Das „Haus für Kinder“ in Stade wird 50

Rückblick auf die 50-jährige Geschichte des Vereins Elterninitiative „Ein Haus für Kinder“ mit den Kita-Leiterinnen, zwei Ehemaligen, den Elternvertretern und vier Kindern: Lea Hochschulz mit ihrem Sohn Oliver, Sabine Giesler, Janina Carste
Mit dem Ziel, ihre Kinder selbstbestimmt, ohne Verbote und Strafen aufwachsen zu lassen, gründeten Eltern vor 50 Jahren den Kindergarten „Ein Haus für Kinder“. Diskutiert wird heute weniger, doch immer noch ist es den Eltern wichtig, sich einzubringen.
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Seit 50 Jahren betreibt der Verein Elterninitiative „Ein Haus für Kinder“ den Kindergarten auf der Erleninsel in Stade. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte Veronika Kähler, heute 85 Jahre alt. Sie erinnert sich noch gut an das Jahr 1972, als elf Bürger den Verein gründeten. Es war die Zeit der Kinderläden in Folge der 68er-Bewegung, eine selbstverwaltete, antiautoritäre Alternative zu Kindergärten in kommunaler oder kirchlicher Hand. Die Stader Eltern wollten einen „demokratisch orientierten und kindzentrierten“ Kindergarten aufbauen, in dem „die Erziehung für eine demokratische Gesellschaft, zum kritischen Bürger und zu einem solidarischen und sozialen Verhalten möglich sein sollte“.
„Das war damals eine politische Entscheidung, Privates war politisch“, sagt Veronika Kähler. Die Betreuungszeiten der Kindergärten von 8 bis 12 Uhr reichten ihr nicht. Sie benötigte einen Ganztagsplatz, denn sie wollte berufstätig werden – und schaffte dann auch den Quereinstieg zur Englischlehrerin an der Hauptschule.
„Wir hatten alle keine Ahnung, jeder aber eine Idee, wie man Kinder am besten erzieht“
Anfangs war der Ganztagskindergarten mietfrei im ehemaligen Flakgeschützgebäude der Stadt an den Kehdinger Mühren am Rande der Bastion untergebracht. Das alte Backsteingebäude wurde von mehreren Elterngenerationen mit viel Eigenarbeit und Eigenkapital renoviert, unterhalten, umgebaut und saniert und 1984 mit einem Anbau versehen. In den drei Räumen – einer unten, zwei oben, verbunden durch eine steile Treppe – konnten die Kinder von 7.15 bis 16.30 Uhr nach Lust und Laune toben, malen, basteln, spielen, bauen, essen und ruhen oder sich mit Hammer und Nagel an der Werkbank ausprobieren. Im Januar 1999 musste der Elterninitiativ-Kindergarten in das ehemalige Schulkindergarten-Gebäude der Burggraben-Grundschule auf der Erleninsel ziehen, weil das alte Haus im Zuge der Erweiterung der Jugendherberge abgerissen werden sollte.

Das erste Haus an den Kehdinger Mühren neben der Jugendherberge.
Veronika Kähler erzählt von den Anfängen, vom Chaos der „sehr freien“ Erziehung, vom wöchentlichen Elternabend, der manchmal bis Mitternacht ging. Dort wurden alle anstehenden Fragen und Probleme abgestimmt und auch offen über das Verhalten der Kinder im Kindergarten (Kindsbesprechungen) und das eigene Erziehungsverhalten diskutiert. „Wir hatten alle keine Ahnung, jeder aber eine Idee, wie man Kinder am besten erzieht. Es war anstrengend, wie eine Selbsterfahrungsgruppe“, sagt Kähler.
Kinder entscheiden selbst, was sie machen
Eine Erzieherin und eine Praktikantin betreuten die (später 20) Kinder. Vorgaben und Vorschriften gab es nicht. Die Eltern halfen mit im Kindergartenbetrieb: Sie organisierten, unterstützten das Erzieherteam, putzten die Räume und kochten das Mittagessen; einmal in der Woche wurde im Kindergarten gekocht.
„Am Anfang wurde mit den Kindern nichts gemacht“, erinnert sich Veronika Kähler. Die Kinder, die als gleichberechtigte Partner der Erwachsenen angesehen wurden, hatten viele Freiräume. Frei nach der Montessori-Pädagogik „Hilf mir, es selbst zu tun!“ durften sie alles ausprobieren. Sie sollten sich frei entfalten, durften nicht bestraft oder gar geschlagen werden. Sie beschäftigten sich selbst, entschieden eigenverantwortlich, was sie machen und ob sie essen wollten, und gingen allein nach draußen.
Pädagogik ohne Lernzielkontrollen

Der Kindergarten ist seit 1999 auf der Erleninsel angesiedelt.
Von der „Leichtigkeit des Seins“ spricht Sabine Giesler (62), die sich heute die Leitung mit Anna Nessler teilt. Sie gehörte als Mutter von drei Kindern vor 30 Jahren zu der Elterngeneration, die noch das alte Haus und den Umzug 1999 ins neue Domizil auf der Erleninsel erlebt hat. Die Leitlinien der Erziehung waren bereits 1997 durch ein neues pädagogisches Konzept ersetzt worden. 25 Kinder wurden nun betreut. Und wieder musste ein Haus für Kinder renoviert und eingerichtet werden.

