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Interview

Ivar Buterfas: „Die AfD wird niemals eine große Position einnehmen“

Ivar Buterfas-Frankenthal auf der terrasse seines Hauses. Fotos: Markus Lorenz

Ivar Buterfas-Frankenthal auf der terrasse seines Hauses. Fotos: Markus Lorenz

Ivar Buterfas-Frankenthal startete als mittelloser Junge, dem die Nazis den Schulbesuch verboten, ins Leben. Mittlerweile blickt der 90-Jährige auf ein bewegtes Leben zurück - und hält immer noch Vorträge über NS-Verbrechen.

Samstag, 29.07.2023, 12:00 Uhr

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Ivar Buterfas-Frankenthal hat in seinem langen Leben viele Prominente getroffen, nicht wenige davon nennt er Freunde. Im Partyraum seines Hauses ist eine große Anzahl Fotografien von persönlichen Begegnungen zu bestaunen: mit Papst Johannes Paul II, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, Richard von Weizsäcker, Muhammad Ali, Max Schmeling und, und, und. Wie schaffte es der mittellose Junge aus Hamburg-Horn – dem die Nazis den Schulbesuch verboten – in solche Kreise? Leidenschaftlich und hellwach berichtet der 90-Jährige im Gespräch mit TAGEBLATT-Mitarbeiter Markus Lorenz von seinem Lebensweg – und beginnt mit den finstersten Tagen der Hamburger Geschichte.

TAGEBLATT: Herr Buterfas-Frankenthal, wie haben Sie den Feuersturm in Hamburg vor genau 80 Jahren erlebt?

Ivar Buterfas: Ich kann mich an jede einzelne Bombennacht erinnern und habe bis heute Albträume. Ich saß mit meinem älteren Bruder Rolf im Kellerloch eines ausgebombten Hauses in Horn. Wir haben gebetet, dass wir überleben. In die Bunker hat man uns nicht reingelassen, weil wir aus einer jüdischen Familie stammen. Nachts sind wir auf Tour gegangen, um etwas zu essen und Kleidung zu finden.

Wie ist es Ihrer Familie unter den Nazis ergangen?

Meine Mutter war christlich, mein Vater jüdisch. Er kam 1933, kurz nach meiner Geburt, als jüdischer Kommunist ins KZ Esterwegen, später ins Hauptlager Sachsenhausen. Weil sich meine Mutter weigerte, sich von ihm scheiden zu lassen, gerieten sie und wir acht Kinder auf die Todesliste der Nazis.

Was ist Ihre früheste Erinnerung an Verfolgung?

Ich bin im Herbst 1938 in Hamburg eingeschult worden. Nur ein paar Wochen später ließ der Schulleiter alle Schüler auf dem Hof antreten. Die Fahne wurde hochgezogen, das Horst-Wessel-Lied gesungen. Der Schulleiter stand in seiner Goldfasanuniform auf der Freitreppe und sagte: „Buterfas, hör‘ mal zu, du kleine Judensau. Du verlässt sofort die Schule und lässt dich hier nie mehr sehen. Du hast den letzten Tag die Luft mit deinem jüdischen Drecksatem verpestet.“

Was haben Sie gefühlt?

Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Mit dem Ausdruck Jude konnte ich nichts anfangen. Meine Mutter hatte mit uns nie über das Thema gesprochen, um uns nicht in Gefahr zu bringen. Ein paar Hitler-Jungs sind hinter mir hergelaufen, haben mir die Hose runtergezogen und mit einer Zigarette ein Loch in den Oberschenkel gebrannt. Andere haben eine Kasematte mit Papier gefüllt und angezündet. Ich musste mich auf das Rost stellen, damit ich brenne. Ich habe geschrien wie am Spieß, Passanten haben mich befreit. Von da an bin ich nicht mehr zur Schule gegangen. Mein ältester Bruder hat mich zu Hause unterrichtet.

Haben Sie verstanden, was da passiert?

Ich habe nur verstanden, dass ich nie mehr mit anderen Kindern spielen konnte. Das war ganz, ganz schrecklich.

Wie ging’s nach Kriegsende weiter?

Mein Vater kam 1945 zurück aus dem KZ, aber er hat uns nach acht Wochen verlassen. Jetzt waren wir wieder allein, ohne soziale Unterstützung. Die Nazis hatten uns die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, ich blieb bis 1964 staatenlos. Derselbe Beamte, der uns die Staatsbürgerschaft abgenommen hatte – der Verbrecher – saß ab 1946 im Ausländeramt wieder auf demselben Schemel. Ich war stigmatisiert, hatte keine Rechte.

Was haben Sie getan?

