Olaf Nieß: „Solange Schwäne auf der Alster leben, ist Hamburg frei“

Olaf Nieß ist seit 27 Jahren Hamburgs Schwanenvater. Hauptsächlich ist er aber für Tierrettung zuständig. Foto: Lorenz
Hamburgs Schwanenvater berichtet über Folgen der Vogelgrippe, Stand-up-Paddler als Störenfriede und ob er den Alsterschwänen Namen gibt.
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Herr Nieß, die Vogelgrippe hat Hamburgs Alsterschwäne schwer getroffen. Wie ist die Lage?
Die Vogelgrippe war ein verheerender Einschlag. Wir mussten 27 Tiere einschläfern. Dazu gab es eine Reihe von Schwänen, die wir durch Botulismus verloren haben, ausgelöst durch ein Bakterium. Das führt zu Lähmungserscheinungen, an denen die Tiere sterben.
Wie hoch ist der Schwanenbestand aktuell?
Wir gehen von 70 bis 80 Tieren auf der Alster und an den Nebengewässern aus, ansonsten sind es immer etwa 120. Wir hoffen, dass sich die Verluste durch Zuzüge auf natürliche Weise ausgleichen. Die aktuelle Brut sieht relativ gut aus, aber abgerechnet wird am Ende des Jahres.
Ihr Amt als Schwanenvater ist in Deutschland - vielleicht sogar weltweit - einzigartig. Wie erklären Sie Nicht-Hamburgern in einem Satz, was Sie tun?
Wir sind für Tierrettung und für die Umwelt in Hamburg zuständig. Pro Jahr absolvieren wir im Schnitt gut 1300 Einsätze, und dabei geht es meistens nicht um Schwäne, sondern um Wildtiere allgemein.
Welche Art Einsätze sind das?
Wir kümmern uns um alles, was Wild im Sinne des Gesetzes ist. Das ist der Dachs in der Tiefgarage, der Schwan auf der Autobahn, der Seehund im Hafen, die Entenfamilie im Hauptbahnhof oder auch schon mal Wildschweine am Jungfernstieg. Schwerpunkt ist aber Wasserwild. Im Moment zum Beispiel die massiv überhandnehmenden Graugänse, was zu mehr verletzten Tieren führt.
Wie sind Sie Schwanenvater geworden?
Mein Vater war 46 Jahre lang mein Amtsvorgänger. Ich habe aber zunächst in den kaufmännischen Bereich reingeschnuppert. Dann ergab sich die Möglichkeit, in der Dienststelle für das Schwanenwesen anzufangen. Also habe ich noch mal sechseinhalb Jahre Berufsausbildung und den Revierjagdmeister drangehängt. Inzwischen sind es 36 Jahre, 27 davon als Schwanenvater.
Haben Sie ein persönliches Verhältnis zu den Schwänen?
Jetzt muss ich Sie total enttäuschen. Wir begegnen den Tieren mit professionellem Abstand. Die bekommen keine Namen von uns, wir haben keine Lieblingsschwäne. Es sind keine Kuscheltiere. Distanz und sachlicher Umgang sind wichtig. Denn, wenn wir Jungtiere aufziehen oder Unfalltiere pflegen, dann so, dass wir sie nachher als Wildtiere auswildern können und nicht als zahme Haustiere.
Trotzdem: Erkennen Sie Schwäne wieder, wenn Sie im Revier unterwegs sind?
Bei einzelnen Tieren ist das so, zum Beispiel solche, die ich mehrere Wochen bei mir im Wintergarten wegen Botulismus versorgt habe. Schwäne lassen sich gut wiedererkennen, denn sie unterscheiden sich im Aussehen. Die Gesichter sind so individuell wie bei Menschen.
Sind Sie schon mal von einem Schwan gebissen worden?
Ja, klar. Aber beißen ist nicht weltbewegend, eher wie ein Kneifen. Schlimmer ist das Schlagen mit den Flügeln.
Was passiert dann?
