Wie eine Tierschützerin aus dem Cuxland Angsthunden hilft

Doris Urban kümmert sich in Neuenkirchen um Angsthunde. Mira war die erste Hündin, bei der sie erkennen musste: Nicht jeder Hund ist vermittelbar. Fotos: Scheschonka
Für viele Tierliebhaber ist es eine Herzenssache, Hunde aus dem Ausland zu retten. Doch das wird zum Problem, wenn ein Angsthund in die Familie kommt. Diese Tiere sind meist traumatisiert und reagieren mit Flucht oder sogar Aggression auf alles Unbekannte. Dann kommt Doris Urban ins Spiel.
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Von Luise Langen
Die Tierschützerin aus Neuenkirchen (Land Hadeln) nimmt auch Problemhunde auf ihrem großen Grundstück auf, versucht sie zu sozialisieren und an passende Familien zu vermitteln.
Jule legt den Kopf auf dem Sofa ab und lässt sich von Doris Urban hinter den grau-weißen Schlappohren kraulen. Kurz schnauft sie entspannt – dann zieht sie sich wieder in ihr Körbchen zurück. Wer den neunjährigen Mischling im Haus kennenlernt, käme wohl kaum auf die Idee, dass sie eine Angsthündin ist. Zu Fremden hält sie zwar lieber ein bisschen Abstand, aber bei der Tierschützerin kann sich die Hundedame entspannen.
Tierheim wie ein überfüllter Knast
Doch dann öffnet Doris Urban die Hintertür zu ihrer 4500 Quadratmeter großen Hundewiese – und aus dem zahmen Haushund wird innerhalb von Sekunden ein rumänischer Straßenhund. Blitzschnell rennt sie über die nasse Wiese und verkriecht sich in einem Busch. Jetzt sieht man nur noch die großen dunklen Augen zwischen dem Geäst hervorblitzen. „Jule wird niemals ein Familienhund sein“, sagt die Tierschützerin. „Auch wenn sie drinnen so wirkt, als könnte man sie sogar problemlos an Familien mit Kindern vermitteln. Bevor sie zu mir kam, ist sie mehrfach entlaufen. Und wenn sie könnte, würde sie es wahrscheinlich auch jetzt tun – obwohl sie in den letzten Jahren ein bisschen Zutrauen gefasst hat.“
Kontakt mit Menschen hatte Jule in Rumänien kaum. Bis sie sieben Jahre alt war, lebte die Hündin in einem sogenannten Shelter – also einem großen Tierheim. „Das ist wie ein überfüllter Knast. Da leben Tausende Hunde in kleinen Zwingern“, beschreibt die 49-Jährige diese Einrichtungen. Dann brachte ein Verein für Auslandstierschutz die Hündin zu einer Familie in der Nähe von Hannover. Wahrscheinlich träumten damals alle Beteiligten von einem Happy End für Jule – doch schon nach vier Wochen büxte der Vierbeiner aus. 14 Tage trieb sie sich auf den Straßen herum, bis sie von Tierschützern eingefangen wurde und für ein paar Wochen bei einer Helferin unterkam. Doch auch dort blieb sie nicht lange: Jule entwischte erneut – diesmal für ein halbes Jahr. Dann wurde die Ausreißerin gefasst und zu Doris Urban gebracht.

