Amoktäter in Hamburg tötet sieben Menschen – 135 Schüsse abgefeuert

Am 9. März hatte der Amottäter sieben Menschen und sich selbst erschossen. Foto: Christian Charisius/dpa
Hamburg steht unter Schock. Acht Menschen sterben, darunter ein ungeborenes Kind. Der mutmaßliche Amokschütze war ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas. Ein Schreiben wirft einen schlimmen Verdacht auf: Hätte die Tat verhindert werden können?
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Bei den Schüssen in einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg hat es acht Tote und acht Verletzte gegeben. Das teilte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) am Freitag in Hamburg auf einer Pressekonferenz mit. Zu den Toten zählt die Polizei auch den Täter sowie ein ungeborenes Kind.
Während einer Veranstaltung im Gebäude der Gemeinde waren am Donnerstagabend die Schüsse gefallen. Grote bezeichnete diese als Amoktat: „Eine Amoktat dieser Dimension - das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt.“
Todesopfer bei Zeugen Jehovas vier Männer, zwei Frauen und ein Fötus
Bei den Todesopfern handelt es sich um vier Männer, zwei Frauen und einen weiblichen Fötus im Alter von 28 Wochen. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuzweit, am Freitag. „Alle Todesopfer sind deutscher Staatsangehörigkeit und starben jeweils durch Schusseinwirkung.“
Darüber hinaus seien sechs Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 23 und 46 Jahren verletzt worden, mindestens vier von ihnen lebensbedrohlich, „teils mit multiplen Schusswunden“, sagte Radszuzweit. Sechs der Verletzten seien deutsche Staatsangehörige, je eine Frau ist ugandischer beziehungsweise ukrainischer Staatsangehörigkeit, teilte Radszuzweit mit.
„Die Opfer sind nicht mit dem Täter verwandt“, sagte Radszuweit.

Ermittler der Spurensicherung arbeiten in einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg. Foto: Jonas Walzberg/dpa
Zeugen-Jehovas-Sprecher: Amoklauf begann nach Gottesdienst
Der Amoklauf begann nach Angaben eines Sprechers der Glaubensgemeinschaft nach dem regulären Gottesdienst. Dieser habe um 19 Uhr angefangen und sei digital übertragen worden. 36 Menschen seien vor Ort gewesen, weitere 25 hätten sich digital zugeschaltet, sagte Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland, am Freitag. Um 20.45 Uhr sei die Veranstaltung beendet worden, vermutlich auch der Live-Stream. „Man befand sich in den Gesprächen nach dem Gottesdienst.“
Dann habe der Anschlag begonnen. Eine Besucherin sei bereits auf dem Nachhauseweg gewesen, als der Täter nach Angaben der Polizei zehn Schüsse auf ihr Auto auf dem Parkplatz am Gebäude abgab. Die Frau habe mit dem Wagen leicht verletzt flüchten und sich bei der Polizei melden können, sagte der Leiter der Schutzpolizei, Matthias Tresp. Nach seinen Angaben befanden sich zum Zeitpunkt des Amoklaufs 50 Gäste in dem Versammlungsgebäude im Stadtteil Alsterdorf.
Polizei war binnen Minuten am Tatort
Die Hamburger Polizei war binnen weniger Minuten am Tatort. Die Tat habe sich am Donnerstag gegen 21 Uhr ereignet, sagte Grote. Um 21.04 seien die ersten Notrufe eingegangen. „Um 21.08 Uhr waren erste Kräfte vor Ort.” Nur eine Minute später, um 21.09 Uhr, sei die Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Tatort gewesen.
Diese Einheit für Einsatzlagen, die eine erhöhte Gefährdung für die eingesetzten Beamtinnen und Beamten erwarten lassen, habe sich um 21.11 Uhr Zutritt zum Gebäude verschafft und das Tatgeschehen unterbrochen. „Wir können davon ausgehen, dass sie damit vielen Menschen das Leben gerettet haben”, sagte Grote.
„Wir haben insgesamt in diesem Einsatz 953 Polizeibeamte eingesetzt“, sagte der Leiter der Schutzpolizei, Matthias Tresp.

Ein Polizist steht mit einer Waffe in einem Gebäude.
Amokschütze war ehemaliges Mitglied der Gemeinde
Der mutmaßliche Todesschütze von Hamburg ist ein 35 Jahre alter Deutscher. Philipp F. sei ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas gewesen und habe diese vor eineinhalb Jahren verlassen, offensichtlich nicht im Guten. Zu den Hintergründen gebe es verschiedene Aussagen, sagten die Behördensprecher. Ob der 35-Jährige ausgeschlossen wurde oder freiwillig gegangen sei, müsse nun geprüft werden. Die Ermittler schließen mögliche Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft nicht aus.
Der mutmaßliche Todesschütze stammt aus Bayern. Der Mann wuchs demnach im Regierungsbezirk Schwaben auf und ist seit dem Jahr 2015 in Hamburg gemeldet. Den Informationen zufolge beantragte er als Sportschütze im vergangenen Jahr eine Waffenbesitzkarte. „Seit dem 12. Dezember befand er sich somit im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole“, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer.

