Interview

„Auf der Comedy-Bühne und in der Kunst darf es keine Tabus geben“

Mit der Rolle des Mehmet Ösker in „Nord bei Nordwest“ gelang ihm der Durchbruch: Schauspieler und Comedian Cem Ali Gültekin. Im Interview mit dem TAGEBLATT spricht der Hamburger über Satire in Krisenzeiten, seine Rolle als Kult-Türke und persönliche Träume.

Sonntag, 08.10.2023, 10:00 Uhr
Cem Ali Gültekin. Foto: Ertel

Cem Ali Gültekin. Foto: Ertel

„Sind Sie nicht der...?“ Ein Touristen-Paar bleibt stehen und hätte gern ein Foto, als der bekannte Künstler Cem Ali Gültekin Manfred Ertel auf einer Restaurant-Terrasse am Hafen zum Gespräch trifft. Er kennt das und kann darüber lachen, auch wenn er grad beschäftigt ist. Überhaupt lacht er viel während des Interviews, in dem er offen und offensiv antwortet – wie man ihn aus seiner Paraderolle im TV-Krimi kennt.

TAGEBLATT: Was können Sie in Zeiten von Krieg, Krisen und sozialer Unsicherheit eigentlich Ihren Comedy-Schülern noch beibringen?

Cem Ali Gültekin: Im Grunde können wir denen dann erst recht beibringen, ihre Meinung zu vertreten und Themen zu finden, die sie echt berühren und hinter denen sie stehen. Die Comedy-Bühne ist in diesen Zeiten gerade für solche Themen und Gedanken genau der richtige Ort.

Kann Comedy und Satire noch Witze machen, wenn obendrein die politische Korrektheit in vielen gesellschaftlichen Bereichen immer mehr eingefordert wird und Tabus bei Späßen etwa über Religion, Sexualität oder Randgruppen immer größer werden?

Ich finde, dass wir unterscheiden und trennen sollten. Es gibt gesellschaftliche Diskussionen, die sind wichtig. Aber auf der Comedy-Bühne, in der Satire und generell in der Kunst darf es keine Tabus geben. Wenn man historisch zurückblickt, gab es doch zu allen Zeiten in der Geschichte, auch unter Königen und Feudalherrschern, immer die Narren, die zum Beispiel politische oder religiöse Themen aufbereitet und das Volk damit zum Lachen gebracht haben. Wir Künstler müssen natürlich darüber nachdenken, wie wir Themen verpacken und angehen. Aber zu sagen, bestimmte Themen sind in der Gesellschaft Tabu und dürfen nicht mehr auf die Bühne gebracht werden, das finde ich schade und gefährlich.

Trotzdem gibt es immer wieder „Cancel Culture“-Initiativen die sich gegen Künstler und oft eben gegen Comedy und Satire richten. Macht das Sorge?

Ich versuche, mich als Künstler davon freizumachen. Ich bin Künstler geworden, um mich auszudrücken. Wenn ich davor Angst hätte, würde ich viele Sachen nicht mehr machen können. Dafür bin ich nicht zu haben.

Sie haben immer auch Späße über die Heimat Ihrer Familie gemacht. Ist die Situation in der Türkei noch zum Lachen?

(lacht) Die Situation in der Türkei und auch in vielen anderen Ländern dieser Welt ist besorgniserregend. Deswegen sollte man erst recht auf diese Situation hinweisen und sich überlegen, wie kann man sie in künstlerischer Form präsentieren und zum Thema machen.

Sie wollen nicht ewig Comedy machen, aber auch nicht ewig Theater spielen, haben Sie sinngemäß mal gesagt. Was wollen Sie?

Ich habe vor langer Zeit entschieden, dass ich nur noch die Sachen machen möchte, auf die ich Lust habe. Das gelingt mir zurzeit ganz gut. Ich habe einen tollen Mix gefunden. Im Moment vermisse ich ein bisschen, dass ich wenig Zeit habe, Theater zu spielen. Ich muss immer wieder Anfragen ablehnen, weil sie zeitlich nicht in mein Lebenskonzept passen.

Warum sind Sie eigentlich nicht Fußballer geworden und haben sich diesen Jugendtraum erfüllt?

