Kiebitz-Schutz ad absurdum: Geschlüpft im Landkreis - geschossen in Frankreich

Der Bestand der Kiebitze hat um mehr als 80 Prozent abgenommen. Foto: Dr. Uwe Andreas
Im Landkreis Stade ist der „Vogel des Jahres“ gerade erst mit vorsichtigen Bruterfolgen zurückgekehrt. Der Kreis zahlt Landwirten für den Vogelschutz sogar eine Geldprämie. Doch nicht alle Länder machen mit.
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Landkreis. Mit einem neuen Schutzprogramm will der Landkreis Stade Bauern und Grünlandbesitzer unterstützen, wenn auf ihren Feldern Kiebitze erfolgreich brüten. „Passend zur Rückkehr der Kiebitze in unser Kreisgebiet gehen wir beim Schutz des Vogels des Jahres 2024 neue Wege“, erklärt Dr. Uwe Andreas, Leiter des Amtes Naturschutz. „Ziel ist es, den Kiebitz-Bestand zu verbessern. Wir setzen dabei auf eine freiwillige Kooperation mit der Landwirtschaft ganz ohne Bewirtschaftungsvorgaben.“
Konkret: Wer seine Fläche - wie auch immer - vogelfreundlich bewirtschaftet, hat Aussicht auf eine Geldprämie. Das Amt verspricht 200 Euro für ein gefundenes Kiebitz-Nest mit mindestens vier Eiern. Lässt sich zudem ein Schlupferfolg nachweisen und bestätigen, gibt es weitere 500 Euro. „Das gilt für alle landwirtschaftlichen Flächen mit Ausnahme von Kompensationsflächen und Flächen, die mit Wiesenvogelschutzauflagen versehen sind. Außerdem gilt das neue Programm gleichermaßen auch für den Brachvogel“, sagt Andreas.

In der Regel befinden sich vier Eier in einem Kiebitz-Nest. Foto: Dr. Uwe Andreas
- Weitere Infos:Kiebitz-Nest beim Landkreis melden
Luftakrobat mit Seltenheitswert: Kiebitz ist „Vogel des Jahres“
Der ehemals in nahezu allen offenen Landschaften Deutschlands häufige Kiebitz gilt mit seinen kaum noch 50.000 Brutpaaren in Deutschland inzwischen laut Roter Liste als „stark gefährdet“. Ihr Hauptverbreitungsschwerpunkt liegt im norddeutschen Tiefland. Der Bestand der Kiebitze ist zwischen 1992 und 2016 um 88 Prozent zurückgegangen, Tendenz weiter sinkend. Auch im Landkreis Stade haben die Brutbestände stark abgenommen.
Hauptursache ist und bleibt der Verlust ihrer Lebensräume durch eine immer intensivere landwirtschaftliche Nutzung, vor allem durch die Entwässerung, aber auch die Überbauung von Nahrungsflächen und Brutgebieten.
Jagd auf Zugvögel gefährdet Schutzbemühungen
Doch nicht nur vor Ort gibt es Probleme, auch nach einer erfolgreichen Brut ist der Kiebitz gefährdet, wie Christopher Marlow von der Staatlichen Vogelschutzwarte Niedersachsen im Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) berichtet. Er beringt Wiesenvögel. Ein Kiebitz-Küken am Dümmer (Landkreis Diepholz) hatte im Frühjahr 2023 die kritischen ersten Lebenstage gemeistert, war bei der Beringung am 22. Mai 2023 in guter körperlicher Verfassung und etwa 26 Tage alt.

