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Schwangerschaften

Lüneburger Wissenschaftlerin fordert Solidarität nach Fehlgeburten

Julia Böcker, Kulturwissenschaftlerin am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität in Lüneburg. Tot-, Fehl- oder Stillgeburten sind immer noch ein Tabuthema, Frauen müssen die Trauer oft allein bewältigen und leiden nicht selten unter Schuldgefühlen. Foto: Philipp Schulze/dpa

Julia Böcker, Kulturwissenschaftlerin am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität in Lüneburg. Tot-, Fehl- oder Stillgeburten sind immer noch ein Tabuthema, Frauen müssen die Trauer oft allein bewältigen und leiden nicht selten unter Schuldgefühlen. Foto: Philipp Schulze/dpa

Wenn ein Kind stirbt, ist die Anteilnahme für die Eltern groß. Doch was passiert bei Fehlgeburten? Oft wird immer noch geschwiegen, Frauen haben Schuldgefühle und trauern allein. Wissenschaftlerin Julia Böcker wünscht sich mehr Offenheit und Solidarität.

Samstag, 03.09.2022, 10:00 Uhr

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Von Britta Körber

Fehl- und Stillgeburten sind für viele immer noch ein Tabuthema, Frauen müssen die Trauer oft allein bewältigen und machen sich selbst verantwortlich. "Die Schuldgefühle haben zugenommen", sagt Julia Böcker, Kulturwissenschaftlerin am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität in Lüneburg. In ihrer von der Körber-Stiftung ausgezeichneten Doktorarbeit untersucht sie, inwiefern Fehl- und Totgeburten sozial als gewichtige Verluste anerkannt werden. Dazu hat sie unter anderem Interviews mit Betroffenen geführt.

Mehr Solidarität für Betroffene

Das Forschungsfeld ist noch jung. "Frauen fragen sich unter anderem: Habe ich nicht gesund genug gelebt? Habe ich die eine Schmerztablette zu viel genommen?" Sie wünscht sich mehr Solidarität mit den Trauernden, um Schwangerschaftsverluste als häufigen und einschneidenden Teil des Kinderkriegens zu normalisieren.

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Was Böcker erstaunt hat bei ihren Recherchen und Interviews, ist die unterschiedliche Sicht auf das tragische Ereignis. "Bei manchen beginnt das neue Leben mit dem ersten Ultraschall, bei manchen erst nach der 24. Woche, wenn der Fötus überlebensfähig wäre", erklärt die 36-Jährige. Weil das Thema stark mit Scheitern verbunden werde, hätten viele ein Gefühl des Alleingelassen-Werdens.

Unterschiedliches Vorgehen bei Trauerbewältigung

Wie Betroffene damit umgehen, ist sehr individuell: Manche identifizieren sich auf ihrem Twitterprofil als sogenannte Sternenmama, pflegen das Andenken und haben auch ein Grab für das ungeborene Kind, andere haken eine Fehlgeburt als von der Natur geschehen irgendwann ab. Sternenkinder werden Babys genannt, die während der Schwangerschaft oder im ersten Lebensjahr sterben. Der Begriff Stillgeburten umfasst späte Fehlgeburten und Totgeburten. Überrascht hat die Wissenschaftlerin auch die "erstaunlich starke Trauer, die bei unerfülltem Kinderwunsch herrschen kann".

Zehn bis zwanzig Prozent aller Schwangerschaften enden, bevor das Kind lebensfähig ist, schätzen Mediziner. Am größten ist das Risiko bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. Viele Eltern behalten deshalb erst einmal für sich, dass sie ein Kind erwarten.

Fehlgeburten früher im Abfall entsorgt

Dass Eltern inzwischen besser trauern können, regelt ein erst 2013 eingeführtes Gesetz, nach dem Fehlgeburten auch standesamtlich eingetragen werden können. Betroffene dürfen die Sternenkinder inzwischen begraben, sogar im eigenen Garten. In Geburtskliniken werden sie gesammelt und meistens in einem Sammelgrab beerdigt. Früher wurden selbst die Totgeburten einfach mit dem Abfall entsorgt. In anderen Ländern sei man schon weiter, weiß Böcker. Sie erzählt von Fußball-Mannschaften für trauernde Männer von stillgeborenen Kindern in England: "Auf dem Trikot steht der Name des Kindes".

Sensibilisierung in Deutschland fehlt

In Deutschland müssten sich Frauen teils rechtfertigen, wenn sie in Internetforen gar kein "richtig Geborenes" betrauerten. Als Stütze für verblassende Erinnerungen fotografieren bundesweit Hunderte Fotografen unentgeltlich für die Webseite "Dein-Sternenkind.eu" Stillgeborene und Kinder, die den plötzlichen Kindstod gestorben sind. Pionierarbeit leisten seit Jahren viele Hebammen, obwohl sie in ihrer Ausbildung nicht auf das schwierige Thema vorbereitet wurden.

Zu ihnen gehört Clarissa Schwarz, Hebamme, Bestatterin und Trauerbegleiterin in Berlin. "Ich ermutige die Eltern, ihre toten Babys zu besuchen, sie im Sarg zu bestatten", erzählt die 70-Jährige. Sie erlebe vielfach, dass Frauen bei Fehlgeburten nicht Bescheid wüssten, dass das zur Natur dazugehöre. "Das ist ganz normal. Ich habe auch zwei Kinder und zwei Fehlgeburten", erzählt Schwarz. Die Erwartungen an die moderne Medizin seien zu hoch.

Seit vielen Jahren gibt es auf dem Berliner Alten St.-Matthäus-Kirchhof den Garten der Sternenkinder als Gedenkort für verwaiste Eltern. Viele Hunderte Kinder sind auf dem Friedhof begraben - das Umfeld ist besonders bunt und kindgerecht gestaltet. Solche Orte des Gedenkens gibt es inzwischen in zahlreichen Städten, so auch in Braunschweig.

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