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Polizeigewalt?

Dieses Video aus Bremerhaven erzürnt Muslime weltweit

Hier ist zu sehen, wie ein kleiner Junge aus der Wohnung geholt wird. Foto: Screenshot Twitter

Hier ist zu sehen, wie ein kleiner Junge aus der Wohnung geholt wird. Foto: Screenshot Twitter

Polizeibeamte und Mitarbeiter des Jugendamtes aus Bremerhaven werden derzeit im Internet weltweit vor allem von Muslimen beschimpft, teils sogar bedroht. Anlass ist ein beklemmendes Video, das bereits millionenfach gesehen wurde. Die Hintergründe.

Mittwoch, 03.05.2023, 00:01 Uhr

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Von Christian Lindner

Es kursiert seit dem 27. April im Internet – in Twitter, Facebook, Youtube, Instagram und Telegram. Allein der Tweet eines indonesischen Journalisten mit dem Video ist bis zum 2. Mai schon 18,3 Millionen Mal aufgerufen worden.

Die "Nordsee-Zeitung" hat das Video ausgewertet, seinen Weg durch das Netz verfolgt und die Reaktionen gesichtet. Hier ein Überblick - basierend auf Fakten, ohne Wertung.

Was das Video zeigt

Das Video ist 4:12 Minuten lang. Es wird von einem arabisch sprechenden Mann aufgenommen, als Jugendamt und Polizei die vom Amtsgericht Bremerhaven beschlossene Inobhutnahme der zwei Jungen vollziehen wollen.

Das Video entsteht bei der Aktion in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Bremerhaven - nicht heimlich, sondern ganz offen. Die Beamten blicken mehrfach in die Kamera, unterbinden das Filmen nicht.

Das ist darin zu sehen: Drei Polizeibeamtinnen, ein Polizeibeamter und zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes versuchen, die Inobhutnahme von zwei Jungen (der eine wohl im Kindergarten-, der andere im Grundschulalter) zu vollstrecken.

Der ältere Junge verhält sich unauffällig und ist offenbar bereit, mitzugehen. Der kleine Junge aber schreit fortwährend und wehrt sich heftig gegen sein Mitnehmen.

Das Geschehen prägen auch zwei junge Muslima in Jilbabs (eine muslimischen Gebetskleidung für Frauen, die den Körper bis auf die Hände und das Gesicht völlig verdeckt). Sie attackieren die Beamten, werden teils handgreiflich. Eine von ihnen, möglicherweise die Schwester der Jungen, schreit fast durchgängig mit sich überschlagender Stimme, beleidigt die Beamten auf Deutsch.

Nach längerer Gegenwehr des kleinen Jungen schaffen eine Polizeibeamtin und eine Mitarbeiterin des Jugendamtes ihn aus der Wohnung, bringen ihn durch das Treppenhaus nach unten. Sein Geschrei ist noch lange zu hören.

Der männliche Beamte zieht dem älteren Jungen vor der Wohnungstür die Schuhe an, fragt seine Familie vorher noch: „Können Sie eben Socken holen für den Kleinen hier?“ Die aufgebrachte junge Muslima verweigert das: „Ne, machen wir nicht. Verpiss Dich jetzt.“

Auch zwei weibliche Beteiligte der Behörden versuchen, die Situation zu entschärfen. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes sagt: „Das wird sich doch alles regeln.“ Erneutes Geschrei ist die Reaktion. Eine Polizeibeamtin argumentiert: „Wir können da nichts für. Das wurde vom Jugendamt so beschlossen. Wir sind hier diejenigen, die das hier ausführen.“ Reaktion: „Scheiß auf Jugendamt. Ihr seid alle Scheiße. Sie, du, er.“

Die Polizeibeamtin sagt auch: „Sie haben uns dreimal beleidigt“ – und kündigt eine Anzeige an. Die erregte junge Muslima ruft laut, offenbar den kleinen Jungen meinend: „Er hat Strom im Kopf, er ist krank. Er kann sterben.“

Kurz ist auch ein arabisch wirkender Mann zu sehen; er beteiligt sich aber zumindest in der dokumentierten Szene nicht am Geschehen. Ein zweiter Mann filmt die Aktion die ganze Zeit und kommentiert sie oft auf Arabisch. Er fragt "Warum? Warum?", er verweist auf die Krankheit des kleinen Jungen, er beleidigt die Polizisten als "Hunde". Das Video endet mit einem Wehklagen dieses Mannes.

Wie sich das Video verbreitet, welche Botschaft es auf einmal bekam

Offenbar teilt die Familie das Video bald nach der Aktion in muslimischen Kreisen. Bald wird es weltweit gesehen und kommentiert.

27. April: Ein Journalist aus Indonesien veröffentlicht das Video auf seinen Social-Media-Kanälen. Was er publiziert, hat weite Verbreitung: Auf Youtube hat er 879.000 Abonnenten, auf Facebook 571.000 Freunde, auf Twitter 262.000 Follower.

Seine Webseite nennt er einen „unabhängigen Kanal“, der politische und gesellschaftliche Ereignisse kommentiert und „verschiedene Videos aus der ganzen Welt veröffentlicht“. Der muslimische Journalist will damit gegen die „Verzerrung des Bild des Islam“ arbeiten.