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (Mitte) berichtete von einem anonymen Hinweis. Foto: dpa
Anonymer Hinweis auf psychische Erkrankung
Die Waffenbehörde hat nach Angaben Meyers im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F. erhalten. Laut des unbekannten Schreibers sei das Ziel gewesen, das Verhalten und die waffenrechtlichen Vorschriften in Bezug auf Philipp F. überprüfen zu lassen, sagte Meyer.
Die unbekannte Person habe ferner geschrieben, dass die psychische Erkrankung von F. möglicherweise ärztlich nicht diagnostiziert sei, da sich F. nicht in ärztliche Behandlung begebe. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger, besonders gegen die Zeugen Jehovas und auf seinen ehemaligen Arbeitgeber gehegt, sagte Meyer.
Die Beamten der Waffenbehörde hätten nach dem Hinweis weiter recherchiert. Anfang Februar wurde F. von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht. Dies sei eine Standardkontrolle gewesen, die nach einem anonymen Hinweis erfolgt. Der 35-Jährige habe sich kooperativ gezeigt, sagte Meyer. Es habe keine relevanten Beanstandungen gegeben. Die rechtlichen Möglichkeiten seien damit ausgeschöpft gewesen.
Weitere Munition in Wohnung gehortet
Als Extremist war der mutmaßliche Schütze demnach nicht bekannt. Dass sein Name dennoch in den Datenbanken der Sicherheitsbehörden auftauchte, hat dem Vernehmen nach auch keinen kriminellen Hintergrund, sondern damit zu tun, dass er eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragt haben soll. Dafür ist immer auch eine Abfrage der Zuverlässigkeit nötig, bei der Bezüge zu Straftaten und Extremismus geprüft werden.
Die Polizei fand laut Staatsanwaltschaft in der Wohnung des mutmaßlichen Täters auch eine größere Menge Munition. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Ralf Peter Anders, sprach von 15 geladenen Magazinen mit jeweils 15 Patronen und vier Schachteln Munition mit weiteren 200 Patronen. Außerdem wurden Laptops und Smartphones sichergestellt, die noch ausgewertet werden. Die Wohnung wurde am Freitagmorgen um 0.30 Uhr durchsucht, wenige Stunden nach der Tat.

Polizisten und Helfer am Tatort in Hamburg.
Anwohnerin: „Es waren ungefähr vier Schussperioden”
Eine Nachbarin berichtete von mehreren Schüssen bei der Veranstaltung. „Es waren ungefähr vier Schussperioden. In diesen Perioden fielen immer mehrere Schüsse, etwa im Abstand von 20 Sekunden bis einer Minute”, berichtete Studentin Lara Bauch. Später seien Menschen von Polizisten an Händen und Füßen auf die Straße getragen worden.
Von ihrem Fenster konnte sie eine Person sehen, die ganz hektisch vom Erdgeschoss ins erste Obergeschoss gelaufen sei. „Der Mann war dunkel gekleidet und schnell unterwegs”, sagt Bauch. Ob er maskiert war, konnte sie nicht sehen.
Ihr Freund hat das Geschehen mit dem Handy gefilmt. Es ist zu sehen, wie ein Polizeitransporter mit Blaulicht vor dem Gebäude steht, während auf der Straße noch Autos vorbeifahren. Schwer bewaffnete Beamte gehen zügig zum Eingang, öffnen die Tür. Sie stürmen die Treppe hoch ins Obergeschoss. Im mittleren Raum liegt wohl der mutmaßliche Schütze, wie Polizeisprecher Holger Vehren sagt. Die Polizei geht davon aus, dass er sich selbst getötet hat. Die Beamten hätten keinen Schuss abgegeben.