Da kann es schon mal Platzwunden am Kopf oder ein gebrochenes Nasenbein geben. Schwäne haben eine besondere Art der Verteidigung: Sie lassen dich erst rankommen und verteidigen sich dann mit kräftigen Flügelschlägen. Das ist so, als wenn man sich mit einem Boxer prügelt. Aber: Solche Verletzungen gehören zum Job dazu. Grundsätzlich haben Schwäne eine sehr hohe Reizschwelle, auch mit Küken. Es dauert lange, bis ein Schwan angreift. Wenn aber einer sagt: „Nun ist gut“, dann ist auch gut - dann hat man ein Problem.
Wir alle haben ein Bild von Schwänen als majestätische, starke und treue Tiere. Sind die wirklich so?
Ja, schon. Auch das mit der Treue stimmt. Familie steht bei Schwänen ganz oben: feste Partnerschaft bis zum Lebensende, teilweise sogar darüber hinaus. Wenn ein Schwan stirbt, kommt es vor, dass sich der andere keinen neuen Partner sucht. Familien mit Küken halten eng zusammen. Die verteidigen sich, manchmal bis zum bitteren Ende.
Wie kommt es, dass sich Hamburg ein eigenes Schwanenwesen leistet?
Das geht bis ins 11. Jahrhundert zurück. Im Mittelalter war es den normalen Menschen verboten, Schwäne zu halten, das waren Hoheitszeichen. Hamburg wurde dann Freie und Hansestadt, die Bewohner waren freie Bürger. Der Schwan sollte zeigen, dass Hamburg keinem König unterstand, deshalb schützte und versorgte die Stadt die Tiere. Seither gilt die Legende: Solange Schwäne auf der Alster leben, ist Hamburg frei und wirtschaftlich erfolgreich. Die Planstelle, die ich heute innehabe, stammt aus dem Jahr 1674.
Wissen die Hamburger ihre Schwäne zu schätzen?
Auf jeden Fall. Was im 11. Jahrhundert gestartet ist, ist heute noch sehr in den Herzen der Hamburger verankert. Viele sind sehr, sehr eng mit den Schwänen und der Alster verbunden und auch mit unserer Dienststelle. Das geht durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, die Tiere und das Schwanenwesen verbinden Menschen miteinander. Bei einem Einsatz steht der Punk neben der Millionärin und der Mutter mit Kleinkind. Und alle machen sich gemeinsam Sorgen, was mit dem Tier passiert.
Darf man Alsterschwäne füttern?
Jedenfalls müssen sie nicht gefüttert werden, um zu überleben. Es gibt genügend natürliche Nahrung. Aber: Wenn sich Oma und Enkel mit ein, zwei Scheiben Toastbrot den Schwänen nähern, um Kontakt aufzubauen, dann ist das in Ordnung. Die Tiere können schließlich ein Bindeglied zur Natur sein. Aber Vorsicht: Wenn der Schwan schlechte Laune bekommt, sich aufrichtet und mit den Flügeln schlägt, dann ist man zu dicht dran.
Was darf man füttern?
Alles, was an Getreideprodukten auch für die menschliche Ernährung geeignet ist. Wir haben hier aber auch die dollsten Sachen: angeschimmelte Mettwurstbrote oder 45 Fladenbrote, die jemand von der Brücke kippt - so etwas ist natürlich Quatsch. Schwäne sind übrigens ziemlich schlau. Mittags schwimmen sie von der Außenalster zum Jungfernstieg und in die Kleine Alster, weil sie genau wissen, dass die Menschen dann Pause haben und sie füttern wollen.
Wo beginnt die Störung der Tiere?
Die Nutzung der Alster als Freizeitrevier ist ein Problem. Zum Beispiel, wenn Menschen mit ihren Stand-up-Boards in Schilfpflanzungen fahren, die wir über Jahrzehnte mühsam angelegt haben, nur um ein schönes Selfie zu machen. Dabei knicken die Pflanzen ab, in die Halme läuft Wasser, der Bereich ist dann ein, zwei Jahre auch für die Tiere kaputt. Die allerwenigsten machen so etwas mit Vorsatz, meistens ist es Unbedarftheit. Deshalb klären wir intensiv auf und sprechen mit den Menschen, machen ihnen klar, was die Folgen ihres Verhaltens sind.