Das ist eine wirklich gute Frage (lacht). Ich hatte damals in der Jugend sogar ein Angebot, zum HSV zu wechseln, weil ich in der Hamburger Auswahl und für den Bramfelder SV in der Leistungsklasse spielte. Irgendwie bin ich davon abgekommen. Ich habe gedacht, vielleicht nächstes Jahr. Dann gab es in der Winterpause Streit zwischen Eltern und Trainerteam, wie es häufig mal vorkommt, und meine Bramfelder Mannschaft hat sich von heute auf morgen aufgelöst. Plötzlich stand ich da und wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Statt mir einen anderen Verein zu suchen, habe ich tatsächlich mit Fußball aufgehört.

Wie kommt man im nicht eben einfachen Stadtteil Steilshoop eigentlich auf die Idee Schauspiel zu studieren?

Das hatte mit einem Freund zu tun, der heute auch Schauspieler ist und mich auf diesen Weg gebracht hat. Der war damals schon sehr Theater-affin und hat in einer Theater-AG gespielt. Als ich mit der Schule fertig war, habe ich erst Medienkaufmann gelernt, aber irgendwann ploppte die Idee Theater bei mir auf und ich habe gedacht, das will ich auch probieren.

Haben Ihre Eltern nicht einen Knall gekriegt, als Sie mit der Idee bei Ihnen ankamen?

Gottseidank nicht. Meine Familie ist sehr offen und tolerant mit der Idee umgegangen. Ich hatte da aber schon viel gearbeitet und auch schon viele richtige Entscheidungen in meinem Leben getroffen. Als dann Schauspiel ein Thema war, hieß es in meiner Familie sofort: Mach‘ wie du denkst. Und schon nach zwei Monaten Schauspielschule wusste ich: Das ist genau das, was ich machen will.

Vergangenes Jahr haben Sie auch noch Ihren ersten großen Kinofilm produziert und selbst eine der Hauptrollen gespielt. Sind Sie ein im wahrsten Sinne des Wortes Lebenskünstler oder sind Sie ständig auf der Suche?

Ich bin nicht auf der Suche, aber vielseitig interessiert. Wenn mich Dinge wirklich interessieren und mein Herz berühren, verfolge ich die oft mit voller Leidenschaft. Da gebe ich dann alles rein.

Hört sich fast an wie bei Mehmet Ösker, Ihrer Kult-Rolle In der Krimi-Reihe „Nord bei Nordwest“. Erkennen Sie sich in der Figur ein Stück wieder?

Bei Mehmet Ösker ist es ja so, dass er wirklich mit voller Leidenschaft immer wieder etwas Neues anfängt, was am Ende dann wieder nicht klappt. Was ich an ihm liebe ist, dass er jedes Mal an die Sache rangeht, als wäre es sein erstes Projekt und er nicht müde wird, immer wieder was auszuprobieren. Ich liebe dieses positive Denken.

Erkennen Sie sich da ein bisschen wieder?

Auf jeden Fall. In meiner positiven Lebenseinstellung zum Beispiel, auch in Krisen das Positive zu sehen. Ich bin sehr lösungsorientiert, das sehe ich bei Mehmet auch, der immer wieder nach Möglichkeiten sucht. Und er liebt die Menschen. Das ist bei mir ähnlich. Auch wenn es so viel Leid und Schreckliches in der Welt gibt, werde ich nicht müde, die Hoffnung zu behalten, immer das Positive zu sehen.

Ist so eine Kultrolle über viele Jahre und Filme eigentlich mehr Fluch oder mehr Segen?

Ich sehe das eindeutig als Segen. Ich liebe diese Figur, ich liebe die Reihe, die Produktion und die Menschen, die vor und hinter der Kamera arbeiten - sie sind toll. Nach zehn Jahren besteht das Team immer noch zu 70 Prozent aus denselben Menschen. Das ist so familiär und vertraut. Und es wird in Hamburg gedreht. Egal wie ich es betrachte: Für mich ist das ein Glücksfall.

Gibt es Momente, in denen es Sie langweilt, immer wieder den gutgelaunten komischen Türken spielen zu müssen?

Ehrlich gesagt gar nicht, ganz im Gegenteil. Ich habe das große Glück, diese Reihe spielen zu dürfen. Aber ich habe ja auch andere Projekte, in denen ich mich anders ausdrücken kann. In meiner Comedy-Tour bin ich Stand-Up-Comedian, in meiner Comedy-Schule gebe ich meine Gedanken als Dozent weiter und im „Tatort“ spiele ich dann auch mal einen Bösewicht. Für mich wird das nicht langweilig.