Polizisten in Spezialausrüstung stehen neben einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg.
Ein erster Leichenwagen war gegen 8 Uhr am Tatort vorgefahren. Gegen 6 Uhr wurde der Verkehr auf der viel befahrenen Straße Deelböge wieder freigegeben.
Reaktionen zum mutmaßlichen Amoklauf in Hamburg
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die tödlichen Schüsse als brutale Gewalttat. „Schlimme Nachrichten aus #Hamburg. Mehrere Mitglieder einer Jehova-Gemeinde sind gestern Abend einer brutalen Gewalttat zum Opfer gefallen”, postete er am Morgen über den Regierungsaccount auf Twitter. „Meine Gedanken sind bei ihnen und ihren Angehörigen. Und bei den Sicherheitskräften, die einen schweren Einsatz hinter sich haben.”
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Die Zeugen Jehovas zeigten sich „tief betroffen”. „Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen. Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten”, hieß es in einem Statement auf der Website der Gemeinschaft.
Rund um den Tatort wurden erste Blumen und Kerzen abgelegt. Beobachtungen eines dpa-Reporters zufolge hat die Polizei am Freitagmittag das Gebäude nach der am Vorabend laufenden Spurensicherung verlassen und die Tür des Gebäudes im Stadtteil Groß Borstel versiegelt.
Am Nachmittag sprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Angehörigen und Freunden der Opfer bei einem Besuch am Tatort das tief empfundene Mitgefühl der Bundesregierung aus. „Es ist kaum in Worte zu fassen, was hier Furchtbares passiert ist. Was ein Täter mit dieser Amoktat anrichten konnte, ist wirklich grauenvoll.“ Sie sei tief bewegt, sagte die Ministerin.
Faeser äußerte sich beeindruckt, wie großartig der Einsatz funktioniert habe. Es sei eine großartige Leistung der Hamburger Polizei. Das gelte für alle Rettungskräfte. „Wie schnell und umsichtig hier gehandelt wurde, das ist mehr als vorbildlich.“
Zeugen Jehovas - Hintergrund
Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung. Die Anhänger glauben an Jehova als „allmächtigen Gott und Schöpfer” und sollen sich strengen Vorschriften unterwerfen. Sie sind davon überzeugt, dass eine neue Welt bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde gerettet werden. Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die „Weltzentrale” ist in New York. Die deutsche Gemeinschaft mit weniger als 200.000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa.
Versammlungsräume der Zeugen Jehovas sind auch in der Vergangenheit schon Ziel von Angriffen geworden – auch aus den eigenen Reihen oder durch ihnen verbundene Personen.
Spektakulär war der Fall eines Rentners aus Halle/Westfalen, der nach Feststellung eines Bielefelder Gerichts über Jahrzehnte einen Rachefeldzug gegen die Zeugen Jehovas geplant hatte, denen sich seine Tochter im Jugendalter zugewandt hatte. Im Juli 2009 überfiel der damals 81-Jährige mit einer illegal beschafften Waffe das Gemeindehaus der Zeugen Jehovas in Bielefeld und bedrohte die dort versammelten 81 Gläubigen. Es löste sich aber kein Schuss aus der Maschinenpistole; der Grund blieb auch im Gerichtsverfahren unklar. Das Gericht sprach den Rentner am Ende des 39-fachen Mordversuchs schuldig – genau 39 Patronen waren in seinen Magazinen.
Auf das Versammlungshaus der Zeugen Jehovas im nordrhein-westfälischen Menden wurde 2017 ein Brandanschlag verübt. Als mutmaßliche Täterin wurde ein Mitglied der Gemeinde festgenommen. Die 34-Jährige soll nach Überzeugung der Ermittler Grillanzünder an den Wänden des Hauses verteilt und kleine Brände gelegt haben. Es entstand lediglich geringer Schaden. Auslöser sei wohl ein Streit innerhalb der Gemeinde gewesen, hieß es bei der Staatsanwaltschaft.
Hintergrund zum Tatort
Bei dem Tatort handelt es sich um ein dreistöckiges Gewerbegebäude, das an einer breiten Straße und neben einem Malerbetrieb sowie einer Baustelle mit drei großen Kränen liegt. In Hamburg-Alsterdorf leben rund 15.000 Menschen, der Stadtteil im Bezirk Hamburg-Nord ist etwa drei Quadratkilometer groß. Neben Alsterdorf gibt es zwölf weitere Stadtteile in dem Bezirk. In Hamburg-Alsterdorf sind zahlreiche Unternehmen angesiedelt. Durch den Stadtteil verläuft der Fluss Alster.
Hinweisportal
Die Polizei hat ein Hinweisportal eingerichtet. Auf der Webseite https://hh.hinweisportal.de/ können „Fotos und Videos zur Tat oder relevanten Ereignissen in diesem Zusammenhang hochgeladen werden”, teilte die Polizei Hamburg auf Twitter mit.
Eine telefonische Anlaufstelle für Angehörige und Betroffene ist unter den Nummern 040/4286-24393, -24386 und -24323 erreichbar. (dpa)

Bei Schüssen in einer Hamburger Kirche starben mehrere Menschen. Foto: dpa

Bestatter bringen eine abgedeckte Bahre zu ihrem Fahrzeug am Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg. Foto: Steven Hutchings/Tnn/dpa

Ermittler stehen am Morgen vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg, in dem mehrere Menschen getötet wurden.
