Was aus Stades Kult-Kneipe Oktave wird

Bettina Maurischat und Aloys Heyng sanieren das Eckhaus in der Salzstraße mit viel Gespür für das Denkmal. Aus der ehemaligen Gaststätte im Erdgeschoss wird eine Wohnung. Fotos: Klempow
In dieser Kneipe wurden die Nächte durchgemacht. Jetzt wird das Eckhaus der ehemaligen Oktave nach Jahre langem Stillstand saniert. Ein Blick in ein Haus, das ein Schmuckstück wird. Und auf Zeiten mit Zigarettenqualm, Bier und Baguette.
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Wo sich die Flaschen einst griffbereit hinterm Tresen aufreihten, steht nur noch die Wand aus Ziegelsteinen. In der ehemaligen Kneipe riecht es nach Putz, Baustaub und alten Wänden. Das alte Haus atmet auf. Mittendrin stehen Bettina Maurischat und Aloys Heyng aus Lüneburg. Sie wollen aus dem Eckhaus in der Salzstraße ein Haus mit kleinen Wohnungen machen. Bettina Maurischat guckt sich einmal um, mustert die freigelegten Deckenbalken und die nackten Wände.
Aus dem Klosterkrug wurde die Oktave
Die ehemalige Kneipe war lange Jahre ungenutzt, war vom Vorbesitzer so vollgestopft mit Gerümpel und Baumaterial wie zu ihren besten Zeiten in den 80er und 90er Jahren mit Kneipengästen. Als Heidemarie Kollega die Gaststätte 1982 von der Thier-Brauerei pachtete, nannte sie sie um. Aus dem altbacken klingenden Klosterkrug wurde die Oktave.
Heidemarie „Heidi“ Kollega war damals 28 Jahre, hatte Kunst, Musik und Pädagogik studiert. „Oktave“ hieß ihre liebste Studentenkneipe in Kassel. Die Stader Oktave war ihr Schritt in die Selbstständigkeit. Am 3. März wurde Eröffnung gefeiert. Gerade erst war Tochter Jennifer im Januar 82 zur Welt gekommen. Die energiegeladene Mama stand zur Eröffnung selbst hinter dem Tresen. Die ganze Stadt schien darauf gewartet zu haben. „Es gab ja damals noch nicht so viele Kneipen“, sagt Heidemarie Kollega, die in Stade gern „Heidi“ gerufen wurde. „Mich kannten die Leute schon aus der Tonne“, sagt sie. Ihren ersten Job in der Gastronomie hatte sie in der Diskothek „Pan“ am Bahnhof. In der „Mülltonne“ in der Bungenstraße war sie zeitweise fest angestellt. Dann kam die eigene „Oktave“. Vom Eröffnungsabend weiß sie vor allem eins: „Es war so voll, dass ich stundenlang nur nach unten geguckt und Bier gezapft hab.“ Hinter dem Oktave-Tresen sollte sie 20 Jahre lang zu finden sein.
Sanierung mit Liebe zum historischen Detail
Zurück auf der heutigen Baustelle: Das Haus ist mit Gerüst und Plane verhüllt. Der Anstrich mit den vielen Farbschichten ist von der Fassade verschwunden. Oben unterm Dach ist Zimmerer Gerd Freiwald mit seinen Gesellen Julius Häcker und Thoralf Lemme dabei, die Sparren zu verstärken. Die neuen Gauben sind eingebaut, passend zum Dach. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Architekt Aloys Heyng legt sowieso Wert aufs historische Detail. Das freut den Zimmermann: „Wann kann man denn noch solche Gauben bauen?“
Der Blick von oben auf den Hafen und zur anderen Seite auf St. Cosmae sind beeindruckend. Eine Etage darunter hat sich auch einiges getan. Steine sind säuberlich gestapelt, der Holzfußboden ist verstaubt, aber intakt. „Den können wir erhalten“, sagt der Architekt. Nachträglich eingezogene Wände sind verschwunden. „Wir machen auch gern mal was selbst“, sagt der gelernte Tischler. Er hat in Buxtehude studiert, Bettina Maurischat kommt aus Stade. Sie haben Erfahrung mit alten Häusern. Zusammen haben sie bereits vor 15 Jahren ein Fachwerkhaus in der Kehdinger Straße saniert.
Online-Glückstreffer bei der Immobiliensuche
Die ehemalige Oktave war ein unerwarteter Treffer im Internet. „Es war ein Stückchen Glück dabei“, sagt Heyng. Die Immobilie war gerade erst online. Entschieden haben sich die beiden schnell. „Wir fanden das spannend. Ich kenne die Oktave noch. Obwohl ich selbst eher in der Tonne war“, sagt Bettina Maurischat.
Die massive Eichentreppe windet sich ins Erdgeschoss. „Die bleibt auf jeden Fall auch und wird aufgearbeitet“, sagt Heyng. Treppenstufen gibt es auch im Erdgeschoss. Vom großen, ehemaligen Kneipenraum geht es ein paar Stufen hinauf in einen Nebenraum. Eine neue Gaststätte wird es hier nicht geben. Auch das Erdgeschoss wird zu Wohnräumen. „Wir wollen es so schön machen und so gestalten, dass wir uns selbst hier wohlfühlen“, sagen die Hausbesitzer. Eine neue Haustür ist schon gekauft. Das historische Stück muss noch aufgearbeitet werden.