Sobald Jule die 4500 Quadratmeter große Hundewiese hinter dem Haus betretenvdarf, versteckt sie sich in einem Busch. Außerhalb des Grundstücks muss die Hündin immer ein Sicherheitsgeschirr tragen. Sonst reißt sie sich los.
Viele Angsthunde landen im Tierheim
So oder so ähnlich klingen die Geschichten vieler ausländischer Angsthunde, die in Zwingern, an der Kette oder auf der Straße aufgewachsen und nach Deutschland gebracht werden. „Die Zahl der Angsthunde im Tierheim nimmt zu – wir haben eigentlich immer ein oder zwei da“, stellt Nina Schimmer, die Leiterin des Tierheims Cuxhaven, fest. „Alle Angsthunde, die wir bisher hatten, kommen aus dem Ausland. Vor 20 Jahren war das kein Thema, aber im Zuge der ganzen Online-Vermittlungen aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Ungarn ist es immer mehr geworden.“ Auch Doris Urban, die selbst Mitglied beim Auslandstierschutz-Verein „Born to live“ ist, kritisiert, dass einige Organisationen nicht seriös arbeiten. Hinzu käme die explosionsartig gestiegene Nachfrage nach Welpen seit dem Beginn der Pandemie. „Viele achten nicht darauf, welche Hunde dafür geeignet sind, in einer Familie zu leben“, betont sie.
Doch nicht jeder Hund, der wenig oder keinen Kontakt zu Menschen hatte, ist ängstlich, und nicht jeder ängstliche Hund ist ein Angsthund. „Angsthunde haben oft schlechte Erfahrungen gesammelt und sich bestimmte Verhaltensmuster angeeignet, um zu überleben. Sie vermeiden den Kontakt mit Menschen und sind immer in Habacht-Stellung“, erklärt Nina Schimmer. Wenn diese verängstigten Tiere bedrängt werden, reagieren sie oft mit Flucht, manchmal verfallen sie in eine Schockstarre. Doch wenn sie nicht flüchten können, droht mitunter Gefahr: In solchen Fällen beißen einige Angsthunde, um sich zu verteidigen.
Hunde nicht mit Liebe überschütten
Aber was bedeutet das für Familien, die sich durch Unwissenheit oder schlechte Beratung einen Angsthund ins Haus geholt haben? Ist er zwangsläufig ein Fall fürs Tierheim? „Ein Drittel der Angsthunde werden sich nie ins Familienleben einfinden“, schätzt Doris Urban. „Andere werden ganz tolle Familienhunde, wenn man richtig mit ihnen umgeht. Wichtig ist vor allem, dass man versteht, wie diese Tiere funktionieren.“
Die Arbeit mit Angsthunden ist oft kleinteilig und langwierig. Wer die Tiere überfordert, wird ihnen nicht helfen können. „Menschen und Hunde kommunizieren sehr unterschiedlich. Hunde sind in der Lage, sich an das Verhalten der Menschen zu gewöhnen und sich anzupassen. Aber wenn ein Hund das als Welpe nicht gelernt hat, ist eine Umarmung für ihn Dominanzverhalten und keine Liebesbekundung“, so die langjährige Hundehalterin.
„Viele überschütten ihre Hunde mit Liebe, wollen kuscheln und machen direkt große Ausflüge. Das ist zu viel. Der Hund muss sich erst mal an die neue Umgebung gewöhnen“, rät sie. Bei schweren Fällen sollte direkter Augenkontakt vermieden werden. Das gilt unter Hunden als Drohgebärde. „Ich setze mich anfangs nur kurz neben den Hund und ignoriere ihn. Dadurch lernt er, dass keine Gefahr von mir ausgeht und ich nichts von ihm will“, führt sie aus. „Später kann man vorsichtig mit Berührungen fortfahren, ihn ansprechen und den Kontakt langsam steigern.“ Die wichtigste Regel lautet: Schritt für Schritt vorantasten. Bei Negra hat dieser Weg funktioniert. Die neunjährige Hündin aus Ungarn hat fünf Jahre an der Kette gelebt. Positive Erfahrungen mit Menschen gab es nicht. Als sie nach Deutschland kam, war sie misstrauisch und ängstlich. „Aber dann hat sie Fürsorge und Zuneigung kennengelernt und fand das ganz toll. Jetzt kann ich sie ohne Probleme an eine Familie abgeben“, erzählt Doris Urban.
Dankbarkeit und Liebe sind menschliche Begriffe - nicht die von Hunden
Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Andere Hunde bleiben immer skeptisch und beobachten mit ihren aufgerissenen Angstaugen das unverständliche Leben unter Menschen. Die nicht vermittelbaren Tiere bleiben bei Doris Urban. Insgesamt drei Angsthunde leben inzwischen dauerhaft bei ihr: Jule, Mayo und Mira. „Mira war der erste. Bis dahin konnte ich jeden Hund umkrempeln. Durch sie habe ich gelernt, dass es Grenzen gibt“, erinnert sich die 49-Jährige.

Mit großen Angstaugen guckt die siebenjährige Mira unter einem alten Bett im Stall hervor. Auch nach vielen Jahren in Deutschland hat sie sich noch nicht an Menschen gewöhnt.
Doch nicht jeder Mensch ist dafür gemacht, einen Angsthund auf dem langen Weg zum Familienhund zu begleiten. „Leider interessieren sich oft die falschen Leute für diese Tiere“, sagt die Leiterin des Cuxhavener Tierheims. „Was die Hunde brauchen, ist ein Fels in der Brandung – also jemand, der sehr zuverlässig und ruhig ist. Ich vergleiche das immer mit einer Dschungelführung: Wer will in einem unbekannten Gebiet schon einen Leiter an der Seite haben, der Unsicherheit ausstrahlt?“ Diese Erfahrung hat auch Doris Urban gemacht: „Viele wollen einen Angsthund retten, weil sie glauben, er wäre dann besonders dankbar. Aber Dankbarkeit und Liebe sind menschliche Begriffe. Ich würde nie davon ausgehen, dass Jule und die anderen mich lieben“, sagt sie und wirft der Hündin einen flüchtigen Blick zu – die trottet gerade mit großem Sicherheitsabstand über das Feld.