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Interview

Ehemaliger Umweltsenator: „Um Blackouts zu verhindern, muss man innerhalb von Minuten handeln“

Fritz Vahrenholt auf der Terrasse seines Hauses in den Elbvororten. Foto: Markus Lorenz

Fritz Vahrenholt auf der Terrasse seines Hauses in den Elbvororten. Foto: Markus Lorenz

Fritz Vahrenholt (73) ist ein Wegbereiter der Energiewende und doch heute einer ihrer schärfsten Kritiker. Selbst wenn es noch wärmer werden sollte auf der Erde, eine Katastrophe kann der promovierte Chemiker darin nicht erkennen. Die deutsche Politik hält er für angstgetrieben.

Von Markus Lorenz Samstag, 10.09.2022, 12:30 Uhr

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Herr Vahrenholt, Sie wurden 1991 Hamburger Umweltsenator. Hätten Sie damals gedacht, dass Umwelt, Klima und Energie 30 Jahre später die Agenda beherrschen?

Nein. Als ich 1984 als Staatsrat nach Hamburg kam, war Hamburg zwar in einem schlimmen Zustand: Fischsterben in der Elbe, jeden Winter Smog-Alarm, Müllskandale und die Norddeutsche Affinerie, die tonnenweise Arsen ausstieß – mitten in der Stadt. Aber nach vier Legislaturperioden, zwei davon als Senator, hatten wir diese großen Umweltprobleme alle im Griff. Ich habe die Flächen der Naturschutzgebiete verzehnfacht, das Wasser von Elbe und Alster war wieder sauber, dass man darin baden konnte und die Affinerie eine der saubersten Kupferhütten der Welt.

Mission erfüllt, also?

Ja. Bei meinem Abschied 1997 habe ich tatsächlich gesagt: Die Dinge sind so weit in Ordnung, dass wir die Umweltbehörde auflösen und der Wirtschaftsbehörde angliedern können.

Den Klimawandel hatten Sie nicht auf dem Schirm?

Ich habe damals zwar mit der Förderung erneuerbarer Energien begonnen und das erste 1000-Dächer-Programm für Fotovoltaik in Hamburg gemacht. Aber niemand, auch ich nicht, hat gesehen, dass das Klimathema eine solche Bedeutung bekommen wird.

Umweltbewegte gingen in den 1980ern und 90ern zu den Grünen oder zu Greenpeace. Sie zur SPD. Warum?

Meine Sozialisation begann 1969 mit dem Eintritt in die SPD und dem Wahlkampf für Willy Brandt. Da gab’s keine Grünen. Und als Kind des Ruhrpotts lag die SPD einfach nahe.

Sie wollten 1997 als Nachfolger von Henning Voscherau Hamburger Bürgermeister werden. Die SPD hat Ortwin Runde nominiert. Hat das wehgetan?

Ja. Ich bin ein rechter Sozialdemokrat und war wütend, weil der rechte Flügel der Partei einen Deal mit Ortwin Runde gemacht hat. Ich steuerte auf eine große Koalition mit der CDU zu, die entscheidenden Kräfte in der Hamburger SPD wollten ein Bündnis mit den Grünen. Nach vier Jahren Rot-Grün war die CDU für lange Zeit an der Regierung.

Wie war dieser abrupte Abschied aus der Politik für Sie?

Damals war ich ziemlich am Boden. Im Nachhinein sage ich aber: Was für ein Glück. Ich habe kurz darauf als Vorstand den Zweig für erneuerbare Energien für Shell aufgebaut. Deren Image war nach dem Debakel um die Ölplattform „Brent Spar“ ruiniert. Ich habe ein Solarprogramm aufgelegt, einschließlich des Baus einer Großproduktion von Solarzellen in Gelsenkirchen, meiner Geburtsstadt. Als ich ging, war Shell in den Umfragen wieder das beliebteste Mineralölunternehmen.

Sie bauten anschließend den Windradhersteller Repower auf, wurden später Vorstandschef der RWE-Umwelttochter Innogy. Sind Sie ein Pionier erneuerbarer Energien?

Das kann ich für mich in Anspruch nehmen. Ich wusste schon damals, dass erneuerbare Energien eine große Zukunft haben, und sagte mir: Da musst Du dabei sein. Und wenn, dann auch professionell.

Inzwischen sind Sie scharfer Kritiker der deutschen Energiewende. Woher der Sinneswandel?

Ich finde nach wie vor Windenergie eine intelligente Lösung, habe nichts gegen Solarenergie und bin für den Ausbau der Erneuerbaren. Aber bitte nicht auf 100 Prozent, das ist völliger Blödsinn.

Warum?

Wegen der Volatilität, der Schwankungen im Angebot. 120 Tage im Jahr steht ein Windrad still, und nachts scheint keine Sonne. Das heißt, wir müssen immer einen Backup haben, der einspringt, wenn Wind und Sonne nicht liefern.

