Warum der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde eine Waffe haben will
Marcel Litfin, Bürgermeister der Gemeinde Harsum, hatte beim Landkreis Hildesheim einen Waffenschein beantragt, weil er sich in seinem Amt durch Anfeindungen und tätliche Angriffe bedroht fühlte. Der Landkreis lehnte den Antrag ab, weil der Mann weder sachkundig noch eine besonders bedrohte Person sei. Foto: Stratenschultepicture alliance/dpa
Marcel Litfin fühlt sich bedroht. „Es ist ein Albtraum“, sagt er: Warum der Bürgermeister der gemütlichen Ortschaft Harsum mit 12.000 Einwohnern südlich von Hannover im Landkreis Hildesheim eine Waffe will.
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Von Lars Laue
Der Kindergarten heißt Pusteblume, das Café Engelke wirbt mit „Qualität aus der Region“ und im Salon Gisela lassen Damen und Herren sich ihre Haare schön machen. Das ist Harsum. Knapp 12.000 Menschen leben in Harsum, etwa 5.000 davon in der Kernortschaft. Hier steht auch das weiße Rathaus, erbaut 1803 im Fachwerk-Stil und heute Amtssitz von Marcel Litfin. Der 36-Jährige ist Harsumer durch und durch. Hier hat er seine Kindheit und Jugend verbracht und ist seit 2016 Bürgermeister. Stolz verweist der parteilose Rathauschef auf seine Wiederwahl im Jahr 2021 mit mehr als 87 Prozent.
Bereits seit 2003 ist Litfin bei „seiner“ Gemeinde beschäftigt. Hat es nach seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten bis zum Bürgermeister gebracht. „Das war immer mein Traumjob“, sagt der groß gewachsene und sportlich aussehende Harsumer, der mit seiner Frau und seinen eineinhalb und dreieinhalbjährigen Töchtern sowie dem Familienhund unweit des Rathauses wohnt.
Litfin will seine Familie schützen
„Mittlerweile ist es ein Albtraum“, sagt Litfin heute. Er will einen Waffenschein haben, um sich und seine Familie schützen zu können. Der für einen Bürgermeister ungewöhnliche Wunsch nach einer Waffe liegt an Drohungen wie diesen: „Das war’s. Litfin stirbt. Meine Mutter zu beerdigen ohne das ich dabei war. Tod. Freitag 9.00 stirbt er.“ So steht es handschriftlich auf einem Briefumschlag. Und wie zur Bestätigung, dass der Verfasser es ernst meint, liegt in dem Umschlag der Personalausweis des Drohenden - im Original.
Was war geschehen? Im Oktober 2021 hatte die Gemeinde die Mutter tot in ihrem Haus aufgefunden und den Sohn, der damals in einer Notunterkunft für Männer in Hildesheim lebte, kontaktiert. „Aber es gab von ihm keine Rückmeldung“, erinnert sich Bürgermeister Litfin. Schließlich gab es für die Frau ein Sozialbegräbnis und der Sohn (51), der mittlerweile in das Haus seiner verstorbenen Mutter eingezogen ist, macht dem Bürgermeister das Leben seither zur Hölle.
Seine Wut gipfelte im Mai 2022 in der beschriebenen Morddrohung, die die Polizei durchaus ernst nahm und das Rathaus am genannten Freitag unter Schutz stellte. Zudem fuhr sie zu einer „Gefährderansprache“ zum Absender. „Der Mann lag damals besoffen im Bett“, sagt Litfin im Gespräch mit unserer Redaktion.
Verwaltungsgericht lehnt Antrag auf Waffenschein ab
Der Wille des Bürgermeisters, eine Waffe tragen zu dürfen - das Verwaltungsgericht Hannover hat die Ablehnung des Waffenschein-Antrages durch den Landkreis Hildesheim in einem Urteil bestätigt - macht mittlerweile bundesweit Schlagzeilen. Fernsehteams fahren nach Harsum, auch der „Spiegel“ war schon da und zitiert einen Berater des Bürgermeisters: „Harsum ist ein Zombie-Dorf, wenn abends die Glocken schlagen, kommen sie raus.“ Sie? Mehrere „Zombies“? Ja, der gekränkte Sohn ist nicht der einzige „Aggressor“, wie Bürgermeister Litfin, diejenigen nennt, die ihn bedrohen.
Zwei sind laut Litfin nach wie vor aktiv, einer sitzt derzeit im Gefängnis, weil er den katholischen Gemeindepfarrer angegriffen und niedergeschlagen hat. Im Haus des rechtsextremen Reichsbürgers fand die Polizei neben einer Einhand-Wurfaxt auch eine Streitaxt, eine Pistole und einen Angriffsspeer. „Der kommt im Juni wieder raus und hat dann 18 Monate abgesessen“, weiß der Bürgermeister - und fürchtet sich.
Nicht ohne Grund: Er habe von dem 46-Jährigen über einen sozialen Messenger eine Drohung samt Totenkopf-Abbildung erhalten „und im April 2020 hatte er seinen Kampfhund auf mich gehetzt“.
20 Drohbriefe pro Nacht erhalten
Der Dritte im Bunde ist unmittelbarer Rathaus-Nachbar und wurde im August vergangenen Jahres festgenommen, weil er verdächtigt wurde, zwei Gullydeckel auf die Autobahn 7 bei Harsum geworfen zu haben. Ein Autofahrer wurde damals schwer verletzt, seine Frau auf dem Beifahrersitz zog sich lebensgefährliche Verletzungen zu. Nach knapp sechs Wochen Untersuchungshaft kam der Mann frei. Die Ermittlungen dauern an. Im Januar erhob die Staatsanwaltschaft Hildesheim Anklage.
„Von dem bekomme ich tägliche Briefe“, sagt Litfin und zeigt auf drei prall gefüllte Aktenordner. Der Rekord liegt bei 20 Briefen in einer Nacht.“ Beispiele für die Inhalte: „Bei nächster Gelegenheit schlage ich Dir die Zähne aus. Ich beobachte Dich genau.“ „Er schreibt mir sogar, wie ich am Vortag gekleidet war, und am 3. Juni vorigen Jahres hat er mir im Rathausgarten am Zaun gedroht: Ich hole jetzt den Vorschlaghammer und schlage Dir den Schädel ein.“
Litfin zieht aus einer Mappe ein neuropsychiatrisches Gutachten, das dem 50-Jährigen eine „schwere paranoide Schizophrenie“ attestiert. „Es ist grauenvoll“, sagt der Rathauschef. Hat er schonmal an Rücktritt gedacht? „Das war zu Hause natürlich schon Thema“, gibt Marcel Litfin zu, will aber nicht aufgeben - zumindest noch nicht.