Wer durch die Eingangstür zu Oktave-Zeiten trat, fand sich gegenüber vom Tresen. Stehtische zu beiden Seiten der Tür. Der links vor dem Fenster wurde bei Live-Musik zur Seite geräumt. „Dann hatten wir unsere Mini-Bühne, die vielleicht kleinste Norddeutschlands“, erinnert sich die Oktave-Wirtin. Ian Cussick spielte hier, Tom Shaka, Abi Wallenstein, lokale Bands. Oft war die Bude gerappelt voll. So voll, dass kaum ein Durchkommen zum Tresen war. Alle waren da. Zumindest schien es so. Obwohl nur 80 Leute dicht an dicht in die Oktave passten. Alte und Junge, Sozialarbeiter und Juristen, Arbeitslose und Handwerker – „wir hatten alles“, sagt Heidemarie Kollega. Auch die halbe TAGEBLATT-Redaktion versackte regelmäßig in verqualmter Geselligkeit, gleich rechts neben dem Eingang am runden Tisch. Zwischen Notenblättern als Tapete an der Wand und Fliesen aus Andalusien am Tresen.
Christopher Cross, Chris Rea oder Phil Collins sangen aus den Boxen. Uwe „Scheffi“ Scheffler nahm Mix-Tapes fürs Oktave-Kassettendeck auf. „Tagsüber lief auch mal Klassik. Ich hab auch gern Jazz gehört“, sagt Heidemarie Kollega. Sie grinst. „Ich hab meinen Gästen ganz schön was zugemutet.“ Aber die kannten sie und sich gegenseitig gut genug, um ihr auch Musik abseits vom Mainstream zu verzeihen.
Für Stammgäste gab es einmal im Jahr ein Grünkohlessen. Erst nach den frühen 80ern gab es auch Speisen in der Oktave. Baguette selbstverständlich. „Mit Knoblauch und Kräutern der Provence. Und mit frischem Baguette vom Bäcker“, verrät Jennifer Röttjer. Die Kneipe ihrer Mama gehörte zu ihrer Kindheit und Jugend. Später hatte die Oktave sogar einen Mittagstisch und eine große Speisekarte. „Das Kochen hat mir Spaß gemacht“, sagt „Heidi“ Kollega. Ein absoluter Renner wurde der Heiligabend. „Wir waren die Ersten, die zu Heiligabend ab 22 Uhr geöffnet hatten. Es war die umsatzstärkste Nacht des Jahres. Es ging bis morgens um acht Uhr.“

Heidemarie Kollega lebt jetzt auf dem Land. 20 Jahre lang gab sie in der Oktave den Ton an.
Heidemarie Kollega hat 20 Jahre lang solch endlose Nächte erlebt. „Man muss das leben, dann geht es auch. Bei mir war der Spaßfaktor groß.“ Nach fast zwei Jahrzehnten hinterm Tresen und in der Küche war er nicht mehr groß genug. Auch die Selbstständigkeit stresste. Sie verlängerte den Pachtvertrag nicht. „Ich wollte vor meinem 50. noch für die Rente arbeiten.“ Sie hatte angefangen, Tenorsaxofon zu spielen, machte Tanzmusik. Nach der Oktave leitete sie kurz eine Wäscherei und ging 2002 doch noch in die Pädagogik. In Cadenberge arbeitete sie mit benachteiligten Jugendlichen. Bis zur Rente blieb sie im Bildungsbereich. Heute lebt sie in Neuhaus. Den Schritt, die Oktave zu schließen, hat sie nicht bereut. Es war an der Zeit.
Die Zeit schien in den letzten Jahren im Haus still zu stehen. Hinten, an der ehemaligen Küche, tragen die Backsteine noch heute einen leichten Rußschleier, der viel weiter zurückliegt als die Oktave-Zeit. Bettina Maurischat und Aloys Heyng legen behutsam frei, was Mauern und Gebälk zu erzählen haben. „Das Haus hat seine Geschichte. Wir versuchen sie weiterzuschreiben“, sagt Heyng. Für die beiden ist das Haus ein Glücksgriff. Für das Haus sind sie das aber auch.
Die Hausgeschichte
Die Salzstraße wurde 1316 erstmals als „Soltstrate“ erwähnt. Erst langsam soll sie im 13. Jahrhundert vom Fischmarkt aus besiedelt worden sein. „Am Ausgang der Salzstraße, auf der Höhe der Johannisstraße, befand sich nach der Umwallung ein Stadttor, das Salztor, das erst 1684 nach Süden verlegt wurde“, heißt es in den Aufzeichnungen im Stadtarchiv. Wahrscheinlich ist, dass das Salz aus Lüneburg über den Hafen angelandet wurde, im Waagehaus verzollt und im Alten Hafen umgelagert wurde.
Im Haus mit der Nummer 10 soll zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Schneider Christian Holthusen gewohnt haben. Danach kaufte der Bäcker Johann Heinrich Pape das Haus. 1864 wechselt es in den Besitz der Majorin von Borstel, „ehe 1868 der Handlungsgehilfe Heinrich Oehlrich hier eine Destille einrichtet. 1882 gibt es im Haus die Colonial- und Fettwaarenhandlung Theodor Pape. Um 1900 kommt das Haus in den Besitz des Kaufmanns Heinrich Bey“, heißt es in den Aufzeichnungen. Bevor 1982 Heidemarie Kollega die Musik-Kneipe Oktave eröffnete, kehrte sie seit mindestens 1960 in den Klosterkrug ein.