24-Stunden-Reportage: In der Telefonzentrale im EKS
Trotz langer Nächte und mitunter anstrengender Patienten immer mit einem Lächeln bei der Arbeit: Birte Paetzoldt. Fotos: Schulz
Vom Schnupfen bis zum echten Notfall, die Telefonzentrale im Elbe Klinikum Stade ist ein Auffangbecken für alle, die nachts ins Krankenhaus müssen, oder glauben, es zu müssen. Birte Paetzoldt muss sie alle ernstnehmen. Und freundlich bleiben.
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Gedämpftes Licht, keine Menschenseele zu sehen. Wo am Tag Hunderte Menschen umherwuseln, ist in der Nacht nur das monotone Surren einer Lampe zu hören. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Die Eingangshalle des Elbe Klinikum in Stade ist um drei Uhr leer gefegt wie ein Geisterhaus. So sieht er aus, der Arbeitsplatz von Birte Paetzoldt. Die 48-Jährige arbeitet heute Nacht in der Telefonzentrale.
„Diskretion – Bitte Abstand halten“, steht auf dem Schild vor dem Tresen, hinter dem Birte Paetzoldt sitzt. Das Schild wirkt in der menschenleeren Halle fast wie ein Witz. Dass Diskretion aber auch mitten in der Nacht großgeschrieben wird, wird zu Beginn des Reportage-Termins deutlich: Patientendaten, Telefonate – alles hochsensible Bereiche, die niemand in der Zeitung sehen möchte. Keine Chance für den Journalisten, auch nur ein Wort mitzuhören.
Im Glaskasten sitzt Birte Paetzoldt auf ihrem Bürostuhl und heftet Papiere ab. Heute ist ihre zweite Nachtschicht in Folge. Es ist ihr nicht anzusehen. Sie lächelt und wirkt hellwach. Die Nachtschicht gehört zum Job in der Telefonzentrale dazu. „Es gibt Kolleginnen, die machen das mit Vorliebe“, sagt die Bremervörderin. Sie selbst hat eine Teilzeitstelle und wuppt bis zu sechs Nachtschichten im Monat. Außer ihr arbeiten noch zehn weitere Frauen in der Zentrale. Von 22 bis 6 Uhr geht die Nachtschicht. Nicht jedermanns Sache. „Mit der Arbeitszeit komme ich gut klar“, erzählt Birte Paetzoldt. Lediglich nach den Schichten Schlaf zu finden, sei nicht einfach. Gegen die Müdigkeit helfe ihr viel grüner Tee und „ab und an mal die Beine vertreten“. Weit weg von ihrem Bürostuhl kann sie allerdings nicht. „Ich muss immer erreichbar sein.“
Beim Umgang mit Patientendaten wird auf Diskretion geachtet.
Viele Fälle, die in der Nacht in der Telefonzentrale auflaufen, sind Kinder. „Bauchschmerzen, Fieber, da kommt vieles zusammen“, berichtet Birte Paetzoldt. Bis zwei Uhr musste die Angestellte während der heutigen Schicht schon mehrere Kinder aufnehmen. Seitdem sei es ruhig.
Wie auf Kommando klingelt in diesem Moment um 3.15 Uhr das Telefon. Kein Kind, sondern die Polizei. Es geht um einen Rollerfahrer, der einen Unfall hatte, wird Paetzoldt nach dem Telefonat berichten. Während sie den Polizisten mit der Notaufnahme verbindet, zeigt eine Kamera, wie ein Patient auf einer Trage in die Notaufnahme gebracht wird. Es ist der Rollerfahrer. Anrufe oder Besuche der Polizei sind keine Seltenheit. Aggressive oder betrunkene Patienten könnten schon mal Ärger machen, sagt Birte Paetzoldt.
Wenig Verständnis zeigt sie für die Pöbeleien, die ihr oft entgegenschlagen. Besonders Männer seien oft ungeduldig und unfreundlich. „Einige rasten regelrecht aus, wenn es nicht sofort läuft, wie sie es sich vorstellen“, sagt die 48-Jährige. Freundlich zu bleiben, sei dann nicht immer ganz einfach. Sie versucht es trotzdem. Im Zweifel helfe es, die Leute direkt zu fragen, warum sie „so unfreundlich sind“.
