Schülerrat schlägt Alarm: Kinder „extrem gestresst“

Ein Schüler meldet sich, während die Lehrerin an die Tafel schreibt. Foto: Marijan Murat/dpa/Symbolbild
Zu viele Aufgaben und Klausuren, zu wenig Betreuung: Viele Schüler seien mental am Ende, könnten nicht mehr schlafen. Die Kritikpunkte im Detail.
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Hannover. Der niedersächsische Landesschülerrat hat ein extrem hohes Stressniveau der Schülerinnen und Schüler beklagt. Vor allem wegen des stark verkürzten Schuljahres sei die aktuelle Lage „so prekär“, warnte der Landesschülerrat am Freitag. Der Unterrichtsinhalt werde nämlich gleichzeitig nicht gekürzt, außerdem falle zunehmend Unterricht wegen des Lehrkräftemangels aus. „Viele sind extrem gestresst und schlafen aufgrund der vielen Aufgaben wenig“, sagte Louisa Basner, die kommissarische Vorsitzende des Landesschülerrats Niedersachsen. Den Schülerinnen und Schülern gehe es „mental nicht gut“.
Der Landesschülerrat kündigte an, er sehe Handlungsbedarf und forderte bei hohem Unterrichtsausfall eine Konzentration auf das Wesentliche. Darüber hinaus solle die Klausurenphase gestreckt werden, indem nur noch maximal zwei Klausuren in der Woche geschrieben werden dürfen. Notwendig sei zudem ein größeres und präsenteres Angebot von Schulpsychologen, außerdem sollten Hausaufgaben in Ganztagsschulen abgeschafft werden.
Basners Vize, Matteo Feind, betonte, in der Schulpolitik müsse es um die Frage gehen, wie Schülerinnen und Schülern die Unterrichtsinhalte am besten vermittelt werden könnten: „Das jetzige Schulsystem ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen uns endlich darauf einigen, dass die Schule das Ziel hat, Wissen zu vermitteln und nicht sporadisch auswendig Gelerntes abzufragen.“
Lehrkräftemangel: Schulen setzen verstärkt auf Seiteneinsteiger
Schulen in Deutschland setzen angesichts des Lehrkräftemangels immer stärker auf Seiteneinsteiger. Zwei von drei Schulleitungen (66 Prozent) beschäftigen einer Umfrage zufolge an ihren Schulen inzwischen Lehrkräfte, die keine Lehramtsqualifikation erworben haben. Der Anteil ist in den vergangenen fünf Jahren rasant angestiegen, wie aus einer repräsentativen Forsa-Befragung von bundesweit gut 1300 Schulleitungen hervorgeht. 2018 hatten erst 37 Prozent der Schulleitungen angegeben, Seiteneinsteiger einzustellen. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) stellte die Ergebnisse der Umfrage am Freitag beim Schulleitungskongress in Düsseldorf vor.
Der Lehrkräftemangel wird von 62 Prozent der Schulleitungen weiterhin als das größte Problem angesehen. Das waren etwas weniger als im Vorjahr (69 Prozent). Gut ein Drittel nannte Inklusion und Integration als größte Schwierigkeit. Jede vierte Schulleitung beklagte die hohe Arbeitsbelastung und Zeitmangel.
Lehrkräfte-Lücken an allen Schulformen
Die Hälfte der Schulleiter und -leiterinnen gab an, dass mindestens eine Lehrerstelle zum Beginn des laufenden Schuljahres nicht besetzt gewesen sei. Bei 17 Prozent von ihnen waren sogar drei oder mehr Stellen vakant. Seiteneinsteiger werden der Umfrage zufolge über alle Schulformen hinweg als Lehrkräfte eingestellt.
An den Schulen, bei denen bereits Lehrkräfte fehlten, verschlimmere sich die Situation sogar noch, hieß es in einem schriftlichen Statement des stellvertretenden VBE-Bundesvorsitzendem, Tomi Neckov. Etwa jede fünfte Schulleitung (22 Prozent) sagte demnach, dass an ihrer Schule inzwischen mehr als 15 Prozent der Lehrkräfte fehlten. 2021 hatte diesen großen Lehrermangel noch etwa jede sechste Schulleitung (16 Prozent) beklagt.
Für den VBE liegt die Erklärung auf der Hand: „Es gibt Schulen in bestimmten Vierteln oder Regionen, die beliebter sind als andere und vielleicht auch weniger Schwierigkeiten haben, offene Stellen zu besetzen“, erklärte Neckov. Und es gebe Schulen, die starke Probleme hätten, Lehrkräfte zu finden. „Dort, wo es die größten Herausforderungen gibt, fehlen die meisten Lehrkräfte.“
Vorteile und Nachteile bei Seiteneinsteigern
Die Einstellung von Seiteneinsteigern sieht der Bildungsverband teils mit Skepsis. Teilweise würden Menschen unterschiedlichster beruflicher Hintergründe ohne angemessene Vorqualifizierung in Schulen eingesetzt. Mit der richtigen Qualifizierung könnten Seiteneinsteiger aber bereichernd sein. Der Lehrkräftemangel wirke wie ein Katalysator für den Seiteneinstieg.
„Der einzige Lichtblick ist, dass durch Seiteneinsteigende der akute Mangel etwas eingedämmt werden kann und der Zukunftsblick in diesem Jahr etwas besser ausfällt“, so Neckov. So erwarte rund ein Viertel der Schulleitungen, künftig weniger stark vom Lehrkräftemangel betroffen zu sein. Drei von vier Schulleitungen (75 Prozent) schätzen allerdings, dass ihre Schule in Zukunft vom Lehrkräftemangel stark oder sehr stark betroffen sein wird. Dabei handelt es sich häufig um Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Förder- und Sonderschulen.
Probleme mit Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung
Kritisch sieht der Bildungsverband den künftigen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen (OGS). So sage ein Drittel der Grundschulleitungen, dass ihre jeweilige Kommune die Umsetzung bis zum Schuljahr 2026/27 nicht sicherstellen könne. Ab 2026/2027 tritt bundesweit der Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz zunächst in den ersten Klassenstufen in Grundschulen in Kraft.
Trotz aller Belastungen üben der Umfrage zufolge insgesamt 83 Prozent der befragten Schulleitungen ihren Beruf sehr gern oder eher gern aus - etwas mehr als im Vorjahr. Nur 16 Prozent gehen ungern zur Arbeit.
Immer mehr Schulleiter empfinden indes die Anspruchshaltung, dass Schule alle gesellschaftlichen Probleme lösen solle, als sehr stark belastend. Der Anteil stieg von 55 Prozent auf 62 Prozent. Das Fazit Neckovs: „Schule kann nicht lösen, was überall woanders schiefläuft.“