Elternrat warnt vor Wegfall von Klassenfahrten

Julia Willie Hamburg (Grüne), Kultusministerin von Niedersachsen. Foto: Moritz Frankenberg/dpa
Große Schulbilanz in Niedersachsen: Während das Kultusministerium bei den Konfliktthemen Unterrichtsausfall und Lehrermangel erstmals positive Zahlen berichtet, ist die Sorge bei Eltern und Schülern weiter groß.
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Hannover. Klassenfahrten sind in Niedersachsen nach Darstellung des Landeselternrats wegen Personalmangels vermehrt gefährdet. „Aufgrund der hohen Belastung im Schulalltag und den täglichen Aufgaben neben der Unterrichtsverpflichtung scheinen nicht mehr alle Lehrkräfte gewillt oder auch in der Lage, diese zusätzliche Arbeit in Schulfahrten zu investieren“, hieß es in einer Mitteilung des Landeselternrats am Mittwoch. Zudem seien Reisekosten gestiegen. Klassenfahrten würden deswegen vermehrt gekürzt oder komplett gestrichen.
Mit ausfallenden Klassenfahrten gingen wertvolle Lernerfahrungen, Teamfähigkeit und soziale Interaktionen verloren, hieß es.
Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) betonte die Bedeutung von Klassenfahrten. Dass aufgrund von Personalmangels Klassenfahrten nicht stattfänden, könne vereinzelt so sein, als Trend für ganz Niedersachsen könne sie das aber nicht bestätigen, sagte die Ministerin.
Seit Jahren: Unterrichtsversorgung wieder leicht gestiegen
Die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen ist nach mehreren Jahren erstmals wieder gestiegen. Der Wert kletterte zum Stichtag 31. August 2023 um 0,6 Prozentpunkte im Vergleich zum Jahr zuvor, wie das Kultusministerium in Hannover am Mittwoch mitteilte. Damit ist dieser für viele Experten wichtige Wert erstmals seit 2019 wieder gestiegen und lag nun bei 96,9 Prozent. Berücksichtigt darin sind alle allgemeinbildenden Schulen im Land. Trotz der gestiegenen Zahl bleiben die Herausforderungen in der Bildungspolitik enorm.
Je nach Schulform ergeben sich unterschiedliche Werte. Die Unterrichtsversorgung war an den Gymnasien mit 99,6 Prozent am höchsten, am niedrigsten an den Förderschulen mit 91,6 Prozent. Ministerin Hamburg sagte, für eine Unterrichtsversorgung von 100 Prozent brauche man etwa 2000 zusätzliche Lehrkräfte. Gestiegen ist laut Ministerium zudem die sogenannte Lehrer-Schüler-Relation. Sie gibt an, wie viele Lehrerstunden bei den Schülerinnen und Schülern ankommen.
Aufgaben für Schulen sind gewachsen
Die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen war zuvor auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Statistik vor 20 Jahren gesunken. Die Statistik gibt wieder, ob an den jeweiligen Schulen für die errechnete Zahl an Unterrichtsstunden auch genügend Lehrerinnen und Lehrer vorhanden sind. Werte von über 100 Prozent ergeben sich, wenn über das Pflichtangebot hinaus Lehrer für weitere Angebote oder etwa Vertretungsstunden zur Verfügung stehen. Krankheitsfälle zählen in die Unterrichtsversorgungsstatistik nicht mit rein. Der Verband niedersächsischer Lehrkräfte (VNL) sagt beispielsweise, dass für eine Vollversorgung ein Wert von 110 Prozent notwendig sei.
In früheren Jahren war dieser Wert noch höher - vor zehn Jahren waren es beispielsweise noch mehr als 100 Prozent, ab 2015 stets darunter. Zahlen aus früheren Jahren sind mitunter schwer zu vergleichen, weil in den Folgejahren mehr Aufgaben für Lehrer und Schulen hinzukamen, beispielsweise die Ganztagsbetreuung. Somit müssen Schulen mittlerweile mehr abdecken als noch vor einigen Jahren. „Unterrichtsversorgung ist eben nicht nur Deutsch, Mathe und Englisch, sondern auch diese vielen Zusatzbedarfe für Sprachförderung und anderes“, sagte die Ministerin.
Mehrere Gründe für höhere Unterrichtsversorgung
Den nun gestiegenen Wert führte die Ministerin unter anderem auf viele Einstellungen zurück. „Wir haben wieder mehr Lehrkräfte einstellen können, als aus dem aktiven Schuldienst ausgetreten sind. Im Kalenderjahr 2023 konnten wir insgesamt 2563 Lehrkräfte neu dazugewinnen - das sind rund 400 mehr als in Pension gegangen sind“, betonte Hamburg. Hinzu kämen freiwillige Teilzeiterhöhungen.
