Friedensforscherin: „Verhandlungen werden auf lange Sicht alternativlos sein“

Die Friedensforscherin Ursula Schröder findet es bemerkenswert, dass deutsche Debatten wochenlang nur um kleinere Fragen kreisen. Foto: Ertel
2007 rückte das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik von der Elbe dicht ran an die Uni Hamburg ins Grindelviertel und liefert seitdem von dort Expertisen zu einigen der wohl brennendsten Fragen der Zeit.
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Von Manfred Ertel
TAGEBLATT: Brauchen wir aktuell eigentlich noch Friedensforschung in dieser Welt?
Ursula Schröder, Wissenschaftlerin am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: Mehr denn je. Wir verstehen Frieden als einen Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit. Frieden ist nichts, was man an- oder abschaltet. Frieden muss man erarbeiten, und wir müssen verstehen, wie man dahinkommt. Das ist unsere Aufgabe. Und die ist wichtig.
Schwedische Kollegen und Kolleginnen warnten jüngst vor Dürre oder Hungersnot als aktuellen Kriegsgrund, auch der Kampf um Wasser gilt schon lange als Kriegsrisiko. Klingt das vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine nicht ein bisschen aus der Zeit gefallen?
Der Kampf um Wasser ist bisher empirisch selten ein Kriegsgrund gewesen. Das ist eher ein Feld, auf dem wir sehen, dass Ressourcenknappheit auch zu Kooperationen führen kann. Aus unserer Forschung wissen wir, dass manche Formen der Ressourcenknappheit zu mehr Kooperation der betroffenen Gesellschaften führen. Die großen Zukunftsfragen unserer Zeit sind also, unter welchen Bedingungen Ressourcenknappheit, die durch den Klimawandel hochgradig zu erwarten ist, zu mehr Kooperation führt. Und ab welchem Grad an Erderwärmung wir einen Umschlag in mehr Konflikte erwarten müssen.
Brauchte es erst einen Krieg in Europa, damit Friedensforschung nicht länger als Orchideenwissenschaft gilt?
Wir arbeiten seit Jahrzehnten sowohl in der Grundlagenforschung als auch sehr eng mit der Politik in Berlin und in vielen Projekten direkt mit politischen Entscheidungsträgern in Bundesbehörden zusammen. Und werden dort keineswegs als Orchidee wahrgenommen. Unsere Aufgabe war es immer, zivile Expertise als Wissensbank in diesem Feld vorzuhalten und wenn nötig mit dem Auswärtigen Amt oder anderen zu besprechen. Aber auch meine Studierenden müssen wissen, wie beispielsweise Rüstungskontrolle funktionieren kann.
Braucht es in Berlin eine Art Expertenrat wie zum Thema Corona?
In der deutschen Außenpolitik fehlt, das wurde auch in den Koalitionsverhandlungen diskutiert, eine sicherheitspolitische Infrastruktur, die aus der Politik selbst besetzt sein sollte: eine Art nationaler Sicherheitsrat. Es gibt daneben aber auch in sogenannten wissensintensiven Politikfeldern immer mehr Bedarf an wissenschaftlicher Expertise. Das ist unsere Aufgabe. Friedens- und Sicherheitsfragen sind Querschnittsthemen, die ressortübergreifend verschiedenste Politikfelder berühren, von innerer Sicherheit, Bevölkerungsschutz, Klimakrise bis zum Krieg in der Ukraine. Um Wissenslücken zu überwinden, die wir zwischen Behörden und Ministerien haben, wäre eine wissenschaftliche Infrastruktur sinnvoll, die genau das tut.
Was kann Hamburg dazu beitragen?
Hamburg ist ausgezeichnet positioniert für strategische Fragen von Frieden und Sicherheit. Wir sind weit genug weg von Berlin, um nicht vollständig vom Tagesgeschäft aufgefressen zu werden. Und nahe genug an der Tagespolitik, um schnell genug hinzukommen und beraten zu können. Und wir haben in Hamburg ein Ökosystem von Forschungs- und Weiterbildungseinrichtungen zu Frieden und Sicherheitspolitik, die es nirgendwo in Deutschland in der Dichte an einem Standort gibt. Und wir arbeiten alle gut zusammen.
Es wird zurzeit viel gestritten, ob die Ukraine den Krieg gewinnen muss oder Russland ihn nur nicht gewinnen darf. Was denken Sie?
