So jagen Taucher Geisternetze am Grund der Nordsee

Im Rahmen des Projektes «Geisternetze Ostfriesland» suchen die professionellen Taucher von Ghost Diving Germany nach Fischernetzen, die in der Nordsee verloren gegangen sind und nun eine Gefahr für die Tier- und Umwelt darstellen. Foto: Sina Schuldt/dpa
Geisternetze treiben durchs Meer, haften an Wracks und können für Fische und Krebse zu Todesfallen werden: Taucher wollen daher viele dieser alten Netze bergen. Doch das ist nicht einfach.
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Spiekeroog. Auf ein Kommando stürzen zwei Taucher in knallroten Neoprenanzügen zeitgleich rückwärts, kopfüber von einem Schlauchboot in die graue Nordsee - kurz darauf ragen nur noch die Schwimmflossen aus dem Wasser. Ihr Ziel liegt in rund 23 Metern Tiefe auf dem Grund der Nordsee: Ein vor Jahren gesunkener, alter Fischtrawler. Allerdings haben es die Taucher nicht auf das alte Schiff abgesehen. Sie interessiert, was dort unten herumgeistert.
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„Ein Wrack ist ein potenzieller Haltepunkt für ein Geisternetz“, erklärt Taucherin Natalie Gielen. Sie ist Mitglied im Verein Ghost Diving Germany, zu dem auch ihre Kollegen gehören, die gerade in die Nordsee abgetaucht sind. Solche verloren gegangen, herrenlose Fischernetze trieben durch die Nordsee - oft bis sie sich in einem Wrack verhedderten, sagt Gielen. Mit der Strömung wickelten sich die Netze dann nach und nach um ein Wrack, sodass armdicke Stränge aus Netzen entstünden, die sich kaum lösen ließen.
Netze sind Gefahr für Fische, Robben und andere Lebewesen
Für viele Meereslebewesen wie Fische, Robben und Krebse können solche Netze zu einer tödlichen Falle werden, wenn sie sich darin verfangen. Gefährlich sind die Kunststoffnetze im Meer nach Einschätzung von Experten auch deshalb, weil sie mit der Zeit durch Reibung und Strömung zu Mikroplastik zerbröseln, was in die Nahrungsketten gelangen kann.
Die geübten Taucherinnen und Taucher von Ghost Diving Germany wollen daher solche Geisternetze bergen und zum Recycling an Land bringen. An diesem Spätsommertag tauchen insgesamt acht Taucherinnen und Taucher in die Nordsee hinab. Gielen beobachtet von einem Kutter aus, der die Gruppe an diesem Tag begleitet und die geborgenen Netze aufnimmt, wie ein Taucher-Paar nach dem anderen in die Nordsee hinabsteigt. Eine rote Boje, die auf den Wellen schaukelt, markiert, wo die Taucher zum Wrack tauchen sollen.
Tauchgänge unter erschwerten Bedinungen
„Tauchen ist ein Gruppensport. Du brauchst gerade bei solchen Wetterbedingungen jemand, der hilft“, sagt Gielen und deutet auf weitere Helfer in den Schlauchbooten, die den Tauchern mit ihrer bis zu 50 Kilogramm schweren Tauchausrüstung assistieren. Die Wellen schubsen die Schlauchboote auf und ab, der Südostwind pfeift über die Nordsee. „Es ist schon Karacho“, sagt Gielen. „Für uns Taucher sind es nicht die besten Bedingungen.“
Nicht nur Wind und Wellen sind eine Herausforderung für die Taucher. Auch die Zeit ist knapp. Denn für die Tauchgänge in der Nordsee steht nur ein Zeitfenster von etwa 90 Minuten zur Verfügung - nämlich dann, wenn die Flut gerade geht und die Ebbe einsetzt, erklärt Vereinsvorsitzender Kai Wallasch. „Das Tidenfenster, das nutzen wir aus. Da ist am allerwenigsten Strömung und da können wir uns noch am Wrack festhalten, sonst wäre das nicht möglich.“
Was die Taucher bedrückt
Am Wrack angekommen, schneiden die Taucher dann mit speziellen Messern aus dem Fischereibedarf in mühsamer Handarbeit die Kunststoffnetze durch. Unter Wasser können die Taucher dabei kaum weiter als einen Meter sehen.

