Prozess um verhungertes Baby geht zu Ende

Die Statue der Justitia mit einer Waage und einem Schwert steht auf dem Gerechtigkeitsbrunnen auf dem Römerberg. Im Prozess um ein totes Baby in Sottrum soll am Montag das Urteil verkündet werden. Foto: dpa
Drei Jahre alt wäre der Junge aus Sottrum (Kreis Rotenburg) heute, doch an seinem 24. Lebenstag im Mai 2019 wurden die lebenserhaltenden Geräte im Krankenhaus abgeschaltet. Vor dem Landgericht Verden läuft der Prozess gegen die Mutter. Deshalb ist die Urteilsfindung schwierig.
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(Letztes Update: Donnerstag, 5. Januar, 16.02 Uhr)
Von Wiebke Bruns
„Das Kind ist gestorben infolge eines Hirntodes und es hatte sich noch ein Atemwegsinfekt entwickelt“, erläuterte ein Rechtsmediziner am Landgericht Verden in dem Prozess gegen die Mutter des Kindes. Ursache der „schwersten Hirnschädigung“ sei eine „völlig unzureichende Ernährung, insbesondere eine völlig unzureichende Flüssigkeitszufuhr“ gewesen.
Beurteilung des Falles sehr schwer
„Die Beurteilung dieses Falles ist für uns sehr schwer. An einen vergleichbaren Fall kann ich mich nicht entsinnen“, merkte der langjährige Vorsitzende Richter Volker Stronczyk an. Der 35 Jahre alten Angeklagten wird vorgeworfen, ihren Sohn viel zu geringe Trinkmengen gegeben zu haben und deshalb durch Unterlassen für dessen Tod verantwortlich zu sein.
Nicht infrage stellte der Vorsitzende, dass der Junge in einem „dehydrierten, lebensgefährlichen Zustand“ in die Klinik eingewiesen worden ist, betonte der Vorsitzende. „Eine extreme Dehydrierung“, merkte der Rechtsmediziner an. Das war der Zustand am 13. Lebenstag des Neugeborenen. Hinzugekommen sei in der Klinik „eine Lungenentzündung nach mehrtägiger Beatmung“.
Bei der Geburt wurden 4.460 Gramm als Gewicht notiert. „Nur drei Prozent aller Kinder sind schwerer“, erläuterte ein Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Von diesem Gewicht ausgehend, hätte der Junge bei seiner Einweisung nach 14 Tagen 4.600 Gramm wiegen sollen, rechnete der Mediziner vor. „Das entspricht 30 Prozent Gewichtsabnahme“, so der Sachverständige. 1,4 Liter Flüssigkeit hätten in dem kleinen Körper gefehlt. Dies decke sich mit den festgestellten Werten und dem „leeren Herz“ des Neugeborenen.
Flüssigkeitsmangel als mögliche Ursache
Eine kurze Durchfallerkrankung als Ursache hält der Facharzt für „unwahrscheinlich“. Höchstwahrscheinlich ist der Flüssigkeitsmangel über einen längeren Zeitpunkt entstanden, wobei ich das nicht beweisen kann“, führte er aus.
„Ich komme zu dem Schluss, dass so ein starker Gewichtsverlust nicht innerhalb weniger Tage erklärbar ist, sondern wahrscheinlicher ist eine chronische Mangelernährung“, so seine Bewertung. Dann sei eine „Virusinfektion“ dazu gekommen und habe das „fragile Gleichgewicht zum Kippen gebracht“. Von „multiresistenten Keimen als Zufallsbefund“ sprach der Facharzt.
So klar sieht die Schwurgerichtskammer es offenbar nicht. Welches Gewicht der Junge bei einer Untersuchung drei Tage vor seiner Einweisung hatte, wisse man nicht, stellte der Vorsitzende fest. Aber aus den Feststellungen in der Patientenakte der Kinderärztin würden sich „keine Anhaltspunkte für eine Mangelernährung ergeben“.
Keine Tötungsabsicht erkennbar
„Wir halten es für wenig wahrscheinlich, dass die Angeklagte das Kind hat töten wollen“, sprach der Vorsitzende für die Kammer. „Und wenn, dann hätten zwei Leute auf der Anklagebank sitzen müssen“, womit er den Ehemann meinte.
Nach vorläufiger Bewertung sehe die Kammer keinen Körperverletzungsvorsatz und gehe derzeit davon aus, dass die vierfache Mutter „die Lebensgefahr nicht erkannt hat“. Die Staatsanwältin bat jedoch um den rechtlichen Hinweis, dass auch eine Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen in Betracht kommen könnte.
Am 9. Januar sollen die Plädoyers gehalten und voraussichtlich das Urteil verkündet werden.