Ich halte das für die falsche Frage. Ich glaube, wir sollten die Politikziele substanziell formulieren, wie es auch der US-Präsident gerade in der „New York Times“ getan hat. Die Frage ist, wie kommen wir zu dem politischen Ergebnis, dass die Ukraine unabhängig, demokratisch und souverän bleibt. Da wird dann die Frage nach Gewinnen und Verlusten zweitrangig, weil dieses substanzielle Politikziel auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann.
Wie denn, von Friedensverhandlungen ist zurzeit wenig zu hören?
Verhandlungen werden auf lange Sicht alternativlos sein, weil Kriege in der Regel nicht durch den Sieg einer einzelnen Partei enden. Das ist klar aus der Forschung belegbar. Nur ein Fünftel aller zwischenstaatlichen Kriege enden mit einem klaren Sieg. Alle anderen enden nicht oder über Verhandlungen. Allerdings basieren Verhandlungsergebnisse auf erreichten Erfolgen auf dem Schlachtfeld. Deswegen wird in der Ukraine so hart weitergekämpft, weil die Parteien versuchen, entweder den Krieg doch für sich zu entscheiden oder aber sich für eine mögliche Verhandlung in die bestmögliche Position zu bringen.
Gibt es aus früheren Konflikten Erfahrungen, wann und was für ein Frieden denkbar wäre?
Ich würde momentan nicht von Frieden sprechen. Sondern maximal von der Koexistenz zweier souveräner Staaten. Und das wäre schon gut.
Ist es das, was Sie „negativen Frieden“ nennen?
Ein „negativer Frieden“ ist die Abwesenheit von Gewalt. Meinetwegen können wir das negativen Frieden nennen. Ich wäre eher bei sicherer und nachhaltiger Koexistenz von zwei souveränen Staaten, damit wäre schon sehr viel erreicht. Aus der Forschung wissen wir, dass zwischenstaatliche Kriege dieser Art oft erst dann enden, wenn beide Parteien deutlich merken, dass sie ihre Ziele nicht mehr militärisch auf dem Schlachtfeld durchsetzen können. Wenn es einen Zermürbungskrieg gibt, den beide Seiten nicht mehr lange durchhalten können. Da ist momentan die Ukraine in der schlechteren Position. Ein wahrscheinliches Szenario kann aber auch eine Situation sein, die „kein Krieg“, aber auch „kein Frieden“ bedeutet. Dann hätten wir ein Szenario mit temporären oder örtlich begrenzten Waffenstillständen und das Risiko, dass immer wieder Kämpfe an einer Kontaktlinie aufflammen. Die Ukraine könnte dann in eine Situation mit weitreichend instabilem Zustand rutschen, in der keine Verhandlungen stattfinden und die Ukraine wirtschaftlich zerstört wird.
Polen kritisiert heftig telefonische Gesprächsversuche von Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron mit Putin – zu Recht?
Aus einer Perspektive der Vermittlung und Mediation wäre es besser, eine konzertierte multilaterale Vermittlungsinitiative mit mehreren Staaten und einer multilateralen Organisation, beispielsweise den Vereinten Nationen, auf den Weg zu bringen, die ein Paket schnürt und eine wirkliche Vermittlungsinitiative anbietet, sobald beide Parteien erkennen lassen, dass sie dazu bereit wären. Vermittlung heißt nicht, Waffenstillstand und territoriale Flächen an Russland abzutreten. Vermittlung heißt, dass man hart verhandelt, auch unter Rückgriff auf eine mögliche Aufhebung der Sanktionen: Für eine Lösung, die auf lange Sicht für beide Seiten tragbar ist.
Die Debatte um den Krieg in der Ukraine wird in Nachbarländern wie Dänemark viel weniger moralisch und emotional geführt. Ist unsere Diskussion typisch deutsch?
Sie ist zumindest sehr aufgeregt und bei uns auf relativ spezifische Fragen konzentriert. Die Frage der Waffenlieferungen zum Beispiel ist zwar wichtig, aber eben nur ein Baustein der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik im Russland-Ukraine-Konflikt. Und ich finde es bemerkenswert, dass die deutschen Debatten wochenlang um diese kleineren Fragen kreisen und nicht um andere größere: Was sind eigentlich die Kriegsziele, welche anderen politischen Instrumente wären einsetzbar, unter welchen Bedingungen wären Sanktionen aufzuheben oder zu verschärfen.
Macht ein NATO-Beitritt von Schweden und Finnland Europa sicherer oder sind damit neue Spannungen programmiert?