Die Ministerin sagte, durch Erhöhungen bei der Teilzeit konnten im ersten Schulhalbjahr rechnerisch 146 Vollzeitstellen hinzugewonnen werden, im zweiten Schulhalbjahr 85. Von den knapp 1200 ausgeschriebenen Stellen zum zweiten Halbjahr seien bislang gut 75 Prozent besetzt. Um alle zur Verfügung stehenden Stellen zu besetzen, bleibe das Einstellungsverfahren auch über den 1. Februar geöffnet, hieß es.
Mehr Quereinsteiger sollen an Niedersachsens Schulen kommen
Die Herausforderungen bleiben nach Einschätzung der Ministerin auch künftig groß. Nach einer Prognose steigen die Schülerzahlen in den kommenden Jahren deutlich. Bereits in diesem Schuljahr stieg die Schülerzahl in Niedersachsen laut Ministerium um knapp 9000 auf 821.376. Die Ministerin will etwa den Quereinstieg in den Lehrerberuf erleichtern. Die Anerkennungsstelle für den Quereinstieg und für die im Ausland erworbenen Abschlüsse soll aufgestockt werden.
Schülerrat kritisiert weiterhin Unterrichtsversorgung
Nach Ansicht des Landesschülerrats und des Philologenverbands ist die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen nach wie vor zu gering. „Die Unterrichtsversorgung ist weiterhin schlecht an den niedersächsischen Schulen“, sagte die kommissarische Vorsitzende, Louisa Basner, auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Am Mittwoch will Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres über den Stand der Unterrichtsversorgung informieren.
Es habe keine Veränderung der kritischen Situation an den niedersächsischen Schulen gegeben, resümierte der Landesschülerrat. „Wir fordern die Landesregierung dazu auf, endlich zu handeln und weitere Schritte zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels einzuleiten“, sagte Basner. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer stünden unter Dauerstress.
Basner zufolge kämen zur angespannten Lage krankheitsbedingte Personalausfälle hinzu. Die größten Lücken bei der Unterrichtsversorgung seien in den Grund-, Förder-, Ober-, Real- und Hauptschulen zu beobachten. Je nach Schulform variiere es, in welchen Schulfächern es die meisten Probleme gebe.
Auch der Philologenverband Niedersachsen kritisierte den Stand der Unterrichtsversorgung. Das Kultusministerium habe sich im letzten Jahr zu wenig bemüht, gegen den Lehrkräftemangel vorzugehen, sagte der Vorsitzende des Verbands, Christoph Rabbow. Das Werben um Quereinsteiger sowie das Zurückholen von Lehrern aus dem Ruhestand sei nicht zielführend gewesen, um den Mangel zu decken. Der Philologenverband Niedersachsen ist eine Berufsvertretung der Gymnasiallehrer und Studienreferendare und hat mehr als 8000 Mitglieder.
Gewerkschaft: Lehrermangel bleibt erhalten
Der Verband niedersächsischer Lehrkräfte sagte, die Lage bleibe sehr ernst an den Schulen. Man sei noch immer weit von einer ordentlichen Unterrichtsversorgung entfernt.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagte, der Lehrkräftemangel werde auch in den kommenden Jahren erhalten bleiben. „In den Schulen wird unter Volllast gearbeitet. Es ist wichtig, wenn auch die Politik ihren Teil hier schnell leisten würde, um die Bedingungen tragbar zu gestalten“, sagte GEW-Landesvorsitzende Stefan Störmer.
CDU-Bildungspolitiker Christian Fühner forderte unter anderem, dass die Anstrengungen verstärkt werden müssten, um mehr Lehrer in Teilzeit zu motivieren, ihre Stunden zu erhöhen. Zudem müssten der Quereinstieg, die Akquise von Pensionären sowie die Anerkennungsverfahren aus dem Ausland und anderen Bundesländern angegangen werden, sagte der Oppositionspolitiker. Er warf der Ministerin vor, in ihrer bisherigen Amtszeit keine neuen Akzente gesetzt zu haben, um die Unterrichtsversorgung an den Schulen zu verbessern.
AfD-Politiker Harm Rykena sagte: „Wenn nicht deutlich mehr Lehramtsanwärter aus den Hochschulen kommen, wird sich der Lehrermangel auf Dauer kein Stück bessern.“