Das Video aus Bremerhaven kommentiert der Mann in Indonesien so: „Wie ich aus Deutschland mitbekommen habe: gewaltsame Entführung von Kindern einer muslimischen Familie! Die Entführung wurde von der Jugendhilfestiftung durchgeführt, begleitet von Polizeikräften.“

28. April: Einen Tag später teilt die muslimische Moderatorin der Frühstücksshow eines britischen Privatsenders das Video in Twitter. Ohne Quellenangabe verbreitet sie: „Ein kleiner Junge wird von Jugendschutzdiensten und der Polizei gewaltsam aus seiner Familie entfernt. Die Schule wurde darüber informiert, dass ihm beigebracht wurde, dass Homosexualität und Transsexuelle im Islam nicht akzeptabel seien. Ideologischer Unterschied ist keine Gefahr oder Missbrauch. Schützen Sie unsere Kinder.“

29. April: Offenbar über den Messenger Telegram erreicht der Film Georgien. Eine junge Georgierin aus Batumi, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, verbreitet in Facebook diese Variante: „In Bremerhaven nimmt das Kinderschutzsozialamt den jüngsten Sohn der Familie weg. Die Schule eines Jungen sagte einem Sozialarbeiter, seine Familie habe ihm beigebracht, dass Homosexualität und Transgenderismus für ihre muslimische Familie und für ihn nicht akzeptabel seien. Das Gericht entschied, das Kind in die Obhut der Sozialfürsorge zu übertragen.“

Am selben Tag nutzt eine georgische Facebook-Seite namens Gala diese Verquickung für Propaganda pro Putin. Sie verbreitet das Video mit den Worten: „Hardcore Aufnahmen in Deutschland. Eltern beschlossen, dass sie die Propaganda der schwulen Pädophilie in Schulen nicht begrüßen würden, also wurde ihr Kind entfernt. Ist euch jetzt klar, dass Putin Georgien und die Ukraine vor diesem Dreck gerettet hat?“

Die Reaktionen auf das Video

Die Polizei in Deutschland nimmt Muslimen mit Gewalt ihre Kinder weg, wenn diese sie im Sinne ihres Glaubens erziehen? Diese vermeintliche, aber durch nichts belegte Botschaft geht jetzt um die Welt. Scheinbar untermauert durch die Bilder von dem Ringen um den schreienden Jungen in Bremerhaven.

Die Reaktionen in Social Media fallen teils nicht minder verstörend aus. Hier eine Auswahl (immer übersetzt):

  •  „So sieht Faschismus aus“

  • „Deshalb muss der Westen enden“

  • „Geh und lebe für die Taliban“

Die Reaktion von Polizei und Jugendamt

Schon am 28. April reagiert die Pressestelle der Polizei Bremerhaven auf die Verbreitung des Videos im Internet. Wohl aufgrund von Anfragen internationaler Medien postet sie in Social Media: „Das Video ist der Polizei Bremerhaven bekannt und wird geprüft. An Spekulationen möchten wir uns nicht beteiligen. Bitte behindern Sie unsere Arbeit nicht durch die Verbreitung dieser Spekulationen.“

Einen Tag später konkretisiert die Polizei: „In den sozialen Netzwerken kursiert ein Video eines gemeinsamen Einsatzes des Jugendamtes und der Polizei Bremerhaven, welches mit falschen Behauptungen zu den Gründen der Maßnahme kommentiert wird. Das Video zeigt einen kleinen Ausschnitt einer gerichtlich angeordneten Inobhutnahme zweier Kinder. Die Polizei hat das Jugendamt bei diesem Einsatz unterstützt. Eine Inobhutnahme von Kindern ist immer das letzte Mittel der Wahl und geschieht nur bei schwerwiegenden Gründen. Wir bitten um Verständnis, dass wir zum Schutz der Familie und der Kinder keine weiteren Erklärungen zu den Grundlagen dieser Entscheidung abgeben können. Uns ist bewusst, dass das besagte Video emotional aufwühlend ist. Bitte verbreiten Sie keine falschen Tatsachen und Behauptungen.“

Am 2. Mai bekräftigt ein Sprecher der Polizei Bremerhaven gegenüber der Presseagentur dpa, dass die Kinder nicht wegen der muslimischen Erziehung durch ihre Eltern in Fragen der sexuellen Orientierung in Obhut genommen worden sind: „Das können wir dementieren, das stimmt so natürlich nicht.“

Zu den eigentlichen Gründen für das Entfernen der beiden Jungen aus der Familie äußern sich weder die unterstützende Polizei noch das zuständige Jugendamt. Durch ihr Schweigen will sie die Familie und die Kinder schützen.

Die Sorge um Konsequenzen für Polizei und Jugendamt

Das Video verbreitet sich derweil weltweit weiter – ebenso der vermeintliche Hintergrund, dass Muslime in Deutschland ihre Kinder verlieren, wenn sie diese gläubig erziehen. Das Dementi aus Bremerhaven geht dabei unter.

In dem Video sind alle beteiligten Einsatzkräfte minutenlang genau zu erkennen. Obwohl sie in der aufgewühlten Situation erkennbar beherrscht und deeskalierend agierten, leben sie nun in der Gefahr, zu Zielscheiben für Hass und Hetze zu werden.

Nach Informationen der "Nordsee-Zeitung" sind Polizei wie Jugendamt deshalb in ernster Sorge um die beteiligten Mitarbeiter. Auch wegen der nach wie vor wuchernden empörten Kommentare zur angeblichen gewaltsamen Entführung zweier muslimischer Jungen.

Aufrufe in Twitter wie dieser werden sehr ernst genommen:

„Muslims müssen bis zu den Zähnen bewaffnet sein und jeden, der versucht, ihre Kinder zu entführen, mit Kugeln vollpumpen! Führt sofort bewaffnete Überfälle auf die Polizei durch. Wo auch immer diese Kinder sind: rettet sie, bringt sie jetzt raus! Wir müssen alle unser Leben opfern, um diese Kinder zu retten.“

 

Anmerkung der Redaktion: Mit Rücksicht auf die beteiligten Mitarbeiter von Polizei und Jugendamt, aber auch mit Blick auf die Familie verzichten wir bewusst darauf, das Video zu zeigen oder darauf zu verlinken.

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