Natalie Gielen sammelt Tiere aus einem geborgenen Geisternetz und wirft sie zurück ins Meer. Foto: Sina Schuldt/dpa
Etwa eine Viertelstunde, nachdem die ersten Taucher hinabgestiegen sind, taucht ein erster, roter Sack an die Wasseroberfläche. Natalie Gielen winkt ihre Kollegen in einem Schlauchbooten heran, die die Hebeboje aus dem Wasser fischen und an Bord des Begleitkutters hieven. An der Boje befestigt ist ein braunes, zerfleddertes Fischernetz. Einige Seesterne und Muscheln hängen in dem Netz. Gielen pult sie aus den Maschen und wirft sie zurück ins Meer.

So sehen die Geisternetze aus, wenn sie aus dem Wasser kommen. IN diesem Exemplar haben sich einige Seesterne verfangen – manchmal bleiben auch größere Tiere hängen. Foto: Sina Schuldt/dpa
Größere Lebewesen sind diesmal zum Glück nicht in den Netzen. Verendete Tiere in den Netzen zu finden, sei bedrückend, erzählen die Taucher, die auf vielen Meeren weltweit Geisternetze jagen. Die Geisternetze seien ein großes Problem nicht nur in der Nordsee, sagt Vereinsvorsitzender Wallasch. „Wahrscheinlich ist das sogar viel größer als wir uns das vorstellen können.“
Tonnenweise Meeresmüll
Das Ausmaß ist nicht bekannt. Australische Forscher berechneten vor wenigen Jahren, dass etwa zwei Prozent der weltweit verwendeten Fischereiausrüstung jährlich im Meer landen, also Zehntausende Quadratkilometer Stellnetze und Ringwadennetze, dazu Hunderttausende Kilometer Langleinen. Der WWF geht davon aus, dass schätzungsweise 1.700 bis 3.000 Tonnen Fanggeräte pro Jahr allein in europäischen Meeren verloren geht.

Mit mehreren Schiffen und Booten ist die Tauch-Truppe unterwegs auf der Nordsee. Foto: Sina Schuldt/dpa
Solche verlorenen Ausrüstungsmaterialien machten einen erheblichen Teil des Plastikmülls im Ozean aus, sagte kürzlich Gabriele Dederer, Forschungstaucherin und Projektleiterin Geisternetze des WWF Deutschland. „Aber sie sind unter der Wasseroberfläche unsichtbar und ihre Ortung ist aufwendig.“ Auch die Umweltschutzorganisation geht gegen Geisternetze vor - zum Beispiel in der Ostsee. Künftig will der WFF die verlorenen Fischernetze auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz besser aufspüren.
Kooperationsprojekt ermöglicht die Suche nach Netzen
Dass die ehrenamtlichen Taucher von Ghost Diving Germany überhaupt vor den ostfriesischen Inseln nach Geisternetzen tauchen, liegt an einem Kooperationsprojekt, das die NV-Versicherungen und das Unternehmen Bessergrün ins Leben gerufen haben und sponsern. Mit dem Umweltprojekt „Geisternetze Ostfriesland“ wollen die Organisatoren auf die Probleme rund um die Geisternetze aufmerksam machen - dieses Jahr zum dritten Mal.

Derk Remmers (M) von Ghost Diving Germany koordiniert die Abläufe an Bord eines Schnellschiffes. Foto: Sina Schuldt/dpa
Nach gut einer Stunde haben die Taucher Dutzende Netze und Netzfetzen an die Wasseroberfläche befördert. Ein Netz ist so groß und so lang, dass es mit einem Kran an Bord eines Kutters gehoben werden muss. Die Taucher schätzen, dass sie an diesem Tag insgesamt 150 bis 200 Kilogramm Meeresmüll geborgen haben - ein erfolgreicher erster Tag, sagt die Gruppe. In den kommenden Tagen wollen die Taucherinnen und Taucher weitere Wracks in der Nordsee ansteuern und Geisternetze bergen.