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Neuland

Warum Hinni nach 50 Jahren vom Deich wegziehen muss

Hinrich Jungclaus ist bekannt als Hinni von’n Diek. Da gehört er hin, seit mehr als 50 Jahren. Und wenn der Sommer zurück ist, wird auch Hinni wieder am Deich sitzen.

Hinrich Jungclaus ist bekannt als Hinni von’n Diek. Da gehört er hin, seit mehr als 50 Jahren. Und wenn der Sommer zurück ist, wird auch Hinni wieder am Deich sitzen.

Hinrich Jungclaus steht auf seiner Visitenkarte. Hinni von’n Diek sagen die Leute – Hinni vom Deich. Hier hat er gelebt, das Schöpfwerk in Schuss gehalten. Aber Hinni und Elke Jungclaus mussten kurz vor Weihnachten ausziehen. Ein neuer Deich wird gebaut – und ihr Haus steht im Weg.

Von Grit Klempow Dienstag, 28.12.2021, 08:00 Uhr

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Ein Sommertag im Juni: Auf der Baustelle steht der Kran still, die Arbeiter machen Feierabend. Mit jedem Stahlrohr, jeder gerammten Spundwand nimmt das neue Schöpfwerk in Neuland Form an. Das alte steht nur 100 Meter entfernt. Ein Backsteinbau zwischen Ostedeich und Burgbeckkanal. Eigentlich müsste ein großes Schild hier stehen „Hinni siens“ oder „Hinni-von-Diek-Schöpfwerk“. So sehr ist der Mann dem Bau und mit diesem Ort verbunden. Dass der neue Deich genau hier gebaut wird, gibt es seit Januar 2020 schriftlich, im „Planfeststellungsbeschluss zum Ausbau und Neubau des Ostedeiches Bereich B 73 und Burgbeckkanal“. Für Familie Jungclaus werden es die letzten Monate in ihrem Haus sein.

Oben auf dem alten Deich sitzt Hinni Jungclaus auf der Bank. Er schnackt gern. Hat immer was zu muddeln. Aber jetzt sitzt er für einen Augenblick still. Er schweigt. Er guckt auf den Fluss, sieht seinen kleinen Bootssteg, die Schafe und die dicke Pappel, ihre Blätter knistern im Wind. Meisen schimpfen, ein Schaf blökt. Die Oste schwappt aufs Deichgrün. Hinni seufzt. „Das wird uns noch so fehlen.“ Er schweigt wieder. Manchmal kommen ein paar gute Kumpels abends. Mal eben zu Hinni an’n Diek. „Diese Idylle, die du hier hast und diese Ruhe, die kriegst du nie wieder.“ Und leise: „Wenn du das von klein auf gewohnt bist...“ Auch seine Frau Elke hadert mit dem Umzug, hier sind die drei Kinder groß geworden. Ihr Herz hängt am Haus, an der Oste. Der Wegzug fühlt sich für sie an wie ein Rauswurf.

Damit das Land nicht absäuft

Hinni öffnet die Tür zum Schöpfwerk mit den Schaltschränken, den wuchtigen Pumpen und hinten am Fenster mit seinem Schreibtisch. Niemand kennt das Schöpfwerk so wie Hinni. Seit 1968 ist er im Dienst des Unterhaltungsverbands Untere Oste als Schöpfwerkswärter dafür zuständig, dass alles reibungslos läuft. Dass das Land hinterm Deich nicht absäuft. Über Engelschoff, Groß Sterneberg und bis nach Hammah reicht das Einzugsgebiet. Ein Fliesenrelief an der Wand zeigt den Schöpfwerkverband Burgbeck. Oben an der Decke sausen Schwalben.