Gibt es mutwillige Zerstörungen?
Ja, aber das sind Einzelfälle. Am häufigsten sind Konflikte mit Hunden, die ihren Jagdtrieb an Schwänen und Enten ausleben. Es gab aber auch schon geklaute Eier und zerstörte Zäune, einen Angriff mit Pfeil und Bogen oder gezielte Steinwürfe. Einmal wurden Tiere mit Q-Tips bombardiert, in denen Nähmaschinennadeln steckten. Das Portfolio ist groß. Aber glücklicherweise sind das absolute Ausnahmen.
Stimmt es, dass Sie den Alsterschwänen die Flügel stutzen, damit sie nicht wegfliegen?
(blickt ein wenig verständnislos) Ach, es gibt unheimlich viele solcher Informationen, bei denen wir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. So stimmt es nicht. Wir haben einen Mischbestand von Schwänen, in dem nicht alle flugfähig sind.
Wie kommt das?
Es gibt Tiere, die sind amputiert, zum Beispiel, weil sie gegen Stromleitungen geflogen sind oder andere Unfälle hatten. Ihnen fehlen dann Teile des Flügels. Normalerweise lassen sie sich nicht mehr auswildern, sie sind dem Tode geweiht. Dank unseres Schwanenwesens können wir solche Tiere dennoch aufnehmen, oft auch aus anderen Bundesländern, da wir sie ständig unter Kontrolle haben. Und es gibt Schwäne, denen wir einen Teil des Flügels ausschneiden, schlicht und einfach, weil wir sie schon fünfmal aus dem Straßenverkehr geholt haben. Das geschieht für die öffentliche Sicherheit.
Was macht es mit Ihnen, wenn eine Rettung nicht gelingt und der Schwan verendet?
Wie gesagt, halten wir professionellen Abstand, der Tod von Tieren begleitet uns. Aber es gibt tatsächlich Fälle, die uns nahegehen. Wenn wir etwa Botulismus-Tiere über Wochen begleiten und den Kampf doch verlieren, dann macht das etwas mit uns. Auch die Vogelgrippe hat das ganze Team massiv betroffen gemacht und uns allen schlaflose Nächte bereitet. Da ist auch die ein oder andere Träne geflossen.
Bitte ergänzen Sie...
Mein Lieblingsort in Hamburg ist… (überlegt länger) ich nehm’ doch die Alster (lacht).
Ich könnte gut verzichten auf… viel Stress.
Labskaus oder Franzbrötchen… Franzbrötchen.
HSV oder St. Pauli… sag‘ ich nicht.
Dass Schwäne vor ihrem Tod singen, ist… teilweise wahr, manche geben dann bestimmte Töne von sich.
„Mein lieber Schwan“, sage ich… fast nie.
Zur Person
Olaf Nieß (56) ist in Hamburg geboren und buchstäblich mit den Alsterschwänen aufgewachsen. Sein Vater Harald war von 1950 an Hamburgs Schwanenvater, für Sohn Olaf war das Gelände des Schwanenhauses am Eppendorfer Mühlenteich eine Art Kinderstube. Dennoch lernte der Junior zunächst Kaufmann, sattelte um und machte die Ausbildung zum Revierjagdmeister. 1986 kam er in die Dienststelle Hamburger Schwanenwesen. 1996 übernahm er die Nachfolge seines Vaters als Leiter der ältesten Hamburger Behördenstelle, die auf das Jahr 1647 zurückgeht. Geschätzt mehrere zehntausend Wildtiere hat Nieß jr. mit seinen Kollegen in den 37 Jahren seiner Tätigkeit gerettet. Er hat zwei erwachsene Kinder, die Familie lebt in Hamburg.