Die Vogelschutzwarte Niedersachsen beringt Kiebitz-Küken. Foto: Dr. Uwe Andreas
Der Vogel wurde im Ochsenmoor flügge und zog im Sommer, wahrscheinlich mit einigen Artgenossen, in Richtung Winterquartier. Doch schon am 23. September wurde der Kiebitz mit der Ringnummer 64 20 421 in Nordfrankreich legal geschossen. Denn in Frankreich ist die Jagd auf Kiebitze und viele andere Arten, die in weiten Teilen Europas geschützt werden, nach wie vor erlaubt. „Das verdeutlicht, wie wichtig ein umfassender Schutz von Vogelarten über deren Brutgebiete hinaus tatsächlich ist“, erklärt Dr. Markus Nipkow, Leiter der Vogelschutzwarte.
Kiebitze dürfen in Frankreich legal geschossen werden
Die Koordinaten des gefundenen Kiebitzes bezeichnen ein kleines Dorf etwa 150 Kilometer nördlich von Paris. Die Umgebung ist von Landwirtschaft geprägt, aber das Flüsschen vor Ort ist umgeben von Auenstrukturen mit vielen offenen Wasserflächen - offenbar ein gutes Rastgebiet für durchziehende Kiebitze. Für den Kiebitz endete hier seine Reise und sein Leben.
Dass das kein Einzelfall ist, berichtet Olaf Geiter, Leiter der Beringungszentrale in der Vogelwarte Helgoland. Bei ihm seien in den letzten zehn Jahren einige Meldungen aus Frankreich eingegangen. Die Dunkelziffer nicht gemeldeter, geschossener Kiebitze, die individuell beringt sind, dürfte aber deutlich höher liegen. In fünf EU-Ländern dürfen Kiebitze noch legal bejagt werden. Der Naturschutzverband „Komitee gegen den Vogelmord e.V.“ recherchiert seit Jahren Abschusszahlen an Zugvögeln. Artgenaue Zahlen liegen aus Frankreich, Malta und Spanien vor. Demnach wurden in der Jagdsaison 2013/2014 in den drei genannten Staaten 107.802 Kiebitze geschossen. Allein in Frankreich wurden 96.361 Vögel getötet. Aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar.
„Die hohe Anzahl der Abschüsse macht einem Sorgen“
Niedersachsen ist das wichtigste Wiesenvogelland Deutschlands. Die hiesigen Brutbestände machen einen hohen Anteil der gesamtdeutschen Population aus. „Daraus resultiert eine besondere Verantwortung für deren Schutz, nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa und in den Überwinterungsgebieten“, sagt Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer. „Während wir zeigen, dass durch gezielte Maßnahmen bedrohte Wiesenvogelarten geschützt werden können, werden die Tiere etwa in Frankreich weiterhin großflächig bejagt. Die Jagd auf Zugvögel gefährdet damit die aufwendigen und kostenintensiven Schutzbemühungen des NLWKN. Die Jagd gehört abgeschafft.“
Hilger Lemke, Mitarbeiter im LIFE Projekt GrassBirdHabitats und Gebietsbetreuer an der Naturschutzstation Unterelbe im gleichnamigen Vogelschutzgebiet, weiß um die Bedeutung solcher Verluste: „Die hohe Anzahl der Abschüsse macht einem Sorgen und erschwert die Erholung der Brutpaarzahlen. Das Wichtigste bleibt aber die Sicherstellung einer nachhaltigen Fortpflanzung der Population und damit die Wiederherstellung der Bruthabitate innerhalb und außerhalb der Schutzgebiete.“ Die französische Jagdstrecke ist in den letzten 20 Jahren der französischen Verwaltung zwar um mehr als 75 Prozent zurückgegangen, doch fragen sich Naturschützer in Deutschland, wann die Jagd auf Zugvögel in Frankreich endgültig und vollständig verboten wird.
Nicht genug Vogelschutz: Brüssel eröffnet Verfahren gegen Deutschland
Zur Wahrheit gehört aber auch: Wegen nicht ausreichender Bemühungen beim Vogelschutz hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet. Die Bundesrepublik habe die Maßnahmen zur Erhaltung wild lebender Vogelarten gemäß der EU-Vogelschutzrichtlinie nicht hinreichend umgesetzt, teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. Dies habe zu einem deutlichen Rückgang der Populationen geschützter Vogelarten geführt. Die Richtlinie sei entscheidend, um die biologische Vielfalt zu erhalten und diene dem Schutz der 500 wild lebenden Vogelarten in der EU.
Deutschland habe demnach für fünf Vogelarten keine Ausweisung der geeignetsten Gebiete als besondere Schutzgebiete vorgenommen und damit kein ausreichend zusammenhängendes Netz solcher Gebiete geschaffen, heißt es in der Begründung. Für 220 von 742 Schutzgebieten seien darüber hinaus noch keine Maßnahmen festgelegt worden, die der Schadensbeseitigung oder -vorbeugung dienen. Konkret habe die Bundesrepublik zudem das Schutzgebiet Unterer Niederrhein in Nordrhein-Westfalen nicht genug geschützt. Die Zahl der geschützten Vogelarten sei hier erheblich zurückgegangen.
Die Kommission sendet nun einen Brief mit den Vorwürfen nach Berlin. Deutschland hat zwei Monate Zeit, darauf zu reagieren. Andernfalls kann die Kommission eine sogenannte begründete Stellungnahme abgeben und damit den nächsten Verfahrensschritt einleiten. Am Ende eines sogenannten Vertragsverletzungsverfahrens kann eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und eine Geldbuße stehen.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) begrüßte die Entscheidung der Kommission. Insbesondere in Niedersachsen und Schleswig-Holstein seien Vogelschutzgebiete entweder gar nicht oder nur in Teilen als Schutzgebiete gesichert. Ähnliche Defizite bestünden in anderen Bundesländern. (st/dpa)