Welchen Anteil können die Erneuerbaren decken?

Vernünftigerweise zwischen 30 und 50 Prozent, mehr nicht. Den Rest müssen wir aus anderen Quellen beziehen.

Zum Beispiel aus der Atomkraft?

Meine Vision war es, die 17 Kernkraftwerke zu behalten, dann wäre immer genug Strom zum Ausgleichen vorhanden. Anders als immer wieder verbreitet wird, können Kernkraftwerke schneller hoch- und runtergefahren werden als Gaskraftwerke. Nun sind die leider weg. Wir haben die Kernenergie in Wahrheit ja nicht durch Erneuerbare ersetzt, sondern durch russisches Erdgas. Das sollte die Lösung der Energiekrise sein. Dieser Plan ist geplatzt. Jetzt haben wir ein Problem.

Sie halten die deutschen Kernkraftwerke für sicher?

Ich halte die Risiken der Kernkraftnutzung bei uns für beherrschbar. Die deutschen Anlagen waren die besten der Welt, viel sicherer als die französischen, zum Beispiel. Aber nach Fukushima sind wir Deutschen überhastet aus der Atomkraft ausgestiegen, als Einzige übrigens. Unsere German Angst hat uns zu einem großen Fehler geführt.

Und nun? Wo soll unsere Energie herkommen?

Es ist richtig, jetzt Kohlekraftwerke zu reaktivieren. Das sollten wir aber mit CO2-Abscheidung tun, damit das Kohlendioxid nicht in die Atmosphäre gelangt. Die Technologie ist vorhanden.

In Deutschland ist die Lagerung von CO2 nicht erlaubt …?

Norwegen hat Deutschland Lagerstätten in der Nordsee angeboten. Das wäre sogar billiger, als für CO2-Zertifikate zu zahlen. Wir brauchen obendrein Fracking in Deutschland, um einheimisches Erdgas zu nutzen. Dank neuer Technologien braucht es dazu keinen Chemiecocktail mehr, die Entwicklung geht in Richtung von Wasser und Sand. Das muss jetzt schnell gemacht werden. Wir haben schon sechs Monate verpennt.

Und die Kernkraft …?

Herr Habeck hat nun entschieden, dass zwei Kernkraftwerke in Reserve bleiben sollen und Lingen endgültig abgestellt werden soll. Das ist ein schwerer Fehler, der uns noch teuer zu stehen kommt. Erstens braucht man Tage, um ein Kernkraftwerk aus der Reserve – anders als im Dauerbetrieb – hochzufahren. Um Blackouts zu verhindern, muss man innerhalb von Minuten handeln. Und zweitens: Wenn die drei Kernkraftwerke ab 31. Dezember 2022 keinen Strom liefern, steigen die Preise noch einmal, weil deutlich teurere Gaskraftwerke ihre Funktion übernehmen müssen. Die Kohlekraftwerke reichen dafür nicht aus. Übrigens: Lingen wird abgestellt, weil die Grünen in Niedersachsen Wahlkampf machen mit dem Slogan „Bye-bye, AKW“. Für mich gilt immer noch: erst das Land, dann die Partei.

Sind Sie ein Klimaleugner?

Das bin ich nicht. CO2 ist ein Klimagas, das großteils die Erderwärmung zu verantworten hat.

Aber?

Ich sage nur: Es hat in der Vergangenheit auch ohne CO2 Warmphasen gegeben. Im Mittelalter war die Erde in Europa ähnlich warm wie heute, in England wuchs Wein. Und es gab immer auch mal bitterkalte Zeiten. Diese Schwankungen sind historisch belegt. Außerdem leben wir in einer Phase hoher Sonneneinstrahlung. In den letzten 30 Jahren ist die Zahl der Sonnenstunden in Europa um fast eine Stunde pro Tag gestiegen.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Wenn beispielsweise 50 Prozent der Erwärmung auf natürliche Faktoren zurückgeht, dann haben wir doppelt so viel Zeit für die Energiewende. Zumal die Erde dem Menschen bei seinem CO2-Frevel hilft. Einen Großteil des zusätzlichen Kohlendioxids nehmen Pflanzen und Ozeane auf. Bei Pflanzen hat das einen großartigen Vorteil: Die Erde wird grüner, die Früchte werden größer.

Wissen Sie denn, wie groß der Anteil der Menschheit am Klimawandel ist?

Ich weiß es nicht, niemand weiß es genau. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen 50 und 100 Prozent, so wie der Weltklimarat IPCC es meint. Aber selbst wenn nur 20 Prozent natürlichen Ursprungs sind, haben wir 20 Prozent mehr Zeit für die Transformation.

Was ist falsch an der aktuellen Klimapolitik?