Vor dem Landgericht Verden läuft derzeit ein Prozess um eine rätselhafte Kindstötung durch Unterlassen. Angeklagt sind die Eltern des Babys. Foto: ZZ
Verhungertes Baby in Sottrum: Deshalb ist der Fall so rätselhaft
Mit dem rätselhaften Fall beschäftigt sich das Landgericht Verden seit mehreren Wochen. Es geht laut Anklage um das Schicksal eines verhungerten Babys aus der Samtgemeinde Sottrum. Die Eltern des Säuglings wollen keinen Gewichtsverlust bemerkt haben.
Hieß es bislang, dass die Kinderärztin bei einer ersten Untersuchung am 7. Mai 2019 den damals zehn Tage alten Jungen nicht nackt gesehen habe, passt dies nicht zu den Inhalten der Patientenakte. Möglicherweise bedeutsam für den Prozess, denn drei Tage später war der Junge mit rund einem Viertel weniger als seinem notierten Geburtsgewicht in einem lebensbedrohlichen Zustand in die Klinik eingewiesen worden.
Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen?
Die 35 Jahre alte Kindesmutter wird der Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen beschuldigt. Sie habe ihren Sohn bei jeder Mahlzeit mit nur 20 Milliliter gefüttert. Dies bestreitet die Angeklagte und darin pflichtete ihr Ehemann ihr vor Gericht bei. Obwohl der 42-Jährige die Aussage hätte verweigern können, beantwortete er alle Fragen. Keine Aussage macht hingegen die Kinderärztin. Gegen sie war nach dem Tod des Babys auch ermittelt worden. Das Verfahren wurde eingestellt.
Kindsvater: „Wir haben ihn gefüttert“
„Wenn behauptet wird, er sei gestorben, weil wir ihm kein Essen gegeben hätten, dann entspricht das nicht der Wahrheit. Wir haben ihn gefüttert“, so die Aussage des Ehemannes. Bis auf den „Ausschlag“ am Mund, Mundsoor war laut Anklage am 7.5. 2019 von der Kinderärztin diagnostiziert worden, sei der Gesundheitszustand seines jüngsten Sohnes in Ordnung gewesen. Von einem extremen Gewichtsverlust will der Vater nichts bemerkt haben. Obwohl auch er seinen Sohn gefüttert und gebadet habe.
Wurde die Trinkflasche des Jungen genügend nachgefüllt?
Als ausgerechnet die Verteidigerin auf die Skala der damals verwendeten Nuckelflasche hinwies, offenbarte sich, dass diese nur bis 125 Milliliter reicht. Der Vater hatte jedoch 160 Milliliter als Trinkmengen angegeben. Wenn sein Sohn noch Hunger gehabt habe, sei nachgefüllt worden, erklärte der Zeuge. Das ist eine ganz neue Aussage, stellte der anwesende Rechtsmediziner fest.
Laut Anklage wog der Junge bei der Geburt knapp 4.500 Gramm. In der Patientenakte der Kinderärztin sollen nur 4.040 Gramm als Geburtsgewicht vermerkt worden sein. So zumindest wurde es vor Gericht verlesen.
Unstrittig ist, dass die Angeklagte nach der Geburt am 27. April 2019 am 7. und 10. Mai 2019 bei der Kinderärztin war. Beim zweiten Besuch in der Praxis wollte eine Mitarbeiterin das Kind wiegen. Beim Anblick des Jungen habe sie sofort ihre Chefin alarmiert. „Das Kind wirkte schlaff, ließ Arme und Beine hängen, wimmerte vor sich hin.“ Rund ein Kilo Gewichtsverlust habe sie festgestellt. „Mir war klar, dass es sich um einen Notfall handelt“, so die Mitarbeiterin.
Für den 7. Mai wurden Feststellungen zu Nabel, Herz und Lunge des Neugeborenen gemacht, was für eine ärztliche Untersuchung spricht. Aber kein Vermerk zum Gewicht. Hierzu konnten drei Praxismitarbeiterinnen nichts sagen.
Eine Pastorin, die später die Nottaufe in der Klinik vorgenommen hatte und die Familie kennt, wusste nur Positives zu berichten. „Ich habe häufig Kontakt zu der Familie und kann gar nichts Negatives sagen“, so die Zeugin. Fürsorglich und hilfsbereit sei die Familie. Ein starker Zusammenhalt zeichne sie aus. „Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass das nicht sein kann“, sagte sie bezogen auf den Tatvorwurf. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, was Lebensmittelpunkt der Angeklagten sei, antwortete die Pastorin: „Die Kinder. Auf jeden Fall.“