Eltern und Kinder im Garten beim Umbau der Kita Mitte der 80er Jahre.
Kinder gut behütet wissen
Vorsitzende der jüngsten Elterngeneration ist Janina Carstens, Mutter von drei Jungs, von denen zwei noch den Kindergarten besuchen. Sie war 2019 mit ihrer Familie von Göttingen nach Stade gezogen und hatte sich für den kleinen, familiären Elterninitiativ-Kindergarten entschieden, um schnell sozial anzuknüpfen. Ihr war es wichtig, die Kinder nicht nur zur Betreuung abzugeben, sondern sie gut behütet zu wissen und aktiv mitzugestalten.
Ihre Stellvertreterin ist Lea Hochschulz, Mutter eines Vierjährigen und Tochter einer ehemaligen Erzieherin. Durch ihre Mutter kannte sie den Kindergarten schon als Kind. Hier sei es „lockerer als in anderen Kitas, weniger streng“. Sie hat sich bewusst für die Elterninitiative und die Zusammenarbeit mit den Erziehern entschieden.
Eine Doppelspitze hat der Kindergarten aktuell mit Anna Nessler, Leiterin seit 2010, und Sabine Giesler. Insgesamt arbeiten hier sieben Pädagogen, dazu eine weitere Kraft, eine Hausmeisterin, eine Praktikantin und eine FSJlerin. Die Zusammenarbeit von Eltern und Erzieherteam funktioniere gut.
Eltern entscheiden sich bewusst für den Kindergarten
Seit den 80er Jahren hatte sich der Zeitaufwand für die Eltern reduziert. Der Elternabend fand irgendwann nur noch 14-täglich, dann nur noch einmal monatlich statt. Die Kindsbesprechungen wurden abgeschafft, die regelmäßige Unterstützung im Kindergartenbetrieb veränderte sich über die Jahre. Das Kochen des Mittagessens übernahm das Niedersächsische Bildungswerk. Eltern, die aus zeitlichen Gründen nicht putzen konnten, zahlten für eine Reinigungskraft. Pädagogische Fragen werden heute beim Elternabend kaum noch diskutiert. Besprochen werden Themen wie Kinderreise, Übernachtung, Essen und Infektionsschutz.
Was das „Haus für Kinder“ besonders macht: Der Kindergarten mit zwei jeweils 70 Quadratmeter großen Gruppenräumen für 30 Krippen- und Elementarkinder ziehe „besondere“ Eltern an, meint Anna Nessler. Sie war hier nach ihrer Ausbildung geblieben, denn ihr gefielen die Räume, der große Garten und das offene Konzept, das „Raum für Individualität und Kreativität“ bietet. Das Konzept unterscheide sich deutlich von anderen, und die meisten Eltern, ein Drittel mit Migrationshintergrund, entschieden sich bewusst dafür, sagt Anna Nessler. Denn im „Haus für Kinder“ mit Betreuungszeiten von 7 bis 17 Uhr lernen die Kinder, „ihr Potenzial zu entfalten“.
Fokus auf Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit
Waren die Ideale anfangs von den Kinderläden geprägt, so wird heute auf Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit (innere Überzeugung, schwierige und herausfordernde Situationen aus eigener Kraft gut meistern zu können) gesetzt. „Unser Kindergarten ist ein Ort für Kinder und Erwachsene, an dem Gemeinschaft gelebt wird“, heißt es im Leitbild. Ihr Erziehungsideal hat Friedrich Fröbel bereits 1837 formuliert: „Erziehung ist Liebe und Vorbild, sonst nichts.“
Der Elterninitiativ-Kindergarten „Ein Haus für Kinder“, Neubourgstraße 12, 21682 Stade, feiert sein 50-Jahr-Jubiläum am Sonnabend, 25. Juni. Kontakt: 0 41 41/ 28 25, mail@hausfuerkinder-stade.de.
www.einhausfuerkinder-stade.de

Kinder spielen das Plummsack-Spiel circa 1980 im Garten des alten Kindergarten-Gebäudes an den Kehdinger Mühren neben der Jugendherberge.

Ein Blick in den Gruppenraum im Erdgeschoss des alten Kindergarten-Gebäudes an den Kehdinger Mühren.