Birte Paetzoldt ist seit neun Jahren im Krankenhaus angestellt. Sie ist Mutter eines Sohnes und wundert sich über einige Patienten. „Mittlerweile kommen Leute schon mit Schnupfen hierher“, sagt sie. Sie verübele es den Menschen nicht. „Die Leute suchen einfach Hilfe, aber manche Gründe sind schon fragwürdig.“ Während Birte Paetzoldt davon berichtet, sind langsame Schritte in der Halle zu hören. Es ist 3.35 Uhr, ein Patient in T-Shirt und Jogginghose schlurft in Richtung Ausgang. Auf Höhe der Telefonzentrale bleibt der Mann stehen. „Ich geh‘ mal eben vor die Tür“, murmelt er. Die Angestellte nickt kurz ab. Der Patient mit dem zerknitterten Gesicht trottet weiter, sie öffnet ihm die Tür, er verschwindet in der Nacht. „Irgendwer möchte immer raus“, sagt sie.
Die Schiebetür schließt, ein kurzer Windhauch weht durch die Halle und schon ist es wieder still und einsam. Angst hat Birte Paetzoldt nicht. Sie ist zwar alleine an ihrem Arbeitsplatz, aber „nicht alleine im Haus“. Trotzdem gibt es Fälle, die unangenehm sein können. Dramatisch wird es selten. Wenn doch, dann muss Birte Paetzoldt schnell mehr sein, als der Job in der Telefonzentrale vermuten lässt. An einen Patient, der ihr bei seiner Ankunft „alle Pillen über den Tresen geworfen hat, die er genommen hatte“, erinnert sich Birte Paetzoldt noch heute mit Schrecken: „Ich habe sofort ein Notfallteam gerufen und mich dann um den Mann gekümmert.“ Es habe sich angefühlt wie eine Ewigkeit, bis die Kollegen da waren. „Der Mann wollte sich umbringen“, sagt die 48-Jährige und ihr Blick wirkt zum ersten Mal nicht fröhlich in dieser Nacht. Die Geschichte ging gut aus: Der Mann überlebte.
Heute gibt es kein Drama. Mit der Ruhe ist es dennoch vorbei. Um vier erwacht das Krankenhaus wieder zum Leben. Reinigungskräfte, Küchenangestellte und Pflegepersonal treten ihren Dienst an. Birte Paetzoldt wird sie alle freundlich begrüßen.
Für die Serie „24 Stunden: Reportagen rund um die Uhr“ verbringen TAGEBLATT-Redakteure je eine Stunde an einem Ort in der Region. Start und Ende der Serie ist 0 Uhr, was 24 Stunden und damit 24 Serienteile ergibt. Und das sind die Folgen:
- Teil 1: In der Verpackungsindustrie
- Teil 2: Im Altenheim
- Teil 3: Im Musikladen Heinbockel
- Teil 4: Im Elbe Klinikum
- Teil 5: Mit dem Bevern-Bus on Tour
- Teil 6: Auf dem Wochenmarkt
- Teil 7: Im Tower bei Airbus
- Teil 8: Der Hausmeister
- Teil 9: Die Wasserschutzpolizei
- Teil 10: Bei Stackmann
- Teil 11: Auf der Baustelle
- Teil 12: Der Parkplatzwächter
- Teil 13: Am Bratwurststand
- Teil 14: Der Tierpfleger
- Teil 15: In der Demenz-WG
- Teil 16: Am Strand
- Teil 17: Bei der Orgelführung
- Teil 18: Der Streetworker
- Teil 19: Bei der Ernte
- Teil 20: Beim Party-Service
- Teil 21: Im Freibad
- Teil 22: Beim Kampfsport
- Teil 23: Im Einzelhandel
- Teil 24: In der Kneipe