Als junger Bengel habe ich im Hafen Schiffe gereinigt, dann bin ich weg aus Hamburg, die Erinnerungen waren zu schlecht. Ich hab‘ mich im Ruhrpott durchgeschlagen, erst unter Tage, später als sogenannter Neuheitenverkäufer auf Wochenmärkten. Nach der Hochzeit haben ich und meine Frau Dagmar dann gemeinsam unser Schicksal in die Hand genommen. Als Quereinsteiger gründete ich in Hamburg eine Firma zur Fassadensanierung und Bauwerkserhaltung.

Haben Sie je Hass auf die Deutschen verspürt?

Nein, Hass konnte ich schon damals nicht entwickeln. Wir haben nach dem Krieg ohnehin von einem Tag auf den anderen gelebt und alle Kraft darauf verwendet zu überleben.

Was hat Sie dabei angetrieben?

Ohne meine Frau hätte ich das alles nicht geschafft. Vor allem hat mich Ehrgeiz angetrieben. Und der Wille, Dinge zu tun, die kein anderer gemacht hat. Sehen Sie, ich musste immer mehr machen als andere, um etwas zu erreichen. Die Nazis hatten mir die Kindheit gestohlen, die Schule gestohlen. Mir fehlte das Fundament. Ich hätte sehr gern da gesessen, wo heute die Schüler bei meinen Veranstaltungen sitzen. Hätte mir gewünscht, Abitur zu machen, eine wunderbare Ausbildung zu genießen und zur geistigen Elite in Deutschland zu gehören.

Sie gelten als Retter der Ruine von St. Nikolai an der Willy-Brandt-Straße, heute Hamburgs zentraler Erinnerungsort an die Nazi-Gräuel. Was war Ihre Motivation?

Ich habe mich der Aufklärungsmission gewidmet, weil mich meine Albträume auch Jahrzehnte nach dem Krieg noch fast getötet hätten. 1987 habe ich zu meiner Frau gesagt: „Jetzt geht nichts mehr. Ich muss was anderes machen.“ Also habe ich geholfen, den dritthöchsten Kirchturm der Welt, den von St. Nikolai, zu erhalten.

Wie war die Situation der Kirche?

St. Nikolai war im Krieg weitgehend zerstört, nur den Turm hatten die Alliierten stehenlassen, weil sie ihn als Zielpunkt für ihre Luftangriffe brauchten. Ich habe dem Senat auf die Füße getreten, weil er sich nicht an seine Zusage gehalten hatte, für eine würdige Erinnerungsstätte zu sorgen. Die Ruine war baulich nicht gesichert, es bestand die Gefahr, dass Bauteile herabstürzen und Menschen erschlagen.

Der Erhalt gelang mit privatem Engagement. Wie war das möglich?

St. Nikolai war schon immer eine Bürgerkirche. Mehrfach ist sie in den Jahrhunderten wieder aufgebaut worden, weil Hamburger Bürger dafür Geld gesammelt haben. An diese Tradition konnte ich anknüpfen. Für meinen Verein „Rettet St. Nikolai“ habe ich Helmut Schmidt als Schirmherrn angefragt…

…aber?

Helmut Schmidt sagte: „Kommt für mich nicht in Frage. Aber: Nehmen Sie Loki, die hat den ganzen Tag nichts zu tun“ (lacht). So wurde Loki Schirmherrin. Mit dem Ehepaar Schmidt waren wir fortan gut befreundet. Ein großer Gönner für St. Nikolai war auch Max Schmeling, der damals 15.000 Mark spendete. Er wurde mein bester Freund.

In den 1970er und 1980er Jahren haben Sie Boxkämpfe veranstaltet. Was verbindet Sie mit Boxen?

Boxen war meine ganz große Liebe. Ich bin Einer, der so oft am Boden lag, aber bei acht wieder oben war. Boxen ist die edle Kunst der Selbstverteidigung, dieses Duell Mann gegen Mann, jeder im Ring auf sich allein gestellt, das hat mich fasziniert. Eh ich mich versah, hatte ich 14 Profis in meinem Boxstall. Der erfolgreichste war der mehrfache Europameister Lothar Abend aus Kiel.

Sie sind 90 Jahre alt und halten weiterhin Vorträge über die NS-Verbrechen in Schulen quer durch Deutschland. Warum ist Ihnen das wichtig?

Ich bin inzwischen der letzte Holocaust-Überlebende, der das tut. Es ist wichtig, dass die jungen Leute von einem Zeitzeugen hören, was sich in der Vergangenheit abgespielt hat. Sonst können sie diese Demokratie nicht schützen. Ich habe fast 1600 Vorträge gehalten, im September fahre ich wieder los.

In Deutschland leben Antisemitismus und Rechtsextremismus wieder auf. Fühlen Sie sich persönlich unsicher?

(klopft an die Fensterscheibe hinter sich): Hören Sie? Das ist Panzerglas. Ich habe elektrische Jalousien, Kameras, Scheinwerfer. Das Haus gleicht einer Festung.