Wir müssen raus aus dem CO2, keine Frage. Aber alle Versuche, den Wandel in 20 Jahren hinzubekommen, werden scheitern. Die Energietransformation ist angstgetrieben, wir schießen übers Ziel hinaus: zu viel, zu schnell, auch wenn es Deutschland massiv schadet.

Wie lautet Ihr Konzept?

Wir müssen uns etwas mehr Zeit nehmen und dürfen nur wirtschaftlich sinnvolle Maßnahmen ergreifen. Schauen Sie: Wenn uns Deutschen vor 20 Jahren jemand gesagt hätte, dass wir den Verbrennungsmotor abschaffen und damit unseren wichtigsten volkswirtschaftlichen Zweig zerstören, dann hätten wir doch geantwortet: Ihr tickt nicht richtig. Was nützt es der Welt, wenn wir mit unseren zwei Prozent CO2-Anteil wirtschaftlich abstürzen? Uns folgt dann niemand, und die Arbeitsplätze, die hier wegfallen, entstehen woanders zu viel schlechteren Umwelt- und Klimabedingungen.

Wie viel Zeit bleibt uns?

Ein bis zwei Generationen. Wir müssen in diesem Jahrhundert die Kurve kriegen.

Die Einschläge kommen näher, siehe dieser Sommer: Dürre in Europa, ausgetrocknete Flüsse, Waldbrände allerorten, Rekordfluten in Pakistan, Gletscher brechen weg. Lässt Sie das kalt?

Klima ist nicht Wetter. Während wir hier einen heißen Sommer hatten, gab es in Australien bittere Kälte. Der Dürreindex auf der Erde ist seit 100 Jahren praktisch unverändert. Und seit 1900 sind Waldbrände sogar deutlich zurückgegangen. Die Todesfälle aufgrund von Wetterextremen sind von 500.000 in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts auf 18.000 in 2010, 14.000 in 2020 und 7000 in 2021 zurückgegangen, weil wir uns besser auf Extremereignisse vorbereitet haben.

Was, wenn Sie sich irren und wir keine zwei Generationen mehr Zeit haben? Dann kann’s vorbei sein, oder?

Das ist auch so ein Irrtum. Der Weltklimarat sagt im wahrscheinlichsten Szenario bis 2060 eine Erwärmung von 0,6 Grad voraus. Das ist doch keine Katastrophe.

Mancher sieht Sie mit solchen Ansichten in AfD-Nähe. Stört Sie das?

Ich kann mich nicht daran orientieren, was andere daraus machen, und kann nichts dafür, dass die AfD auch für die Verlängerung von Kernkraftwerken ist. Ich würde mich freuen, wenn in der SPD viel mehr von meinem Gedankengut umgesetzt würde.

Fühlen sich in der SPD noch zu Hause?

Tja, es ist schwer. Die SPD von Helmut Schmidt gibt’s jedenfalls nicht mehr. In der Partei sind nur noch wenige, mit denen ich übereinstimme, Klaus von Dohnanyi etwa.

Und Olaf Scholz?

Olaf Scholz ist immerhin ein Pragmatiker, kein Ideologe. Das ist wichtig in schweren Zeiten.

Bitte ergänzen Sie

Ich habe kein E-Auto, weil … das ökologisch und wirtschaftlich unvernünftig ist.

Meinen Enkelkindern wünsche ich vor allem, … dass Deutschland die Kurve kriegt.

An Greta Thunberg schätze ich … nicht viel.

Was ich im Leben gern noch mal machen würde, ist … eine Reise einmal um die Welt.

Der HSV steigt auf, weil … es irgendwann mal sein muss.

Wenn bei mir mal alles schiefgeht, dann … habe ich meine Frau.

Wenn ich in Nordfriesland die vielen Windräder sehe, denke ich … es ist manchmal des Guten zu viel.

Zur Person

Fritz Vahrenholt ist in Gelsenkirchen geboren und promovierter Chemiker. Mit „Seveso ist überall“ schrieb er 1978 eines der wichtigsten Bücher der frühen Umweltbewegung. 1984 kam das SPD-Mitglied als Umweltstaatsrat nach Hamburg, wurde 1991 Umweltsenator und griff 1997 vergebens nach dem Posten des Hamburger Bürgermeisters. Anschließend wechselte er in die Wirtschaft, verantwortete bei Shell, Repower und RWE-Innogy den Aufbau erneuerbarer Energien; das erste RWE-Windrad in der Nordsee trägt den Namen „Fritz“. Mit „Die kalte Sonne: Warum die Klimakatastrophe nicht stattfindet“ wurde er später zu einem der namhaftesten Kritiker aktueller Klimapolitik. Der 73-Jährige ist Honorarprofessor der Uni Hamburg und Aufsichtsratsvorsitzender der Kupferhütte Aurubis. Der Hobby-Kamelienzüchter hat zwei erwachsene Söhne und zwei Enkelkinder. Er lebt mit seiner Ehefrau in Hamburg-Groß Flottbek.

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