklusion.
Doch das stehe nun auf der Kippe, meint Max Prigge. Grund dafür sei das Integrationsamt in Hildesheim, das ihm nur noch eine Assistenz von zwei Stunden je Arbeitstag bewilligt hat. Damit könne er seine Arbeit, die fünf Stunden dauere, nicht erledigen, sagt er.
Max Prigge sucht im Elbe Klinikum Stade Patienten auf, die keine gültige Krankenversicherung haben und sucht mit ihnen nach Wegen aus der misslichen Situation. Der Weg durch den Krankenhausbau, der schon in die Jahre gekommen ist, ist gepflastert mit Hürden. Zusammen mit Kai Holm vom Betriebsrat zeigt Max Prigge die Fallen: Türöffner, Fahrstuhlknöpfe und schwer zu öffnende Türen sind unüberwindlich. Selbst im Neubau der Psychiatrie ist das nicht besser. In einen Konferenzraum kommt der Rollstuhlfahrer nur mit dem Essensaufzug der Kantine. Einen Assistenten braucht Max Prigge auch im Büro, wenn es um Akten heraussuchen und die Postbearbeitung geht.
Max Prigge ist froh, mit den Elbe Kliniken überhaupt einen Arbeitgeber gefunden zu haben, der ihn beschäftigt. Viele Bewerbungen nach der Schule blieben erfolglos. Manchmal gab es nicht mal eine Antwort. Aus Dankbarkeit will der Schwerbehinderte seinem Arbeitgeber so wenig zur Lasten fallen wie möglich. Daher möchte er die Assistenz für sich nicht über das Krankenhaus abwickeln. Das Klinikum könnte dann einen Mitarbeiter länger beschäftigen und bekäme das bezahlt. „Ich müsste den Kollegen aus seiner Arbeit herausholen, damit ich meine erledigen kann“, winkt Max Prigge ab. Eine weitere Alternative: Max Prigge beschäftigt selbst einen Assistenten. Das aber sei ein hoher Aufwand und bei Krankheit und Urlaub des Beschäftigten stünde er wieder allein da.
Max Prigge blickt also auf das Integrationsamt und fragt sich, warum ihm so viele Steine in den Weg gelegt werden. Kinder und junge Menschen mit Behinderung bekommen in der Schulzeit viel Unterstützung und sie würden ermuntert zu lernen, damit sie später einen Arbeitsplatz ausfüllen können. Aber wozu, wenn die Inklusion nach der Ausbildung aufhört, fragt Max Prigge.
Das Integrationsamt sieht sich zu Unrecht in der Kritik. „Unsere Sachbearbeiter sind irritiert, weil sie alles genehmigt haben“, sagt Pressesprecher Michael Haase. Tatsächlich steht im Bescheid, dass der Wunsch von Max Prigge, der das Modell der Arbeitsassistenz favorisiert, berücksichtigt wird. Auch wird ein Stundensatz von knapp 25 Euro für die Hilfskraft akzeptiert, obwohl laut Richtlinie lediglich 12,62 Euro vorgesehen sind.
Bleibt als Knackpunkt die Berechnung des Integrationsamts, dass Max Prigge nur eine zweistündige Betreuung benötigt. Hier führt Michael Haase an, dass grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass ein Mensch mit Behinderung den Kern seiner Arbeit selbstständig erledigen kann. Sonst sei das schlicht nicht der richtige Job. Haase: Das Amt wolle das Leben für die Behinderten nicht schwieriger machen, „aber wir schauen nach dem Bedarf.“ Stil des Integrationsamts sei vor allem, möglich zu machen, was möglich zu machen ist. Dabei sei das Amt in einer günstigen finanziellen Lage, denn nicht aus Steuermitteln, sondern aus den Ausgleichsabgaben von Unternehmen, die keine oder zu wenig Behinderte einstellen, würden die Leistungen gezahlt.
Max Prigge hat sich in seiner Not an Kai Seefried gewandt. Ob das so gewollt sei, dass in Zeiten der EU-Menschenrechtskonvention Menschen mit Behinderung mit solchen Hürden belastet werden.
Ein Gespräch zwischen dem in Niedersachsen zum CDU-Generalsekretär aufgestiegenen Seefried und Max Prigge hat es bereits gegeben. Die beiden trafen sich beim Tag der Menschen mit Behinderung, zu dem die CDU kürzlich ins Stadeum eingeladen hatte.
Kai Seefried kennt die Problemlagen, war viel an Schulen zum Thema Inklusion unterwegs. „Max Prigge hat sich in der Arbeitswelt bewährt“, sagt Seefried. Und er brauche die Unterstützung durch eine Assistenzkraft. Für ihn, Seefried, gelte der Grundsatz, dass auf den einzelnen Menschen geschaut werden müsse. Da müsse sich auf mittlere Sicht, der Horizont weiter öffnen, um Menschen mit Behinderung den Weg Richtung Normalität besser zu ebnen. Eine Zusage hat Kai Seefried bereits gegeben. Er werde Anfang Januar auf die neue Sozialministerin Dr. Carola Reimann zugehen, und mit ihr besprechen, wie die Interessen von Max Prigge besser berücksichtigt werden können.
Max Prigge überlegt sich derzeit, was zu tun ist. Gegen den Bescheid des Integrationsamtes vorzugehen, heißt Klage beim Verwaltungsgericht in Stade einreichen. Oder auf das Ergebnis von Kai Seefrieds Vorstoß warten? „Ich bin froh und stolz, bei den Elbe Kliniken zu arbeiten“, sagt Max Prigge. Doch im Moment weiß er nicht, wie das gehen soll.
Ein Kommentar von Wilfried Stief
In der verfahrenen Situation zwischen Max Prigge und dem Integrationsamt fällt eine Bewertung schwer. Allzu verständlich ist der Wunsch von Max Prigge, dass im Berufsleben alles so weiter geht, wie in Schulzeit und Ausbildung. Andererseits darf den Mitarbeitern des Integrationsamts unterstellt werden, dass sie das tun, wofür sie zuständig sind. Nämlich die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung zu fördern und zu sichern.
Das Problem liegt wie so oft in den Details. Wenn ein Behinderter den Kernbereich seiner Arbeit selbstständig erledigen können muss, hört sich das erst mal vernünftig an. Aber wie groß ist so ein Kernbereich, was gehört dazu? Und wie muss sich der Mensch mit Behinderung da einpassen? Zu 100 Prozent, zu 90 oder reicht die Hälfte?
An diesen Stellschrauben muss vor dem Hintergrund der EU-Grundrechte-Charta und der EU-Behindertenrechtskonvention gedreht werden. Und zwar in Richtung der dort stehenden Werte wie Würde, Autonomie und Gleichheit.
Im Sinne einer so angestrebten Inklusion sind nach und nach alle Hürden und Stolpersteine zu beseitigen, damit am Ende Wirklichkeit geworden ist, was derzeit noch gewollt wird: Dass alle zusammen leben und es ganz normal ist, verschieden zu sein. Das ist mal ein gemeinsames Ziel in der Europäischen Union, wofür sich zu kämpfen lohnt – koste es, was es wolle.