Ihr Beitritt ist für die NATO sicher positiv. Mit Finnland käme eine sehr gut organisierte Armee dazu, mit Schweden haben wir ein Land, das sehr gut in der Rüstungsindustrie ist und sehr gute Waffensysteme baut. Die militärische Kraft der NATO wird durch diesen Beitritt steigen. Die Kontaktlinie zwischen NATO und Russland wird natürlich 2500 Kilometer größer. Es ist also eine Entscheidung, bei der man erst hinterher sehen kann, ob es zur europäischen Sicherheit beigetragen hat oder nicht. In der Abwägung ist ein NATO-Beitritt allein schon für die Finnen und die Schweden so wichtig, dass er stattfinden muss. Weil beide Staaten sonst nicht sicher sein können, dass die Beistandsgarantie der NATO im Krisenfall auch auf sie ausgedehnt würde. Denn die Europäische Union, die ja ebenfalls eine Beistandsgarantie hat, ist ein Friedensprojekt mit einer verteidigungspolitischen Komponente, die noch sehr klein ist.
Wie wichtig ist es, einen Rest von Dialog mit Moskau aufrechtzuerhalten?
Wir wissen auch aus der Forschung, dass Dialogformate und gegenseitige Kontaktaufnahme auf gesellschaftlicher Ebene notwendig sind, um auf lange Sicht wieder zu einer friedlichen Koexistenz zu kommen. Wenn wir die gegnerische Seite nicht mehr kennen, wenn auch die Bevölkerungen keinen Austausch mehr haben, wenn Wissenschaftskooperation eingestellt wird, dann wird es sukzessive schwieriger, gegen Feindbilder an zu argumentieren und später wieder auf Dialogformate zu kommen, die unabwendbar sein werden. Denn Russland ist, so hat Egon Bahr mal gesagt, unverrückbar ...
... wofür ihm und Willy Brandt heute viel Kritik entgegenschlägt und Mitschuld an einer falschen deutschen Russland-Politik gegeben wird.
Die Ostpolitik von Brandt und Bahr hat jahrzehntelang sehr gut funktioniert und hat auch zu einer massiven Reduktion des Eskalationsrisikos im Kalten Krieg beigetragen. Wir haben gesehen, dass eine Annäherung über Dialog mit einer ganz harten Politik der Abschreckung Frieden gesichert hat. Wir sollten nicht vergessen, dass unter Brandt und Bahr dreieinhalb Prozent des Bruttoinlandproduktes in die Verteidigung gegangen sind, deutlich mehr als heute. Das hat, kombiniert mit einer Politik der Annäherung durch Dialog, über Jahrzehnte sehr gut funktioniert.
Bitte ergänzen Sie ...
Wenn ich mal nicht über Frieden und Sicherheit nachdenke ... dann pflanze ich Gemüse im Garten.
Für Hobbys bleibt mir ... wenig Zeit. Wenn, dann Schwimmen oder Radfahren.
Mein Lieblingsplatz in Hamburg ... ist der Hayns Park am Alsterlauf.
Einfach mal einen kitschigen Roman zu lesen oder Film zu sehen ... kommt selten vor.
Die Rolle der Medien in der Ukraine-Debatte in einem Satz? Ich hoffe, dass sie die Ukraine auf lange Frist nicht vergessen wie Afghanistan.
Die diplomatische Rolle des ukrainischen Botschafters Melnyk ... ist ein schwerer Job.
Zur Person: Seit 2017 ist Ursula Schröder (47) Wissenschaftliche Direktorin des international renommierten IFSH und Professorin für Politikwissenschaft an der Hamburger Uni. Sie ist in Niebüll geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit in Westerland. Mitte der Neunziger zog es sie nach Berlin, „als es dort noch wild war“.
Schröder hat in Berlin an der Humboldt-Universität und der Freien Universität (FU) sowie an der University of Wales studiert und am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert. Sie lebte, lehrte und forschte auch in Brüssel und dann wieder in Berlin, zuletzt als Professorin für internationale Sicherheitspolitik am Otto-Suhr-Institut der FU, bevor sie „rübergemacht hat“ an die Elbe, wie sie lachend erzählt, wo sie jetzt zu Hause ist.
„Ich bin eine große Hamburg-Freundin“, sagt sie zu ihrem Ortswechsel, „ich wusste, was ich tat.“. Im IFSH, das voriges Jahr sein 50-jähriges Bestehen feierte, arbeiten und forschen mehr Frauen als Männer. Allgemein ist das eher untypisch, sagt Schröder: „Aber an der Universität Hamburg und auch in Hamburg insgesamt ist die Sicherheitsforschung auf der Ebene der Professuren weiblich.“