Hinni ist 79 Jahre alt. Er kümmert sich um das Schöpfwerk, bis das neue fertig ist. „Und wie die noch laufen“, sagt er und zeigt auf die Pumpen. Graue Ungetüme. Jeder Handgriff sitzt, auf Knopfdruck springen die Schneckenpumpen an. Es gurgelt. Eine Wasserfontäne schießt draußen im Becken empor, während die Pumpen auf der anderen Gebäudeseite das Wasser aus dem Burgbeckkanal ansaugen, um es unter dem Deich hindurch in die Oste zu pressen. Fünfeinhalb Kubikmeter pro Sekunde schafft die große Pumpe. Aber nur kurz. Die Pumpen schalten automatisch ab. Vor zwei Jahren liefen sie zuletzt auf vollen Touren. „Wir hatten ja lange nicht mehr richtig Regen“, sagt Hinni. Der Wasserstand ist auf Dauer zu niedrig. Weil das entwässerte Land absackt, Jahr für Jahr. Deshalb baut der Deichverband Kehdingen-Oste nebenan das neue, digital gesteuerte Schöpfwerk. Ein Fünf-Millionen-Projekt. Auch der Deich wird neu gebaut, wenn das Geld bewilligt ist. Die Oste hat zu wenig Platz und es fehlt ein Deichverteidigungsweg. „Wir kommen in diesem Abschnitt nirgendwo richtig an den Deich“, sagt Peter Schley vom Deichverband. Er wirkt betreten, weil er weiß, wie schwer der Familie der Wegzug fällt.

Ein Idyll: Ausblick vom Deich auf die alte Schleuse und die Einmündung des Burgbeckkanals in die Oste.

Ein Idyll: Ausblick vom Deich auf die alte Schleuse und die Einmündung des Burgbeckkanals in die Oste.

„Na, ja. 53 Jahre hast’ hier gewohnt, erst war das die Dienstwohnung, nachher hieß es, kannst’ kaufen, das Haus“, erzählt Hinni, stützt die Arme aufs Geländer und guckt runter auf den Burgbeckkanal. Als er das Haus kaufte, packte er erst mal an. Er ist Handwerker, war erst in Himmelpforten bei Oellrich, später in Burweg in der Zimmerei. Die Kollegen damals halfen ihm. So wie auch Hinni immer hilft, in der Feuerwehr Neuland oder beim Kulissenbau für die Plattdeutschen beim Heimatverein Himmelpforten.

Nun heißt es wieder anpacken, das neue Zuhause renovieren. Das steht in Neuland, einmal über die Gemeindegrenze, Luftlinie 500 Meter. Das ist nicht weit. Aber es ist nicht am Deich. Eine Schwalbe saust über das Wasser.

Nächtelang auf dem Posten

Im Oktober sind die Schwalben auf und davon. Auf der Baustelle nebenan fahren die Schlepper. Sie kippen den schweren Kleiboden auf einem Hügel ab. Auf der Marschweide entsteht ein großes Wasserloch, der neue Mahlbusen. Hierher wird später der Burgbeckkanal umgeleitet. Der Boden ist schwarz und schlierig.

Das kennt Hinni noch von früher. Die Straße zum Schöpfwerk wurde erst 1964 gebaut. „Bis dahin war es ein Matschweg. Als 1962 das Schöpfwerk umgebaut wurde, war kaum ein Durchkommen – „ein Hänger brauchte zwei Unimogs davor“. Hinni tippt auf das Foto eines großen Fachwerkhauses, das hier gestanden hat. Dort hat seine Oma gewohnt. Es gab einen Steg, vom Deich rüber zum Dachboden. Vom Schiff konnten Korn und Kohlen gleich abgeladen werden. Die Arbeiter von der Ziegelei flussaufwärts trugen einst einen Teil ihres Lohns hierher, in das „Gasthaus zum Riebeschöpfwerk“. Warum Riebe? Auch das weiß Hinni: Förster Riebe aus Himmelpforten hatte den Bau des Schöpfwerks 1928 für den Entwässerungsverband angestoßen. Riebe war längst Geschichte, als Hinni 1968 hier anfing.

Sein Sofa mit der Wolldecke steht auch jetzt noch im Eingang. Gut für die ungestörte Mittagsstunde. Wichtig, wenn das Wasser kommt. Dass er dann bloß auf dem Posten ist! Die Nächte, die er hier verbracht hat, „die kannst du bald nicht mehr zählen“. Früher gab es ja noch Sperrstunden. „Da musstest du mit’m Strom aufpassen. Wenn da Überlast war, wenn alle nach Hause kamen und die Bauern melken wollten, denn haben sie uns rausgeschmissen.“ Uns – das heißt ihn und das Schöpfwerk. Bei Sturm und Regen konnte es passieren, dass einer der hölzernen Strommasten umkippte. „Da musste man das Überlandwerk nachts um 12 Uhr anrufen.“ Die Pumpen müssen eben laufen bei Schlechtwetter.