St. Pauli ist nicht nur beruflich ein Stück Zuhause für Sie, was mögen Sie am Kiez?

Die Lebendigkeit, diese Begegnungen, der Kiez ist für mich das bunte, vielfältige Leben: Jeder findet hier alles. Der derbere, manchmal schmuddelige Rotlicht-Charakter hat Platz gemacht für alle Lebensstile und für mehr Entertainment. Er ist eine Spielfläche für Kultur. Ich laufe gern über den Kiez runter zur Elbe, das ist einer meiner Lieblingsorte und -wege. Es macht mir Spaß, dabei Menschen anzugucken und das Treiben zu beobachten.

Müssen Sie zu Hause auch immer witzig sein oder können Sie auch böse?

Ich kann da vor allem entspannen. Ich muss nicht witzig sein, das übernehmen meine Frau und meine Kinder. Ich kann zu Hause der sein, der ich wirklich bin, ein eher ruhiger Zeitgenosse.

Worüber können Sie am besten lachen?

Über das Unvorhersehbare, wenn etwas nicht geplant oder kontrolliert ist und außerhalb der vorgedachten Bahnen verläuft, da passieren die schönsten Dinge.

Sie wollen im wahrsten Sinne des Wortes hoch hinaus, haben ein Fallschirmspringerzertifikat sowie den Pilotenschein und versuchen nun auch noch Paragliding. Was reizt Sie am Höhenrausch?

Ich weiß es gar nicht so genau. Ich liebe die Höhe, das war immer schon so, was soll ich machen? Von oben auf die Welt zu blicken ist ein großer Traum.

Bitte ergänzen Sie...

Mein Lieblingsplatz in Hamburg ist ... tatsächlich an der Elbe, besonders am Sandtorkai.

St. Pauli und Altona sind besser als Eppendorf weil ... ich mich hier befreiter fühle.

An Hamburg stört mich ... nix.

Comedy im Fernsehen finde ich ... wichtig und richtig, damit Menschen die Möglichkeit haben vom Alltagabzuschalten. Ich schaue auch selbst, allerdings meistens über die Mediathek weil ich so viel unterwegs bin.

Typischer Anfängerfehler von Comedy-Schülern ist ... den Text nicht zu lernen.

Wenn ich als Mehmet Ösker angesprochen werde ... freut mich das sehr.

Zur Person

Mit dem lebenslustigen und pfiffigen Türken Mehmet Ösker in der ARD-Krimireihe „Nord bei Nordwest“ hat der Comedian und Schauspieler aus einer Nebenrolle eine Kult-Figur gemacht. Seit 2014 ist er in allen 21 Folgen dabei.

Cem Ali Gültekin (42) ist als Sohn türkischer-syrischer Eltern in Hamburg geboren und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Nach Abschluss der Gesamtschule Steilshoop und einer kaufmännischen Berufsausbildung beendete er die Schauspielschule mit Auszeichnung.

Der Autor, Moderator und Unternehmer spielt Theater und führt Regie, ist viel gefragter Darsteller für zahlreiche Fernsehfilme wie „Tatort“, das Gangsterdrama „4Blocks“ oder Serien. Als Comedian ist er Stammgast im ARD-Satiremagazin „extra 3“.

Gültekin veranstaltet regelmäßig Comedy Erlebnistouren mit Sightseeing in Hamburg, auch als Hafenrundfahrt. Sein Unternehmen „JWH Entertainment“ exportierte die Idee in acht andere Städte. In der Hansestadt leitet er zudem die erste und einzige Comedy-Schule der Republik.

Vorigen Herbst hatte sein erster von ihm produzierter Kinofilm „Subjekt 101“ Premiere. Der leidenschaftliche HSV-Fan lebt mit seiner Frau und seinen sechs Kindern in Altona nahe des St. Pauli-Kiez.

Cem Ali Gültekin gelang in der ARD-Krimireihe „Nord bei Nordwest“ der Durchbruch. Foto: Eventpress/Fuhr

Cem Ali Gültekin gelang in der ARD-Krimireihe „Nord bei Nordwest“ der Durchbruch. Foto: Eventpress/Fuhr

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