Immer mehr Videoverfahren: Wie sich die Justiz in Stade wandelt

18.03.2021, Hamburg: Frank Bodendiek (r), Vorsitzender Richter am Landgericht, Andreas Schmidt-Diercks (l), Rechtsanwalt, sowie die Klägerin Dominique N. und Ingmar Kleinfeldt, Rechtsanwalt, (beide aus Philippsburg, Baden-Württemberg, auf d
E-Akte, Richter im Homeoffice, leerstehende Gerichtsgebäude: Beim Neujahrsempfang der Landgerichtspräsidentin Ingrid Stelling wagt ihr Vize einen fiktiven Blick auf die Gerichtsbarkeit der nächsten 75 Jahre.
Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!
Bis auf den letzten Platz besetzt war der Saal 209 des Stader Landgerichts beim Neujahrsempfang. Der Einladung der Landgerichtspräsidentin waren Rechtsanwälte, Staatsanwaltschaft, ehemalige Richter und auch künftige gefolgt. Präsidentin Ingrid Stelling blickte zunächst auf das vergangene Jahr zurück. Überrascht habe sie die Zunahme der Videoverhandlungen im Zivilbereich.
„Verhandlungen in Präsenz wären auch ganz schön“, erklärte sie und bat insbesondere die anwesenden Rechtsanwälte um Unterstützung, im eigenen Sinne. Denn inzwischen betrieben Großkanzleien aus Frankfurt im Landgerichtsbezirk „Kundenakquise“.
Die Justiz ist im Wandel. Bis Ende 2025 soll die elektronische Akte in Strafsachen eingeführt werden. Stelling erwartet „einen steinigen Weg“. Den großen Bogen schlug ihr Vize Dr. Thomas Krüger mit einer fiktiven Rückschau aus dem Jahr 2101 auf 75 Jahre elektronischen Rechtsverkehr zum Thema. Er zeigte die Schritte auf, die die Justiz bis 2101 möglicherweise gegangen sein wird, angefangen im Jahr 2026.
Für die Referendare in der ersten Reihe mochte das wie eine Verheißung geklungen haben - aber sicher nicht in allen Punkten.
Ab 2026: Richter arbeiten fast nur noch im Homeoffice
Die Fiktion: Seit 2026 gibt es einen elektronischen Workflow, bei dem alle Ein- und Ausgänge an Rechtsanwälte elektronisch übermittelt werden, ebenso Verfügungen. Es wird kein Papier mehr verwendet. Die Konsequenz: Kein Aktentransport, also können Service-Einheiten reduziert werden. Richter können im Homeoffice arbeiten, müssen nur noch zu Verhandlungen ins Gericht kommen.

Dr.Thomas Krüger, Vizepräsident des Stader Landgerichts. Foto: Helfferich
Ab 2035: Es herrscht im Landgericht Stade keine Raumnot mehr, sondern Leerstand. Gerichtssäle werden nur noch bei Bedarf belegt. Videoverhandlungen sind Standard, und es herrscht durch die Pandemieerfahrung der 2020er Jahre eine hohe Akzeptanz.
Ab 2045: Holografische Technik macht Präsenz obsolet
Mit der Einführung der holografischen Videotechnik ab etwa 2040 erscheinen die Prozessbeteiligten als holografischer Effekt im Gerichtssaal. Ab 2045 ist die Technik überall üblich, auch für Strafverfahren. Präsenz ist nur noch bei gewichtigen Gründen erforderlich. Öffentlichkeit wird online hergestellt. Die Folge: Die Wachtmeisterei wird outgesourct.
Ab 2050 werden mit dem zunehmenden Leerstand in den Gerichtsgebäuden die Standorte diskutiert. Anfang der 2020er Jahre waren es 638 Gerichte in Deutschland. Es kommt zu ersten Fusionen. Die Kosteneinsparungen wecken Begehrlichkeiten. Ende der 2060er Jahre gibt es nur noch ein Amtsgericht pro Landgerichtsbezirk und eine einheitliche Eingangsinstanz. Ende der 2070er verschmelzen Amts- und Landgericht.
Ab 2075: Künstliche Intelligenz generiert Beweisvorschläge und Urteile
Parallel findet die Künstliche Intelligenz (KI) Einzug in die Justiz. „Jetzt wird es eng für uns“, so Krüger. Es werden Selbstlernende Operating-Systems (SOS) entwickelt, mit Zugriff auf alle juristischen Datenbanken, dort sind alle Urteile veröffentlicht. Beweisvorschläge können generiert werden, mit Prognosen für Erfolgsaussichten, was zur Verkürzung von Verfahren führt. Volljuristen sind nicht mehr erforderlich, denn ab 2075 ist mittels KI die vollständige Bearbeitung mit Urteil möglich.
Ab 2085: Geschäftsverteilung nach Effizienz
2085 wird als Problem erkannt, dass Empathie, Menschenkenntnis und juristisches Urteilsvermögen technisch nicht nachbildbar sind. Das SOS wird nachgebessert, das Problem kann technisch gelöst werden. Die KI wird bei der Geschäftsverteilung eingesetzt. Das SOS kennt alle Verfahren und alle Richter und kann die Verfahren nach Effizienz verteilen. Der im Grundgesetz festgelegte Grundsatz des „gesetzlichen Richters“, der einen fallbezogenen Austausch von Richtern verhindert, wird abgeschafft.
Fünf Jahre später setzt das SOS bundesweite Expertengerichte für sehr komplexe Fälle und massenhaft auftretende Fälle zusammen. Das SOS soll bundesweit die jeweils geeigneten Richter und Richterinnen auswählen, die besten für das jeweilige Verfahren. Bedenken werden gekontert: „In einer digitalisierten Gesellschaft dürfen sich Gerichte nicht zu analogen Fremdkörpern entwickeln“.
Die nicht ganz ernst gemeinte Rückschau lässt ahnen, welche Herausforderungen auf Justiz und Gesellschaft zukommen werden. Und sie sorgte für ordentlich Gesprächsstoff beim anschließenden Sektempfang im Landgericht.
- Rückblick auf das Jahr 2022
Landesgerichtspräsidentin Ingrid Stelling gab einen Rückblick auf das vergangene Jahr - ohne spektakuläre Verfahren. Erfreulich sei, dass neue Planstellen besetzt werden konnten. Die Verfahrenszahlen bei Zivilsachen seien gesunken, von 1992 im Jahr 2021 auf 1896 im vergangenen Jahr. Einen Ausreißer gab es 2020 mit 2244 Verfahren aufgrund der Dieselabgasverfahren.
Bei den Strafsachen sind 2012 in erster Instanz 72 Verfahren entschieden worden. 2022 waren es 105.