Blick in das alte Schöpfwerk : Hinni hält die alten Pumpen in Schuss.

Blick in das alte Schöpfwerk : Hinni hält die alten Pumpen in Schuss.

Das Eingewöhnen fällt schwer

Bei der Sturmflut 1976 war das anders. Zumindest in Breitenwisch. Das Oste-Sperrwerk in Balje war gebaut – in Breitenwisch und Neuland gab es kein Hochwasser. Aber von der Elbe kam es. „Und dann, auf’m Sonntagmorgen, steh ich hier und guck so, da kommen die Hüller und fragen: Können wir Deinen Kahn mal kriegen? Tja, Hüll war unter Wasser. Und hier war best’ Wetter.“ Die Retter mussten sich im überfluteten Hüll orientieren, „immer an den „Priggen längs“, sagte Hinnis Kumpel. Die Priggen, das waren die Telegrafenmasten an der Straße.

So schlimm hat Hinni Jungclaus es an seiner Oste nicht erlebt. Höchstens so: „Das Wasser stand eben zehn Zentimeter unter der Deichkante.“ Als Schuljungs sind Hinni und seine Kumpels bei Flut gleich vom Mittagstisch ab zum Deich – gucken, wie hoch das Wasser steht. Kann sein, dass sie mal eben oben gekratzt haben, kann sein, dass ein bisschen Wasser überlief. „Und dann lossausen und Alarm schlagen.“ Hinni grinst und sieht aus wie der einstige Lausejunge: „Dann kam ja Leben in die Bude.“ Beim Schnacken über die alten Zeiten scheint die Zukunft weit weg. Wann ist der Umzug? Hinni seufzt. „Bis Weihnachten wollen wir raus sein.“

Weihnachten steht vor der Tür. Hinni und Elke Jungclaus wohnen jetzt seit vier Wochen in ihrem frisch renovierten Bungalow in Neuland. Warm und heimelig ist es. Trotzdem: Das Eingewöhnen fällt schwer. Elke Jungclaus blinzelt die Träne weg. „Mensch, 50 Jahre waren wir da.“ In diesem Jahr steht der Weihnachtsbaum in Neuland.

Elke und Hinni Jungclaus feiern dieses Weihnachtsfest im neuen Haus. Fotos: Klempow

Elke und Hinni Jungclaus feiern dieses Weihnachtsfest im neuen Haus. Fotos: Klempow

Es gibt noch viel zu „muddeln“

Am Deich ist es leer und still. Die Schafe sind verkauft. Auf der Baustelle nebenan sind die Betonbauer in den Kammern des neuen Schöpfwerkes am Werk. Es geht voran, im Frühjahr soll alles fertig sein. In Burweg an der B 73 wird der Deichbau starten. Der neue Deich endet hier am Burgbeckkanal. Die kleine Schleuse unterm Deich steht unter Denkmalschutz und wird bleiben. Leise brummt es im Schöpfwerk, die kleine Pumpe arbeitet. Die Äste der dicken Pappel sind kahl. Es ist nasskalt.

Hinni ist viel hier, zu muddeln gibt es noch genug. Er versucht, dem Umzug etwas Gutes abzugewinnen. „Hier ist es ja auch weit ab vom Schuss, da ist es gleich an der Straße schon richtig, wenn man älter wird.“ Aber wenn er nicht müsste, er wäre geblieben. „Nützt ja nix. Ist ja zum Wohle der Allgemeinheit.“ Der Platz am Deich, der bleibt ihm. Er hat ein „Betretungsrecht“. „Solange ich leb’, können wir das nutzen, damit wir hier zum Wasser kommen.“

Wenn es wieder warm wird, werden die Schwalben zurück sein. Auch Familie Jungclaus wird wieder aufs Wasser gucken. Der Abschied vom Deich ist nicht vorbei, Hinrich Jungclaus bleibt Hinni von’n Diek.

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