Warum?

Das geht auf meinen Einsatz für eine Gedenkstätte im ehemaligen KZ-Auffanglager in Sandbostel bei Bremervörde zurück, wo die Nazis 60.000 Menschen ermordet haben. Das Gelände wurde als Gewerbegebiet genutzt, es gab ein Hundeasyl und ein Bordell. Unglaublich. Niemand konnte würdig um seine Angehörigen trauern. Gegen mein Engagement gab es massive Widerstände. Ich wurde von der Politik in Bremervörde zur Persona non grata erklärt, das war übelster Antisemitismus. Ich bekam Morddrohungen, stand unter Polizeischutz. Aber, naja: Am Ende ist es eine wunderbare Gedenkstätte geworden, die 2013 eröffnet wurde. Ich habe mein Ziel erreicht.

Haben Sie Angst vor der Rückkehr einer rechten Diktatur in Deutschland?

Nein. Das Gros der Deutschen hat begriffen, dass sie nie wieder aufs Spiel setzen dürfen, was ihre Urgroßeltern aufs Spiel gesetzt haben. Es gibt jetzt Wohlstand und Demokratie, die meisten Deutschen haben ein gutes Leben. Natürlich muss man aufpassen. Ich denke mit Schrecken an Mölln, Hoyerswerda, Rostock und Solingen, wo die Neonazis schlimme Verbrechen begangen haben. Aber: Ich bin zuversichtlich, denn wir haben die beste Polizei der Welt.

Manche sehen Parallelen zwischen AfD und der frühen NSDAP. Sie auch?

Das halte ich für überzogen. Natürlich müssen wir die AfD ernst nehmen, weil es in ihr rechtes Gedankengut gibt. Es ist ganz schlimm, dass einige AfD-Politiker unsere parlamentarischen Bänke beschmutzen, anders kann ich es nicht nennen. Wenn ich an Herrn Gauland und Herrn Höcke denke. Der eine behauptet, der Nationalsozialismus war ein „Fliegenschiss der Geschichte“, der andere sagt, die Stele in Berlin, die an sechs Millionen ermordeter Juden erinnert, ist ein „Mahnmal der Schande“. Aber: Die AfD wird niemals eine große Position einnehmen. Wir werden nie wieder Verhältnisse haben wie von 1933 bis 1945. Auch wenn der Antisemitismus bleiben wird. Da darf man nicht blauäugig sein.

Wenn Sie auf Ihr Leben blicken: Würden Sie sagen, Sie sind trotz allem ein Optimist?

Natürlich. Wenn ich kein Optimist gewesen wäre, hätte ich kein einziges Stückchen dessen erreicht, was wir erreicht haben. Dafür brauchte ich eine unglaubliche Energie und musste mich jeden Tag neu aufbauen.

Bitte ergänzen Sie...

Mein Lebensmotto lautet… Toleranz, jeden Menschen achten und respektieren.

Die meiste Freude macht mir… meine Frau.

Ivar Buterfas-Frankenthal in drei Worten… Ehrgeiz, Ehrgeiz, Ehrgeiz.

Ich habe Angst vor… (überlegt lange) dazu fällt mir nichts ein.

Der beste Rat meiner Mutter war… immer einen geraden Weg gehen.

Das Leben ist schön, … wenn man einen Menschen an seiner Seite hat, mit dem man alles teilen kann.

Zur Person

Ivar Buterfas-Frankenthal ist im Januar 1933 in Hamburg geboren, als zweitjüngstes von neun Kindern eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter. Die Nazis verfolgten ihn als „Halbjuden“, warfen ihn in der 1. Klasse aus der Schule. Nach dem Krieg gründete Buterfas eine erfolgreiche Firma für Fassadensanierung in seiner Heimatstadt. Bekanntheit erlangte der Unternehmer durch die Rettung der kriegszerstörten Hauptkirche St. Nikolai, inzwischen wichtiges Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer von Nazi-Terror und Krieg.

Seit drei Jahrzehnten berichtet der Holocaust-Überlebende jungen Menschen in Schulen von den Nazi-Gräuel und erhielt etliche Auszeichnungen – darunter zweimal das Bundesverdienstkreuz, den Weltfriedenspreis sowie die Hamburger Medaille für die treue Arbeit im Dienst des Volkes. Der 90-Jährige hat mehrere biografische Bücher veröffentlicht, das jüngste trägt den Titel „Von ganz, ganz unten“. Spät nahm Ivar zusätzlich den Nachnamen seiner Ehefrau Dagmar an, als „geistigen Stolperstein“, um an die Ermordung seines Schwiegervaters im KZ Buchenwald zu erinnern. Das Paar, das 68 Jahre verheiratet ist, hat zwei Kinder, drei Enkel und fünf Urenkel. Sie leben in Bendestorf (Nordniedersachsen).

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